Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Dezember 1992

Der Zweck der Menschwerdung des Herrn

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Es scheint eine ständige Versuchung des menschlichen Geistes zu sein, die Werke und Taten Gottes in der Geschichte in Ideen und Gedankengebilde zu verwandeln. Diese Strömung hat einen besonderen Ausdruck angenommen im 17. und 18. Jahrhundert, als die Philosophie des Deismus aufkam. Der Deismus leugnet nicht die Schöpfung; auch er bejaht, daß die sichtbare Wirklichkeit von einem allmächtigen Schöpfer ins Leben gerufen sein muß. Aber der Deismus bestreitet, daß der Schöpfer seine Schöpfung weiterhin regiert, daß er lebendig eingreift in ihre Geschicke. Daß es also zum Beispiel einen Sinn hat, Gott anzurufen, das wird von ihm entschieden abgelehnt.

Die Weihnachtsbotschaft ist die Botschaft von der Erlösung. Die Erlösung hat viele Aspekte. „Er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden“, aber die Sünden sind vielfältig, und zu den Sünden gehören auch Irrtum, Unsicherheit und Unwissenheit. So können wir den Zweck der Menschwerdung in drei Sätze zu fassen versuchen, nämlich

1. Er ist gekommen, um sich als den Lebendigen den Menschen zu bezeugen.

2. Er ist gekommen, um sich als den Sichtbaren vor den Menschen zu erweisen.

3. Er ist gekommen, um die Menschen mit Freude zu erfüllen.

Die Menschwerdung ist geschehen, damit wir Gott als den Lebendigen erkennen. Als Idee der Sittlichkeit, als Postulat der praktischen Vernunft, als sittliche Weltordnung wollte man Gott gelten lassen. Aber als den, der lebendig ist und lebendig eingreift, der eine Geschichte mit den Menschen führt, als einen solchen wollte man ihn nicht gelten lassen. Und so hat Gott einen ungeheuren Einsatz gemacht, um die Menschen davon zu überzeugen, daß er der Lebendige ist. Er hat eine Menschennatur angenommen und ist in dieser Natur unter uns gewandelt. Die Zeitgenossen, die Zeugen haben erlebt, wie er im Futtertrog der Tiere lag, wie er im Hörsaal im Tempel war, wie er auf den Gefilden Galiläas gewandert ist. Sie können seine Lebendigkeit bezeugen. Er sprach wie einer, der Macht hat, nicht wie die Pharisäer. Er wirkte Wunder und Machttaten. Er hat die Tauben hören gemacht und die Blinden sehend. So konnte seine Lebendigkeit das Zeichen dafür werden, daß das Heil in Christus angebrochen ist. Er ist erschienen, damit wir ihn als den Lebendigen erkennen. Und das ist notwendig.

Auch wir sind ja immer wieder beunruhigt und bedrückt, wenn wir fragen: Wo ist unser Gott? Oder wenn wir höhnend gefragt werden: Wo ist euer Gott? Wenn wir die Kirche in Agonie sehen, wenn wir den unaufhaltsamen Rückgang beobachten, wenn wir die Zerstörungen in der Welt anschauen, wenn wir das Unrecht triumphieren sehen, da kommt auch dem Gläubigen die Frage: Ja, wo ist denn Gott?

Doch auch in unserer Zeit, meine lieben Freunde, zeigt sich die Lebendigkeit Gottes, bekundet sich seine Wirksamkeit. Ich kenne keinen eindrucksvolleren Beweis für Gottes Offenbarung und die anhaltende Bedeutung dieser Offenbarung als die Zerstörungen, die jene anrichten, die von dieser Offenbarung nichts wissen wollen. Die Verwilderung, die Verwüstungen, die Morde, die Zusammenbrüche, die auf dem Ungehorsam gegen Gottes in der Offenbarung zu uns gekommenen Willen begründet sind, sprechen laut von der Wirklichkeit und von der Wirksamkeit Gottes. In diesen Zerstörungen hören wir die Stimme Gottes, der sagt: „Du sollst!“ und „Du sollst nicht!“ Wer darauf nicht hört, der zerstört die Welt. Der Abfall von Gott ist der Zerfall. Und dieses ist ein Zeugnis für Gottes Wirklichkeit und Lebendigkeit. Es gibt, für den Gutwilligen sichtbar, auch heute Zeichen und Wunder. Sie sind selten, aber sie fehlen nicht. Am 16. Juli 1954 hat sich im Karmelitinnenkloster von Chui Hu in Vietnam folgendes zugetragen: Ein Soldat der Aufstandsbewegung Vietminh kam in das Kloster, stürzte durch das Haus, ging in die Kapelle. „Hier wohnt Gott. Man muß ihn respektieren“, sagten die Schwestern zu ihm. „Gott? Wo ist euer Gott?“ Sie führten ihn zum Tabernakel. Da hob der Mann seinen Karabiner, stand aufrecht, legte an, zielte und drückte ab. Ein Schrei des Entsetzens der Karmelitinnen. Die Kugel traf den Speisekelch, die Hostien fielen auf den Altar. Ein furchtbares Sakrileg war geschehen im Karmel von Chui Hu. Der Mann, der geschossen hatte, stand immer noch im Mittelgang, unbeweglich wie eine Säule, hatte immer noch den Finger am Abzug des Gewehrs. Es schien, als ob er ein zweites Mal schießen wollte. Aber dann brach der Mann zusammen wie ein Baum. Am nächsten Tage haben ihn die Schwestern an der Mauer ihres Klosters begraben. Wer Augen hat, zu sehen, der sieht, und wer Ohren hat, zu hören, der hört.

Gott ist erschienen, damit wir ihn als den Lebendigen erkennen. Er ist auch erschienen, damit wir ihn als den Sichtbaren lieben. Es ist ja nicht leicht, meine lieben Freunde, Gott zu lieben. Wir sind Sinnenwesen, aber Gott ist unsinnlich. Er wohnt in unzugänglichem Lichte. Kein Auge hat ihn gesehen. Kein Menschenauge ist fähig, ihn zu sehen. Er ist der unendlich Ferne, er ist der ganz andere, er ist der Unbegreifliche. Und diesen Gott sollen wir lieben? Das ist sehr schwer. Wir sind sinnenhaft und Gott ist unsinnlich. Er ist ein Geist, ein reiner Geist. Da hat es uns Gott leicht gemacht, ihn zu lieben; da ist er uns zu Hilfe gekommen; da hat er eine menschliche Gestalt angenommen, und jetzt sehen wir ihn vor uns als einen liebenswürdigen, ach, was sage ich, als den liebenswertesten aller Menschen. Jetzt wissen wir, wie Gott aussieht. Jetzt können wir nämlich dank der Idiomenkommunikation von ihm sagen: Gott war ein Junge. Gott war ein Wanderer. Gott ist hungrig und durstig gewesen. Ja, das dürfen wir sagen dank der Idiomenkommunikation, wo wir von der einen göttlichen Person Aussagen machen über ihre zwei Naturen.

Er ist unendlich heilig und doch zart wie eine Mutter gegenüber den Sündern. Er ist herrscherlich und doch milde. Er ist lodernd im Zorn und doch geduldig wie ein Lamm. Er gebietet dem Sturm, und doch läßt er sich ans Kreuz nageln. Wer sollte ihn nicht lieben, wenn er ihn sieht in der Krippe? Ein Kind muß man doch lieben. Ein Mensch, der Kinder nicht liebt, kann kein guter Mensch sein. Ein Kind muß man lieben. Und wie sollten wir nun dieses Kind nicht lieben, von dem wir wissen, daß es der Sohn Gottes ist? Und wie sollten wir ihn nicht lieben, wenn wir ihn dasitzen sehen mit einem Mantel der Einsamkeit, mit einer Spottkrone auf dem Haupte, mit einem Bambusrohr in der Hand? Wenn wir ihn dasitzen sehen, unendlich traurig und verlassen und einsam? „Ach, Herr, was du erduldet, ist alles meine Last. Ich habe das verschuldet, was du getragen hast. Ich, Jesus, bin's, ich Armer, der dies verdienet hat. Ach, tilge, mein Erbarmer, doch meine Missetat!“ Wer sollte ihn da nicht lieben? Auch das war ja der Sinn der Heilsveranstaltung, daß er durch seine menschliche Liebenswürdigkeit uns zur Liebe des ewigen Gottes entflammt, wie es die Weihnachtspräfation ausdrücklich sagt. Jetzt haben wir sein Bild vor uns; es ist unser Gnadenbild, das wir sehen, das wir lieben, das wir endlos küssen können.

Nach dem Ersten Weltkrieg rückten die Japaner in Mukden, einer großen Stadt in Mandschukuo, ein. Die Japaner als Heiden vernichteten die christlichen Zeichen, die von den Russen, als sie die transsibirische Bahn bauten, angebracht waren. Im Bahnhof von Mukden stand eine Statue Jesu. Der japanische Bahnhofsvorsteher dachte daran, sie zu entfernen. Aber er beobachtete, daß die russischen Flüchtlinge vor der Statue knieten und beteten und daß sie getröstet und erhoben von dieser Statue weggingen. Da hat er entschieden: Die Statue bleibt stehen. Es war ihm die Erkenntnis geworden, die ihm geworden war, daß von der Liebe zu dem sichtbaren Herrn und Heiland eine Kraft ausgeht, eine Kraft, die den Menschen auch das Untragbare, das scheinbar Untragbare, das scheinbar Unerträgliche, zu ertragen gestattet.

Er ist ein Mensch geworden, damit wir ihn als den Sichtbaren lieben können. Und er ist schließlich ein Mensch geworden, damit unsere Freude vollkommen sei. Die Offenbarung ist ja doch eine Unternehmung der Freude. „Seht, ich verkünde euch eine große Freude! Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren.“ Und darüber soll man sich freuen, daß er gekommen ist, daß er jetzt da ist und daß er bei uns bleibt. In den Evangelien ist darum oft und oft von der Freude die Rede. Die Weisen im Morgenlande wurden vom Stern geführt, und als sie ihn sahen, empfanden sie eine überaus große Freude. Und als die Jünger mit Jesus wanderten und seinen wunderbaren Lehren zuhörten, als sie seine Machttaten erlebten, da  waren sie voll Begeisterung. Er gab ihnen Kräfte der Heilung und der Beschwörung der Dämonen, und eines Tages kamen sie jubelnd zurück: „Herr, in deinem Namen sind uns auch die Geister untertan.“ „Ja“, sagte der Herr, „ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen. Ich habe euch Macht gegeben, über Schlangen und Skorpione zu treten. Wenn etwas Schädliches an euch kommen will, wird es euch nicht schaden. Aber darüber sollt ihr euch nicht freuen. Freut euch vielmehr darüber, daß eure Namen im Himmel eingeschrieben sind!“ Er lenkt also die Blicke von der gegenwärtigen auf die ewige Freude.

Die Jünger haben freilich auch Schweres mit ihrem Herrn erduldet. Sie mußten seine Gefangennahme, seine Verurteilung, seine Hinrichtung erleben. Das war für sie schrecklich und entsetzlich. Aber dabei blieb es ja nicht. Der Ausgang dieses Lebens war nach drei Tagen die Auferstehung. Es wird berichtet, wie die Apostel den Auferstandenen mit Freuden begrüßten, ja, einmal heißt es sogar bei Lukas: „Sie konnten vor Freude nicht glauben.“ Die Freude schien ihnen zu groß, so daß die Freude sie gewissermaßen hinderte, das für wahr zu nehmen, was sie vor sich hatten, was sie mit Händen betasten und was sie mit den Augen sehen konnten. Aber es erfüllte sich eben das, was der Herr gesagt hatte: „Ich werde wiederkommen, und eure Freude wird niemand von euch nehmen.“ Und so hat denn die junge Gemeinde in der Freude gelebt. Sie brachten Tag für Tag im Tempel zu, und in den Häusern brachen sie das Brot. „Sie nahmen die Speise mit Freude“, heißt es in der Apostelgeschichte.

Und selbst im Leid hat ihnen die Freude nicht gefehlt. Sie wurden ja bald auch angeklagt, vor den Hohen Rat geführt, verurteilt, beschimpft, geschlagen. Aber wie sagt die Apostelgeschichte: „Sie gingen jauchzend vom Gerichte fort, weil sie gewürdigt worden waren, für den Namen Jesu Schmach zu leiden.“

So ist es also, meine lieben Freunde. Das Leben des Christen ist kein Weg des Triumphes. Das Leben des Christen wird ein Kreuzweg bleiben. Aber dieser Kreuzweg ist nicht ohne Freude; denn immer wieder vermag es unser Gott und Heiland, an diesem Kreuzweg Lichter aufzustecken. Eine Ordensschwester schickte mir die schöne Karte: „Immer, wenn du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her, daß du es noch einmal wieder zwingst und von Sonnenschein und Freude singst, leichter trägst des Alltags harte Last und wieder Kraft und Mut und Glauben hast.“ Ja, so ist es doch. In all dem Leid, und weiß Gott, es ist unendlich viel Leid auf dieser Welt, gibt es doch immer wieder Anlässe zur Freude. Und vor allem: Es ist unser Leben nicht ein Weg, der in die Gefangenschaft nach Sibirien führt, sondern es ist unser Leben ein Weg, der zum Heil, zur ewigen Freude führt. Wir haben die Hoffnung, und es ist eine begründete Hoffnung, daß Gott einmal zu einem jeden von uns sagen wird: „Wohlan, du guter und getreuer Knecht, wohlan, du gute und getreue Magd, weil du über Weniges getreu gewesen bist, will ich dich über Vieles setzen. Geh ein in die Freude deines Herrn!“

Amen.

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