Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
10. Mai 1992

Pflichten der Kinder gegen die Eltern

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Vor einigen Sonntagen haben wir über die Pflichten der Eltern gegenüber den Kinder nachgedacht. Es bleibt uns heute die umgekehrte Blickrichtung. Wir müssen überlegen, welches die Pflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern sind.

Zunächst einmal: Welches ist die Quelle dieser Pflichten? Warum haben die Kinder Pflichten gegenüber ihren Eltern? Die Gründe sind die folgenden: Die Eltern haben den Kindern das Leben geschenkt. Nach Gottes Willen ist es so eingerichtet, daß das Leben von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Und wer der Urheber einer Wirklichkeit ist, der besitzt Macht über sie und Verantwortung für sie. Und das Erzeugnis ist gehalten, sich nach dem Erzeuger zu richten. Die Eltern sind aber nicht nur das Prinzip des Seins ihrer Kinder, sie sind auch das Prinzip der Erziehung. Die Eltern haben die Kinder zu erziehen, und Zucht und Erziehung – die beiden Worte hängen ja sprachlich zusammen – sind nur möglich, wenn die Ordnung von Autorität und Unterordnung intakt bleibt. Erziehung ist nur möglich, wenn Vorbild und Weisung auf der einen Seite und Nachahmung und Gehorsam auf der anderen Seite Bestand haben.

Schließlich ergeben sich die Pflichten der Kinder auch aus den Wohltaten, die sie von den Eltern empfangen. Von der Geburt an und viele Jahre danach werden die Kinder von den Eltern betreut, körperlich, geistig, seelisch, auch geistlich, empfangen zahllose Guttaten von den Eltern, und diese verpflichten sie auch zu den vier Tugenden, von denen wir jetzt sogleich sprechen werden als den Pflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern.

Die erste Pflicht ist die Liebe. Kinder haben die Pflicht der Liebe gegenüber ihren Eltern. Die Liebe, die hier gemeint ist, ist die Zuneigung, die herzliche Zärtlichkeit, aber vor allem das Wohlwollen und das Wohltun für die Eltern. Die affektive Liebe und die effektive Liebe gehören zusammen. Affektive Liebe ist jene, die im Herzen wohnt, also die Gesinnung des Wohlwollens, welche Kinder gegenüber ihren Eltern haben müssen. Die effektive Liebe ist das Wohltun. Es soll nicht bei der Gesinnung bleiben, sondern die Gesinnung soll sich verleiblichen in Taten, in Taten der Liebe. Diese Liebe ist immer gefordert ohne Rücksicht auf das Verhalten, auf die Eigenschaften, auf das Tun und Lassen der Eltern. Kindespflicht ist und bleibt die Liebe. In dieser Kindespflicht haben sich immer wieder Menschen ausgezeichnet, haben diese Pflicht mit heroischem Mute erfüllt. Als im Jahre 79 n.Chr. der Vesuv ausbrach und die Umgebung in Schutt und Asche legte sowie viele Menschen tötete, da wird berichtet, daß sich in Pompeji auch ein Heide mit seiner Mutter befand, nämlich Plinius. Plinius ist ein bekannter Mann geworden. Er war später Statthalter von Bithynien und hat als solcher einen berühmten Brief an den Kaiser geschrieben über das Verhalten der Christen. Deswegen ist uns dieser Mann so vertraut. Von diesem Plinius wird nun berichtet, daß er mit seiner Mutter beim Ausbruch des Vesuvs in unmittelbarer Nähe und in höchster Gefahr war. Die Mutter in ihrer Sorge, den Sohn gerettet zu sehen, sagte: „Flieh du und laß mich hier zurück, ich bin sowieso schon dem Tode nahe!“ Plinius, ein Heide, sagte: „Mutter, eher will ich mit dir den Tod erleiden, als mich ohne dich retten.“ Und er nahm die Mutter auf seine Arme, trug sie durch Feuer und Rauch und Aschenregen und gelangte in die Freiheit, in die Sicherheit. Andere retteten ihre Schätze und ihre Vermögensstücke, Plinius rettete das Teuerste, was er besaß, seine Mutter. Das tat ein Heide. Das war Kindesliebe in heroischem Maße. Sünden gegen die Liebe sind Abneigung, Haß; wie wir alle wissen, sind diese Sünden nicht selten.

Die zweite Tugend, welche Kinder gegenüber ihren Eltern beweisen müssen, ist die Ehrfurcht. Ehrfurcht ist die höchste Wertschätzung, die mit Abstand verbunden ist, aus Scheu, jemanden zu kränken. Ehrfurcht ist heilige Scheu, einem anderen die gebührende Ehre nicht zu erweisen. Die Eltern haben Anspruch auf Ehrfurcht. Dieser Anspruch hängt nicht von ihren persönlichen Eigenschaften ab, sondern von ihrer Würde, von ihrer Stellung als Stellvertreter Gottes, von dem Auftrag, den Gott ihnen gegeben hat, von ihrer Autorität, die er ihnen übertragen hat. Man muß also mit Eltern ehrfürchtig umgehen, mit einer heiligen Scheu, sie zu kränken, ihnen die Ehre zu rauben und ihre Ehre zu verletzen, sie zu mißachten. Niemand kennt die Schwächen seiner Eltern besser als ein Kind, sie liegen ihm ja täglich vor Augen. Aber das darf kein Anlaß sein, es an Ehrfurcht fehlen zu lassen. Deswegen darf keine Mißachtung des Vaters oder der Mutter Platz greifen, sondern die heilige Ehrfurcht gebietet, auch einem wüsten Vater oder einer Rabenmutter die Ehre zu erhalten, also ihre Fehler nicht zu verbreiten, sie nicht bloßzustellen, sie nicht zu mißachten.

Es war einmal – ich erzähle wahre Geschichten, meine Freunde – ein Vater, der ein Trinker war und oft betrunken nach Hause kam, seine Frau schlug und die Kinder beschimpfte. Die Frau hielt in heroischer Tapferkeit an der Seite dieses Mannes aus. Sie verdiente sich nebenbei noch Geld für das, was er nicht nach Hause brachte wegen seiner Trunksucht. Eines Abends kam der Mann einmal nüchtern nach Hause. Er hörte Stimmen, blieb an der Tür stehen und lauschte, was er da zu hören bekommen werde. Und was hörte er da? Er hörte, wie seine Frau mit den Kindern betete, und zum Schluß fügte sie noch hinzu: „Jetzt beten wir noch ein Vaterunser für unseren guten Vater.“ Da brach der Mann zusammen. Von dieser Stunde an war er bekehrt. Das hatte er nicht für möglich gehalten, das hatte seine Seele getroffen. Ehrfurcht auch vor dem, der sie scheinbar verspielt hat.

Die dritte Eigenschaft, die Kinder beweisen müssen, ist der Gehorsam. Gehorsam ist die Geneigtheit, den rechtmäßigen Befehlen willig und sogleich nachzukommen. Eine Gemeinschaft ohne Autorität gibt es nicht. Jede Gemeinschaft braucht eine Autorität. Wenn wir heute von einer antiautoritären Erziehung hören, wenn wir den Aufstand gegen die Autorität erleben, dann ist das nicht so, meine lieben Freunde, als ob die Autorität überhaupt abgeschafft würde. Es treten nur an die Stelle der rechten, der rechtmäßig gebietenden Autoritäten andere. Es tritt also an die Stelle der Kirche das Fernsehen. Es tritt an die Stelle der Bibel der SPIEGEL. Das sind die neuen Autoritäten. Autoritäten gibt es immer und muß es geben, weil jeder Mensch der Autorität bedarf. Aber es kommt zum Gedeihen der Menschen und der Völker darauf an, daß die rechten Autoritäten in ihre Rechte eingesetzt werden, und die Eltern sind eine rechte Autorität, sie sind von Gott eingesetzt. Sie haben das Recht, zu befehlen, und die Kinder haben die Pflicht, zu gehorchen.

Diese Gehorsamspflicht erstreckt sich auf alles, was zum Wohlsein und zur Erziehung der Kinder erforderlich ist. Selbstverständlich hat der Gehorsam auch Grenzen. Die eine Grenze ist die Rechtmäßigkeit der Befehle. Wenn Eltern ihre Kinder zu bösem Tun verleiten sollten, und das gibt es ja leider Gottes, dann hört die Gehorsamspflicht auf. Die Kinder erwachsen auch allmählich zur Mündigkeit, und deswegen muß das Befehlen allmählich zurücktreten. Wir müssen die Kinder in die Freiheit entlassen, müssen sie freilich auch zur Freiheit erziehen, müssen sie zur Freiheit ertüchtigen, müssen sie befähigen, die Freiheit, die gottgewollt ist, in der rechten Weise zu nutzen. Das gilt zum Beispiel für die Wahl des Berufes. Selbstverständlich können, sollen, müssen Eltern ihre Kinder beraten, denn sie haben einen Überblick über die Fähigkeiten und Talente und Begabungen ihrer Kinder. Sie kennen sie und wissen, in welche Richtung sie gehen, ob sie nun manuell geschickt sind oder ob sie geistig besonders hervorragend sind. Eltern werden also ihre Kinder bei der Berufswahl beraten und in gewissem Maße auch lenken. Aber man darf Kinder nicht ohne Notwendigkeit in einen Beruf drängen, der ihnen nicht angemessen ist. Man muß hier in kluger Weise eigene Ziele und Pläne zurückstellen gegenüber den tatsächlichen Anlagen und Neigungen der Kinder. Ich will Ihnen ein Beispiel davon erzählen: Es gab einmal einen großen, bedeutenden Generalintendanten in München, also einen bayerischen Beamten, der über das gesamte künstlerische Wesen der bayerischen Landeshauptstadt gesetzt war, nämlich Erich von Possart. Dieser hatte einen sehr strengen und folgerichtigen Vater. Der Vater schickte ihn aufs Gymnasium, doch der Junge lernte nicht gut. Er mußte ihn schließlich notgedrungen aus der Sekunda herausnehmen und gab ihn zu einem Buchhändler in die Lehre. Der Junge ging drei Jahre lang in die Buchhändlerlehre, aber seine Seele war auf ganz anderes gerichtet, er wollte Schauspieler werden. Nun, es ist begreiflich, daß ein Vater über eine solche Absicht nicht entzückt ist, weil der Schauspielerberuf manche Gefährdungen mit sich bringt und leicht mit dem Ruch der Leichtfertigkeit in Verbindung gebracht wird. Der Junge machte also seine Lehre zu Ende, aber schließlich setzte er bei dem Vater durch, daß er Schauspieler werden konnte. Er wurde einer der berühmtesten und bedeutendsten Schauspieler, welche die deutsche Bühne je gesehen hat. Und er wurde nicht nur Schauspieler, er wurde in Bayern sogar zum Professor ernannt an der Hochschule und schließlich zum Generalintendanten befördert mit dem persönlichen Adelstitel. Hier hatte also ein Sohn gegen den Willen des Vaters seinen Beruf erkannt, der in diesem Falle wahrlich eine Berufung war.

Dieses Beispiel soll nur dazu dienen, zu zeigen: Wir sollen die Kinder lenken, wir sollen sie beraten und ihnen zu Seite stehen. Aber wir sollen sie nicht in etwas hineinzwingen, wofür sie nicht geschaffen sind. Das gilt auch für die Ehe und für den Ordensstand oder für den Priesterstand. Wir müssen den Kindern die Freiheit lassen. Es darf nicht so sein, wie es mit dem unglücklichen französischen Bischof Talleyrand geschehen ist, der die Nacht vor seiner Priesterweihe weinend verbrachte, weil er ihr widerstrebte. Aber er war von seiner Familie dafür bestimmt und wurde in diesen Beruf hineingezwungen, in dem er in furchtbarer Weise gescheitert ist.

Das Vierte und Letzte schließlich, was Kinder ihren Eltern schulden, ist Dankbarkeit. Dankbarkeit ist die Geneigtheit, Wohltaten anzuerkennen und zu vergelten. Eltern tun ihren Kindern vieles Gute, und die Kinder sind gehalten, dieses Gute anzuerkennen. Sie sollen ihnen dankbar sein. Die Dankbarkeit drückt man aus in der Gesinnung, aber auch in Worten und in Taten. Die Gesinnung der Dankbarkeit muß immer im Menschen sein. Die Taten sind dann zu setzen, wenn sie notwendig werden. Dankbarkeit ist eine großartige Tugend, weil sie den Geber der Gaben tröstet und versöhnt mit all dem Ungemach, das ja auch mit seinen Wohltaten verbunden war. Dankbarkeit ist wohltuend für den, der diese Wohltaten gesetzt hat, und macht den Empfänger gleichzeitig geneigt, seine eigenen Grenzen anzuerkennen. Dankbarkeit versöhnt, Undankbarkeit verletzt, Undankbarkeit tut weh. Sie ist eine Sünde. Wenn sie aus Verachtung für den Wohltäter geschieht, dann ist es sogar eine schwere Sünde. Wenn es nur aus Nachlässigkeit geschieht, dann ist es eine läßliche Sünde. Aber Dankbarkeit ist eine der schönsten menschlichen Tugenden und sie gebührt vor allem den Kindern für ihre Eltern. Als ich Professor in Freising war, sagte einmal ein alter, erfahrener Lehrer: „Die Kinder wären schon recht, aber sie sollten keine Eltern haben!“ Ein furchtbares Wort, das ich nie vergessen habe. Was wollte er damit sagen: Die Kinder sind schon recht, aber sie sollten keine Eltern haben? Er meinte, daß nicht wenige Kinder Opfer ihrer Eltern sind, von ihnen verzogen werden, nicht richtig erzogen werden, sondern in falsche Bahnen gelenkt werden. Das ist leider Gottes wahr.

Aber das kann nicht hindern, meine lieben Freunde, daß in jedem Falle die Kinder ihren Eltern, auch denen, denen sie wenig zu verdanken haben, die genannten vier Tugenden beweisen, daß sie ihnen Liebe, Ehrfurcht, Gehorsam in allen erlaubten Dingen und Dankbarkeit für das, was sie von ihnen empfangen haben, erweisen. Wenn die Eltern einmal gestorben sind, dann denkt man an vieles zurück, was man ihnen hätte erweisen können und nicht erwiesen hat. Es wird wohl den meisten von uns so gehen, daß wir sagen: Ich bin meinen Eltern manches, vielleicht vieles, schuldig geblieben. Deswegen jetzt und hier, solange noch Zeit ist, ihnen diese Haltungen beweisen. „Ach, lieb', solang du lieben kannst! Ach, lieb', solang du lieben magst! Die Stunde kommt, die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst und klagst.“

Amen.

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