Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. April 1993

Die Menschennatur Jesu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Logos ist Mensch geworden, er hat eine wahre Menschennatur angenommen, und er ist damit, wie der heilige Augustinus ausführt, geschichtshaft und heilshaft geworden, eine geschichtliche, eine heilshafte Persönlichkeit. Die Evangelien bieten uns keine Biographie Jesu. Sie erklären nicht vom Anfang bis zum Ende alles, was sich in seinem Leben abgespielt hat, sondern sie sind Zeugnisse des Erlösungsgeheimnisses, das sich im Vollzug dieses Lebens zugetragen hat. Sie sind ein Bericht über die Aufrichtung des messianischen Reiches und der in diesem Reiche wirksamen Gottesherrschaft durch Jesus den Christus.

Man kann manchmal eine leise Trauer empfinden, daß uns so wenig über das Leben Jesu, wie es sich in seiner Familie und in seinem Freundeskreis zugetragen hat, berichtet wird. Von den Großen der damaligen Zeit haben wir porträtgleiche Statuen. Wir wissen, wie der Kaiser Augustus aussah. Wir haben in Marmor geschriebene Berichte. Wir wissen genau, was die Mächtigen der Zeit taten. Aber bei Jesus bleiben alle diese Dinge gleichsam im Hintergrund, es kommt den Evangelisten allein auf das in diesem Leben wirksame Erlösungsgeheimnis an.

Freilich darf man das Schweigen der Evangelisten auch nicht übertreiben. Es ist genug Sichtbares zu erkennen. Wir sehen Jesus in leibhaftiger Wirklichkeit und in klaren Umrissen vor uns stehen. Wir wollen am Beispiel des Evangelisten Johannes, des Apostels Paulus und der Synoptiker, also der drei ersten Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas, uns die Redlichkeit, die Wahrhaftigkeit und die Wirklichkeit des irdischen Lebens Jesu kurz vor Augen führen.

Zunächst Johannes: Er schildert ja wie kein anderer das überweltliche und vorweltliche Dasein Jesu. Aber das hindert ihn nicht, daß er mit festen und sicheren Strichen uns auch die leibhaftige, geschichtliche Wirklichkeit des Logos kündet. Er hat ihn gehört, er hat ihn gesehen, er hat ihn berührt. Noch zwei Generationen später spürt er den Druck seiner Hände, hat er den Tonfall dieser Stimme in seinem Ohr. Mit allen Sinnen hat er ihn aufgenommen und hat nichts davon vergessen. Der menschgewordene Logos hat sein Leben in den Urweisen eines Menschen vollzogen, er hungerte und dürstete, er wurde müde und schlief, er zürnte und er staunte, er litt und trauerte, er kämpfte und liebte. Die ganze Wucht und Realität seines Lebens faßt der Apostel Johannes in dem Satz zusammen: „Der Logos ist Fleisch geworden.“ Achten wir darauf, daß er nicht sagt: Er ist Mensch geworden. Er sagt: Er ist Fleisch geworden. Ja, wo ist da der Unterschied? Der Unterschied liegt darin, daß mit „Fleisch“ die Schwäche und Hinfälligkeit des Menschen ausgedrückt werden soll. Fleisch ist der Mensch in seiner Nichtigkeit und Hinfälligkeit, und eben das wird von dem Logos bei Johannes ausgesagt. Er sagt es mit betonter Schärfe. Man spürt, daß er es angesichts von Gegnern sagt. Er sagt es gegen die Gnostiker. Das waren Irrlehrer, die schon damals aufgetreten sind. Sie sagten zwar, der Logos ist erschienen, aber er ist gekommen in einem himmlischen Leibe, in einem irdischen Scheinleibe. Er ist außerstande, sich mit der menschlichen, sündhaften Natur zu umgeben, und deswegen hat es nur geschienen, als ob er einen vergänglichen vergänglichen Leib hätte. In Wirklichkeit hatte er eínen Scheinleib angenommen. So die Gnostiker. So vor allen Dingen Markios, der Gnostiker des 2. Jahrhunderts. Nach ihm ist der Rettergott des Neuen Testamentes erschienen, um die Geschöpfe von dem bösen – dem bösen! – Schöpfer des Alten Testamentes zu befreien. Und um sich nicht selbst zu beflecken, durfte er sich nicht mit der Geschöpflichkeit einlassen.

Nun könnte jemand denken: Ja, sind denn diese falschen Zeugen der Person Jesu heute noch aktuell? O ja, sehr wohl, meine lieben Freunde, denn es besteht immer die Gefahr, das geschichtliche Wesen Jesu in eine überzeitliche Idee zu verwandeln. Es gibt nicht wenige evangelische und katholische Theologen, die sagen: Das irdische Leben Jesu interessiert uns überhaupt nicht. Es ist unwichtig. Wir halten uns nur an das Kerygma, an die Verkündigung. Wie kann denn ein Kerygma bestehen, wenn der Verkündiger aus meinem Blick entschwindet? Wie kann man an einer Verkündigung festhalten, ohne von der Geschichtlichkeit, von der Realität des Verkündigers überzeugt zu sein?

Nach Johannes ist jetzt, in diesem bestimmten geschichtlichen Augenblick, das Heil den Menschen widerfahren. Jetzt ist der Logos erschienen, jetzt ist die Stunde der Entscheidung, jetzt zeigt es sich, ob man dem Licht oder der Dunkelheit folgt, denn „die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht“, so sagt Johannes in düsterer Weltsicht. Jetzt ist die Entscheidung zu fällen, und wer sie jetzt nicht richtig fällt, für den ist das „Zu spät!“ über sein Leben geschrieben.

Johannes verkündet den gegenwärtigen Messias, das gegenwärtige Lamm Gottes. Er weist auf ihn hin, auf den die Propheten seit Jahrhunderten gehofft haben. „Dieser ist es, der die Sünden der Welt hinwegnimmt.“ Nicht eine überzeitliche Idee ist Jesus. Die Erlösung geschieht nicht in einem zeitlosen Immer, sondern hier und jetzt und in diesem und nur in diesem Jesus von Nazareth.

Der Apostel Paulus hat Jesus auf dem Wege nach Damaskus als das himmlische Wesen erlebt, als den verklärten Herrn, als den erhöhten Herrn, als die von himmlischer Glorie durchwirkte Personmacht. Aber das hindert ihn nicht, gleichzeitig die harte Realität zu bezeugen im Galaterbrief: „Gott gab uns seinen Sohn, geboren vom Weibe.“ So hart drückt er das aus, um eben die Eindeutigkeit und die Wirklichkeit dieses Lebens zu bezeugen. Die Krönung dieses Lebens, an der Paulus am meisten gelegen ist, sind Leiden, Tod und Auferstehung Jesu, geschichtliche Ereignisse. Um diese Daten kreist sein ganzes theologisches Denken. Daran hängt seine ganze Verkündigung und damit auch unser Glaube.

Es ist dabei auffällig, meine lieben Freunde, wie Paulus immer wieder vom Grabe spricht; vom Grabe, daß er begraben wurde, er wurde beerdigt, er wurde begraben. Ja, warum denn das? Weil das Grab eben die Konkretheit, die Einzigartigkeit und die Einmaligkeit von Jesus sichert. Er ist wirklich gestorben, und er ist wirklich aus dem Grabe erstanden. Am Grabe hängt ungeheuer viel, deswegen beten wir auch im Glaubensbekenntnis: Er ist begraben worden. Es ist ganz verkehrt, wenn man dem Grabe, dem leeren Grabe wohlgemerkt, seine Geschichtlichkeit zu rauben unternimmt, und das wird heute versucht.

Ein Autor hat einmal ein fingiertes, aber aus den Schriften herausgezogenes Gespräch zwischen den beiden Theologen Drewermann und Walter Kasper aufgezeichnet. Da sagt Kasper: „Der Bericht vom leeren Grab bleibt problematisch.“ Drewermann: „Wenn Sie meinen, das könnte so nicht gewesen sein, weil es nicht historisch ist, dann kann es doch nur frei erfunden sein. Warum geben Sie das nicht zu?“ Kasper: „Es fällt mir schwer, Ihnen zu widersprechen. Aber in diesem alten Traditionsstück vom Auffinden des leeren Grabes muß man ja nicht einen historischen Report sehen, sondern ein Zeugnis des Glaubens.“ Drewermann: „Sie weichen aus. Was gilt nun: Legende oder Realität?“ Kasper: „Ach wissen Sie, wir müssen schon annehmen, daß es sich hier nicht um historische Züge handelt, sondern um Stilmittel, die Aufmerksamkeit und Spannung erzeugen wollen.“

Da sehen wir den Trend. Hier wird ein Angriff auf das leere Grab unternommen und damit auf die Realität des Lebens Jesu und vor allen Dingen auf die Wirklichkeit seiner leibhaftigen Auferstehung. Paulus wird nicht müde, die Zeugen anzuführen, die den Auferstandenen gesehen haben, vor allem die lebenden Zeugen. Man kann hingehen, man kann sie fragen, sie können Auskunft geben, denn sie werden nicht schweigen von dem, was sie gesehen und gehört haben.

Paulus ist der Apostel der Auferstehung. Mit der Auferstehung ist der endlose Kreislauf unterbrochen zwischen Werden und Vergehen, zwischen Leben und Sterben, zwischen Winter, Frühling, Sommer und Herbst.

Die übrigen Religionen – außer dem Christentum – sind alle Naturreligionen, weil in ihnen die Natur vergöttlicht wird. Allein das Christentum ist eine gott-entstammte Religion, weil hier der Erlöser den Kreislauf der Natur durchbrochen hat. Jesus, aus dem Grabe erstanden, stirbt nicht mehr! Hier ist die Vergänglichkeit überwunden, hier ist der Kreislauf, der endlose, immerwährende Kreislauf durchbrochen; das Christentum ist eine geschichtliche Religion. Und deswegen kommt so viel darauf an, daß wir die Geschichtlichkeit des Lebens und Wirkens Jesu festhalten.

Das tun in besonderer Weise die Synoptiker. Darunter verstehen wir die drei ersten Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas. Man nennt sie Synoptiker, also Zusammenschauer eigentlich, weil sie in einer ähnlichen Weise den Ablauf des Lebens Jesu schildern. Sie berichten von dem Kind, das in Windeln gewickelt wurde und in eine Krippe gelegt ward. Sie bezeugen aus der Jugend Jesu ein Begebnis aus Jerusalem, und das ist bezeichnend. Sie erfinden nicht irgendwelche scheinbar wunderbaren Begebenheiten aus dem Jugendleben Jesu, sondern sie schweigen darüber. Die apokryphen, also unechten Schriften haben versucht, dieses Schweigen zu ersetzen. Sie sind um so geschwätziger, je weniger sie wissen. In diesen Apokryphen wird zum Beispiel erzählt, der Knabe Jesus habe aus Lehm ein Vöglein gebildet, es in die Luft geworfen, und da sei es lebendig geworden. Das ist erfundener Unsinn. So etwas haben die Apokryphen Jesus zugeschrieben, und damit machen sie das Leben Jesu in seiner Redlichkeit unglaubwürdig, Nein, wir haben keine Befugnis, das Schweigen der Evangelisten irgendwie zu ersetzen oder durch Phatasien auszufüllen.

Die Synoptiker erzählen dann, daß dieses Leben hineingespannt war in die Heils- und Weltgeschichte, angefangen von Adam und anderen Stammesgliedern des Alten Bundes bis zu Josef und Maria, und die Synoptiker berichten auch von den Großen der damaligen Zeit, dem Kaiser Augustus in Rom, dem Statthalter von Syrien, Quirinus, dem Prokurator – Landpfleger, wie wir es übersetzen – von Palästina, Pontius Pilatus. Alle diese Angaben haben den Zweck, das Leben Jesu geschichtlich einzuordnen.

Das Leben Jesu war erfüllt vom Stundenschlag des Vaters. Es stand unter dem Müssen, unter dem göttlichen Befehl des Vaters. Deswegen kommt so oft in den Evangelien das griechische Wort dei vor, das im Deutschen „Muß“ bedeutet. Ich muß! Wir haben es eben im Evangelium gehört: „Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?“ Der Stundenschlag dieses Lebens wird vom Vater gelenkt. Als der Herr bei Zachäus einkehrt, da sagt er, er mußte dort einkehren, „weil diesem Haus heute Heil widerfahren ist.“ Als er in Kapharnaum fortging und die Leute ihn abhalten wollten, er solle bei ihnen bleiben, da sagte er: „Ich muß auch andere Städte und Dörfer besuchen, weil der Vater es mir aufgetragen hat.“ Da warnen ihn befreundete Pharisäer, er soll nicht in den Herrschaftsbereich des Herodes gehen. Da antwortet er ihnen: „Sagt diesem Fuchs“ – das ist der Landesherr! – „Sagt diesem Fuchs, ich bringe Heilungen zustande, ich treibe Dämonen aus heute und morgen; erst übermorgen werde ich dort vollendet. Denn heute und morgen muß ich wandeln. Es geht nicht an, daß ein Prophet außerhalb von Jerusalem zugrunde geht.“

Solange der Vater es nicht gewollt hatte, können seine Feinde, deren Haß ja immer lodernd war, ihm nichts anhaben. Erst als die vom Vater bestimmte Stunde kam, da durften sie Hand an ihn legen. „Das ist euere Stunde und die Macht der Finsternis,“ sagt der Herr nach dem Lukasevangelium bei der Gefangennahme zu der Rotte der Häscher.

So ist dieses Leben von seinem göttlichen Hintergrund erfüllt. Es kommt aus einem göttlichen Leben, aus einer göttlichen Fülle, und wenn dies auch zunächst verborgen ist, so bricht es doch durch bei der Auferstehung, und es geht zurück in die göttliche Fülle. Dieses Leben ist eine Einheit von Menschenschwäche und Gottesherrlichkeit. Es ist eine menschliche Natur in aller Redlichkeit bis zum Schmerz und bis zum Tod. Aber es ist ein göttliches Wesen in dieser Natur verborgen, das die Macht hat, das entrissene Leben wieder zu nehmen.

So wollen wir, meine lieben Freunde, in diesen Tagen unsere Überzeugung von der wirklichen und wahrhaftigen Menschennatur Jesu in seinem ganzen göttlichen Wesen bekräftigen. Wir wollen mit dem heiligen Johannes sagen: „Das Wort ist Fleisch geworden“, jawohl, ein Mensch in seiner Schwäche und Hinfälligkeit,“aber wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater, voll der Gnade und Wahrheit!“

Amen.

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