Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
6. März 1994

Der Tod Jesu als Sühne und Genugtuung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Kreuzestod Christi ist der Sieg über Sünde, Tod und Teufel, die Überwindung von Gesetz und Welt. Aber noch eine letzte Wirkung des Kreuzestodes muß heute vor unserem Auge erstehen. Der Kreuzestod Christi ist auch Sühne und Genugtuung.

Wenn man diese beiden inhaltsschweren Worte verstehen will, muß man selbstverständlich auf das Lehrwort der Kirche zurückgreifen. In den Konzilien, etwa von Toledo (675) und von Trient (1563), ist uns erklärt worden, daß Jesu Leiden Sühne- und Genugtuungswert besitzt. Die Päpste haben in ihren Rundschreiben, etwa Pius XI. in dem Schreiben „Miserentissimus Deus“, die Lehre von der Genugtuung vorgetragen, die sie in den Schriften des Neuen Testamentes vorfanden und welche die Kirchenväter ausgelegt hatten. Im Neuen Testament ist immer dann von Sühne und Genugtuung die Rede, wenn es heißt, daß Christus unsere Sünden getragen, daß er unsere Schmerzen auf sich genommen hat. Sühne und Genugtuung sind gemeint, wenn er von sich selbst sagt, er sei gekommen, sein Leben als Lösegeld für die vielen hinzugeben. Dieselbe Wahrheit wird ausgesprochen beim Letzten Abendmahl, wenn der Herr sagt, daß er sein Blut für die vielen hingibt. In den Apostelbriefen ist immer dann von Sühne und Genugtuung die Rede, wenn es heißt: „Gott hat ihn für uns – für uns! – zu Sünde gemacht, er hat ihn für uns zum Fluche gemacht,“ wenn gesagt wird, etwa im Römerbrief, daß Gott ihn als Sühnezeichen aufgerichtet hat.

Was sind nun die Inhalte der beiden Begriffe Sühne und Genugtuung? Wir gebrauchen ja diese Worte oft ohne nähere Bestimmung, und darin liegt eine große Gefahr, nämlich daß es abgegriffene Hülsen sind, deren Inhalt uns nicht mehr bewußt ist. Was also verstehen wir unter Sühne? Was verstehen wir unter Genugtuung?

Sühne ist die Übernahme eines Wehes, einer Strafe, einer Buße für begangene Sünden. Durch die Übernahme dieses Wehes, dieser Strafe, dieser Buße werden die Sünden gesühnt. Genugtuung ist Ersatzleistung für etwas, was zerstört worden ist, Wiedergutmachung einer gestörten Ordnung. Wir können also gewissermaßen die beiden Begriffe als komplementär, als sich ergänzend, ansehen. Sühne ist gewissermaßen negative Leistung, und Genugtuung ist positive Leistung. Die Sühne überwindet die Sünde durch das Leid, das in ihr übernommen wird. Die Genugtuung überwindet die Sünde durch den Ausgleich, der in ihr geschieht.

Diese beiden Begriffe müssen nun auf das Leben Jesu angewandt werden. Wieso war sein Leben Sühne, und wieso war es Genugtuung? Daß sein Leben Übernahme von Leid, Weh, Strafe war, das ist an seinem Schicksal zu erkennen. Er hat seine göttliche Natur auf Erden nicht so verwirklichen können, wie es ihr angemessen gewesen wäre. Er ist nicht wie ein Gott auf Erden empfangen worden, sondern er kam in sein Eigentum, und die Seinigen nahmen ihn nicht auf. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht worden, aber die Welt hat ihn nicht erkannt. Es war also dieser Verzicht auf die volle Entfaltung seines gottmenschlichen Wesens, der Verzicht auf die Anerkennung seiner Offenbarung, der Verzicht auf die jubelnde Huldigung, die ihm zugestanden hätte, seine Sühne. Und diese Sühne hat natürlich gegipfelt in seinem Leiden, in seinem bitteren Tode, in der Verachtung und in den Schmerzen, die er vom Prätorium des Pilatus bis nach Golgotha getragen hat. Diese Sühne hat Jesus als Mittler für die Menschen auf sich genommen und geleistet.

Die eben beschriebenen Handlungen und Leiden Jesu waren aber unter anderer Sicht auch Genugtuung; denn sie gingen ja hervor aus einer übermenschlichen Liebe, aus einem übermenschlichen Gehorsam. Und durch diese beispiellose Liebe, durch diesen beispielgebenden und beispiellosen Gehorsam hat Christus die Verdunkelung der Ehre Gottes, die Ablehnung seiner Offenbarung, die Verweigerung der Aufnahme seines Messias wiedergutgemacht. Da hat er Gott die Ehre zurückgegeben, die ihm durch die Sünde entrissen worden war. So war also sein Leben eine Genugtuung für den Vater im Himmel. Und weil er diese Genugtuung nicht für sich leistete, sondern für andere, deswegen sprechen wir von einer stellvertretenden Genugtuung. Er hat als das Haupt der Menschheit seine Sühne und seine Genugtuung dem Vater im Himmel dargebracht. Mit ihm hat die ganze Menschheit, die vor ihm lebenden und die nach ihm lebenden und die gleichzeitig mit ihm lebenden Menschen dem Vater Sühne und Genugtuung dargebracht. Er hat als das Haupt der Menschheit die Sühne und die Genugtuung geleistet, auf die der Vater Anspruch und die er gefordert hatte.

Seine Sühne und Genugtuung war eine ebenbürtige oder adäquate, wie die Theologen sagen. Das heißt, sie war der Forderung Gottes angemessen. Kein Mensch war imstande, eine adäquate, eine ebenbürtige Sühne zu leisten, denn die Sünde stößt in Tiefen vor, die ein bloßer Mensch nicht erreichen kann. Ein Mensch ist nicht imstande, die Verletzung der Gottesordnung, die durch die Sünde geschieht, wiedergutzumachen. Aber dem Gottmenschen Jesus war möglich, wozu der Mensch nicht imstande war. Als Mensch konnte er sich dem Gericht Gottes unterwerfen, als Gott konnte er das Grauen der Sünde ausmessen und auf sich nehmen. Das Ja seiner Liebe war mächtiger als das Nein der Sünde! Das Maß seiner Liebe war gewaltiger als der Haß der Sünde. Das Licht seiner Liebe war strahlender als die Finsternis der Sünde.

So hat Christus dem Vater im Himmel die verdunkelte Ehre zurückgegeben. Die Sünde verdunkelt ja Gottes Ehre; sie verhüllt das Angesicht Gottes. Sie läßt die Frage entstehen: Was muß das für ein Gott sein, der solche Geschöpfe hat, der eine solche Welt geschaffen hat, der eine solche Erde gemacht hat? Was muß das für ein Gott sein, in dem das Grauen der Sünde herrscht? Die Offenbarung der Liebe Gottes im Leben und Sterben Jesu hat diese Verdunkelung der Ehre Gottes überwunden. Indem nämlich der Vater im Himmel seinen eingeborenen – seinen einzigen! – Sohn in den Tod gab, hat er bekundet, daß der Urgrund der Welt die Liebe ist, die personale Liebe des Vaters. Und indem Christus sich dem Willen des Vaters freudig und willig unterwarf, hat er gezeigt, daß der Vater der Herr, die personale Heiligkeit und Gerechtigkeit ist. Jetzt kann die Liebe Gottes nicht mehr übersehen werden. Der Gutwillige vermag im Kreuzesgeschehen des Christus die Liebe Gottes am Werke zu sehen und zu der Wahrheit zu finden, daß letztlich doch die Welt von der Liebe ins Dasein gerufen worden ist.

Zwischen der abendländischen und der morgenländischen Theologie bestehen gewisse Unterschiede in der Erklärung der Kraft des Kreuzestodes Christi, Unterschiede, aber keine Gegensätze. Die orientalischen Väter und Theologen legen den Wert vor allem auf die Besiegung der Sünde, des Teufels und des Todes, auf die Aufhebung der Störung in der Seinsordnung, die durch die Sünde geschieht. Die abendländischen Väter, Tertullian, meisterhaft dann Anselm von Canterbury, legen das Gewicht mehr auf die Wiederherstellung der durch die Sünde gestörten Rechtsordnung, auf die Aufhebung der Ehrverletzung und der Beleidigung, die in der Sünde liegt. So hat Anselm von Canterbury in seiner genialen Schrift „Cur deus homo“ uns vor Augen geführt, wie die Genugtuung Jesu zu verstehen ist. Er geht davon aus, daß die Sünde, und das ist ja unbestritten, eine Kränkung Gottes ist. Aber da sich das Maß der Kränkung nach dem Gekränkten bemißt, so sagt Anselm, ist die Kränkung Gottes eine unendliche Beleidigung. Eine unendliche Beleidigung kann ein endliches Wesen nicht sühnen, dafür kann ein endliches Wesen keine Genugtuung leisten. Also mußte ein unendliches Wesen, das einzige unendliche Wesen, nämlich Gott selbst, sich aufmachen, um die Sünde zu überwinden, um die gestörte Rechts- und Ehrordnung wiederherzustellen.

Der heilige Thomas hat diese Lehre aufgenommen und vertieft. Er hat vor allem darauf hingewiesen, daß Christus nicht nur ebenbürtige, sondern überfließende Genugtuung geleistet hat, daß seine Genugtuung auch keiner Annahme bedarf; sie ist schon von vornherein angenommen. Annahme ist nur notwendig in bezug auf die sündigen Menschen. Und so ist diese Satisfaktionslehre des heiligen Anselm Gemeingut der Theologie und damit auch bis zu einem gewissen Grade des Glaubens der Kirche geworden.

Jetzt verstehen wir also, meine lieben Freunde, wieso das Leben, Leiden und Sterben des Herrn Sühne und Genugtuung ist. Die Sünde hat seine Ehre verdunkelt. Angesichts der Sünde erhebt sich die bange Frage: Was muß das für ein Gott sein, der eine solche Welt geschaffen hat und im Dasein erhält? Wenn aber jetzt Gott sich offenbart als die personale Heiligkeit und Gerechtigkeit, nämlich im Leben, Leiden und Sterben Jesu, und wenn Jesus in seinem Leben, Leiden und Sterben Gott anerkennt als die personale Gerechtigkeit und Liebe, dann ist das Dunkel der Sünde überwunden, dann ist die Ehre Gottes wiederhergestellt, dann ist seine Oberherrlichkeit vom Menschen prinzipiell wieder anerkannt. In der Sünde hat der Mensch die Geschöpfe Gott vorgezogen. In der Genugtuung Jesu, die er für uns geleistet hat, wird Gott unübersehbar wieder die Ehre gegeben. Durch seinen Gehorsam, durch seine Liebe ist die Oberherrlichkeit Gottes unübersehbar, nicht mehr verdunkelbar, vor aller Augen aufgerichtet.

Jetzt also, meine lieben Freunde, wissen wir, was wir tun, wenn wir unsere Gebete abschließen: „Durch unseren Herrn Jesus Christus“. Immer, wenn wir am Ende einer Oration sagen: „Durch unseren Herrn Jesus Christus“, dann berufen wir uns auf den Mittler Jesus Christus, auf seine Mittlerschaft, Wir beten durch ihn zum Vater, aber wir empfangen auch alles vom Vater durch ihn. Denn es gibt keinen anderen Mittler als Jesus Christus, unseren Heiland. Und wenn wir in unsere Zimmer das Kreuz hängen, dann wissen wir, warum wir das tun. Wir tun es deswegen, weil wir hier das Bild unserer Erlösung aufstellen, weil wir in diesem Gekreuzigten unseren Mittler sehen, der uns durch sein Leben, Leiden und Sterben die Erlösung verdient und bewirkt hat, weil er auf Golgotha nicht allein gestanden ist, sondern wir mit ihm. Er als das Haupt der Menschheit hat uns gleichsam mitgenommen auf diese Schädelstätte. Und dort ist für uns die immerwährende Befreiung von Welt und Sünde, Gesetz und Tod und Teufel bewirkt worden. Dort ist wahrhaft Sühne und Genugtuung geleistet worden, in die wir nur eingehen müssen, um ihrer Frucht teilhaftig zu werden.

Amen.

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