Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
18. Oktober 1998

Die Pflicht der Wahrhaftigkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir waren dabei, die Pflichten zu bedenken, die der Einzelne gegenüber dem Nächsten hat. Heute wollen wir uns mit der Pflicht der Wahrhaftigkeit beschäftigen. Die Wahrhaftigkeit ist im weitesten Sinne Liebe zur Wahrheit. Im engeren Sinne ist es jene Tugend, kraft der wir das, was in unserem Inneren lebt, in geeigneter Weise durch Wort und Tat nach außen bekunden. Wahrhaftigkeit ist die Übereinstimmung des Inneren mit dem Äußeren. Die Wahrhaftigkeit ist eine Tugend, weil sie das sittliche Handeln ordnet. Sie ist eine besondere Tugend, weil sie die Ordnung des Inneren und des Äußeren zur harmonischen Zusammenfügung zum Gegenstand hat. Sie ist eine sittliche Tugend, weil sie die Ordnung der Zunge durch den Willen in sich schließt.

Die Wahrhaftigkeit ist eine strenge Pflicht; sie ergibt sich aus mehreren Gründen. Einmal ist der Mensch ein einheitliches Wesen. Er zerfällt nicht in zwei Wesen, eines, das er im Inneren trägt, und eines, das er nach außen zeigt. Er ist ein einheitliches Wesen. Gott hat sodann dem Menschen die Sprache gegeben, damit er sich verständige, nicht damit er den anderen täusche. Die Sprache ist das Medium des Verstehens, und es ist ein Mißbrauch der Sprache, wenn man sie zum Mißverstehen absichtlich und ohne Grund verwendet. Die Gesellschaft ist weiter auf die Wahrhaftigkeit angewiesen. Handel und Wandel, Leben und Geschehen können nur einen heilvollen Lauf nehmen, wenn die Menschen sich aufeinander verlassen können, wenn sie wahrhaftig miteinander umgehen. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß Gott ein Gott der Wahrheit ist. Er ist die Wahrheit selbst, und wir sind nach seinem Bilde geschaffen und müssen also danach streben, wahrhaftig zu sein.

Nun verkennt freilich die Kirche und näher die katholische Moraltheologie nicht, daß es Situationen geben kann, in denen man die Wahrheit verschweigen darf. Man darf nie lügen. Die Lüge ist immer verboten, ohne Ausnahme, wie wir am nächsten Sonntag erkennen werden. Aber es gibt Lagen, in denen es nicht verlangt ist, alles, was man weiß, kundzugeben. Es kann durchaus sein, daß es erlaubt, ja pflichtmäßig ist, in bestimmten Fällen die Wahrheit in sich zu verschließen. Ich sage noch einmal: nicht, indem man Unwahres sagt, aber indem man sich so verhält, daß der andere möglicherweise in einen Irrtum geführt wird. Es gibt die Möglichkeit der zweideutigen Redeweise, die man Amphibolie oder Mentalrestriktion nennt. Ich will Ihnen erklären, worum es sich hier handelt. Zunächst einmal ist nicht jede wörtliche Redeweise buchstäblich wahr. Ich habe einen Freund, der liebt es, seinen Wagen auf hohe Geschwindigkeiten zu treiben. Einmal fuhr er mit einem anderen nach Berlin, und als die Geschwindigkeit unter 100 Kilometer sank, sagte er: „Wir stehen ja.“ Nun, der Wagen hat gewiß nicht gestanden, wenn er mit 90 Kilometer Geschwindigkeit fährt, aber er wollte eben ausdrücken: Das ist zu wenig. Solche übertriebene Redeweise gibt es, sie ist erlaubt und anerkannt. Sodann ist auch die zweideutige Redeweise möglich. Es gibt Äußerungen, die können in doppelter Weise verstanden werden. Nehmen wir den Satz: Ich sah den Mann mit dem Fernrohr. Das kann zweierlei bedeuten, nämlich: Ich sah den Mann, indem ich ein Fernrohr benutzte. Es kann aber auch besagen: Ich sah den Mann, der ein Fernrohr trug. Zweideutige Redeweise ist denkbar, manchmal ungewollt, manchmal gewollt. Und wenn sie gewollt ist, dann spricht man von Mentalrestriktion. Man sagt einen Satz, der in sich nicht falsch und auch nicht unwahr ist; aber der Satz wird von einem selbst anders verstanden als von dem, der ihn hört, oder er kann zumindest anders verstanden werden. Das ist die zweideutige Redeweise.

Der Herr selber hat sie benutzt. „Reißt diesen Tempel nieder, und in drei Tagen werde ich ihn aufbauen.“ Die Juden meinten, er habe von dem steinernen Tempel in Jerusalem gesprochen, in Wirklichkeit meinte er den Tempel seines Leibes. Oder ein anderes Beispiel: Als er in das Haus des Jairus trat, wo das Töchterlein soeben gestorben war, sagt er: „Das Kind ist nicht tot, es schläft nur.“ Da verlachten sie ihn, denn sie wußten genau, das Kind war gestorben. Der Herr wußte das selbstverständlich auch, aber für ihn und seine Allmacht war eben der Tod nur ein Schlaf, und er war gekommen, das Kind aus diesem Schlaf herauszurufen. Wir haben also von höchster Autorität Falle, in denen die zweideutige Redeweise gestattet wird. Wir dürfen sie aus guten Gründen, vor allem in Notfällen, benutzen. Wir dürfen nicht lügen, ich sage es noch einmal, aber es ist in bestimmten Lagen zulässig, eine zweideutige Rede zu gebrauchen, um dadurch höhere Werte zu schützen.

Man muß nicht alles sagen, was man weiß. Es gibt die Möglichkeit, unter Umständen sogar die Verpflichtung, etwas zu verschweigen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es sich um Geheimnisse handelt. Geheimnisse sollen bewahrt werden. Wir unterscheiden vier Arten von Geheimnissen, nämlich das natürliche, das versprochene, das anvertraute und das sakramentale Geheimnis. Das natürliche Geheimnis entsteht, wenn man etwas hört, das dem anderen, wenn man es verbreiten würde, schaden würde, was ihm lästig wäre und was ihn betrüben würde – das natürliche Geheimnis. Das versprochene Geheimnis hat seinen Grund im Versprechen, das man jemandem abgelegt hat: Ich will das bei mir bewahren, ich will es nicht weitergeben. Das anvertraute Geheimnis beruht auf einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag. Man hat sich gleichsam verabredet, daß das, was hier gesprochen wird, geheim bleiben muß. Solche anvertraute Geheimnisse sind vor allem bei bestimmten Berufen geläufig; Priester, Rechtsanwälte, Ärzte müssen anvertraute Geheimnisse bewahren.

Das versprochene und das anvertraute Geheimnis lassen zu, daß man einem verschwiegenen Dritten davon Kenntnis gibt. Man kann durchaus einem vertrauten Menschen, natürlich wiederum unter dem Siegel der Verschwiegenheit, um sich selbst Klarheit zu verschaffen oder Erleichterung zu gewinnen, ein solches Geheimnis weitergeben. Aber ich sage noch einmal: nur unter der Voraussetzung, daß er andere genauso verschwiegen ist, wie man selbst.

Die Geheimnisse können zessieren; die Pflicht zur Geheimhaltung kann aufhören. Es gibt Umstände, bei denen höhere Werte es zulässig machen, daß man das Geheimnis weitergibt. Wenn Gefahren für den Betreffenden, dem man das Geheimnis zu halten versprochen hat, entstehen, dann kann es pflichtmäßig werden, das Geheimnis zu lüften. Man ist nicht unter allen Umständen gebunden, das Geheimnis zu bewahren. Nur eine Ausnahme gibt es, nämlich das Beichtgeheimnis. Das Beichtgeheimnis verpflichtet immer und gegenüber jedem. Es ist verpflichtend in jeder Gefahr und unter allen Umständen. Es verpflichtet auch gegenüber dem Pönitenten. Der Beichtvater darf nicht, wenn er einen Pönitenten auf der Straße trifft, beginnen, mit ihm über sein Bekenntnis zu sprechen. Auch das wäre ein Verstoß gegen das Beichtgeheimnis. Das Beichtgeheimnis verpflichtet auch alle anderen, die zufällig vom Gegenstand der Beicht hören. Wenn jemand den Beichtzettel findet, auf dem die Sünden aufgeschrieben sind, ist er verpflichtet, das Geheimnis zu bewahren. Wenn jemand etwas hört von dem, was im Beichtstuhl bekannt wird, muß er darüber schweigen. Gegenstand des Beichtgeheimnisses ist alles das, was mit Rücksicht auf die Erlangung der Lossprechung dem Beichtvater anvertraut wird.

Es werden im Beichtstuhl auch manchmal andere Dinge mitgeteilt. Mir sagte einmal in Mainz in St. Bonifaz jemand: „Beeilen Sie sich, ich muß schnell zum Zuge!“ Nun, das ist kein Beichtgeheimnis, nicht wahr? Oder gestern erzählte mir jemand im Beichtstuhl, daß er im Winter nach Spanien fährt. Das ist kein Gegenstand des Beichtgeheimnisses; das ist eine Mitteilung, die ganz interessant ist. Aber alles, was mit Rücksicht auf die Erlangung der Lossprechung mitgeteilt wird, ist Inhalt, unverbrüchlicher Inhalt des Beichtgeheimnisses.

Es besteht eine große Verantwortung für das, was wir sagen, und für das, was wir verschweigen. Die Zunge ist ein kleines Organ, aber sie will beherrscht sein. Nicht umsonst sagt der Apostel Jakobus: „Wer mit der Zunge nicht strauchelt, ist ein vollkommener Mensch.“ Er nimmt nämlich an, daß, wer die Zunge beherrscht, auch alle anderen Lebensäußerungen beherrschen kann. „Ein jeder von euch rede mit seinem Nächsten die Wahrheit“, schreibt der Apostel. Und der Herr sagt: „Eure Rede sei ein Ja für ein Ja und ein Nein für ein Nein. Was darüber ist, das ist vom Teufel.“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt