Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
8. Juli 1990

Das Meßopfer als Gedächtnis des Kreuzesopfers

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag hatten wir uns vorgenommen, über den Zusammenhang zwischen Kreuzesopfer und Meßopfer nachzudenken. Wir gehen dabei aus von den beiden Bezeichnungen, welche das Konzil von Trient für dieses Verhältnis geprägt hat.Das Konzil von Trient nennt das Meßopfer eine memoria und eine repraesentatio des Kreuzesopfers, eine Gedächtnis und eine Vergegenwärtigung, ein Bild des Kreuzesopfers.

Das eucharistische Opfer ist zunächst ein Gedächtnis des Abendmahlsgeschehens, denn so hat es ja der Herr angeordnet: „Tut das zu meinem Gedächtnis!“ – also das, was er beim letzten Abendmahl getan hat. Aber das Abendmahlsgeschehen war nur ein vorgezogenes Gedächtnis des Kreuzesopfers. Im Abendmahlssaal wurde das in geheimnisvollen Zeichen vorweggenommen, was wenige Stunden später eintreten sollte. Deswegen ist das eucharistische Opfer auch ein Gedächtnis des Kreuzesopfers. Die Brücke ist das Abendmahlsopfer des Herrn. Und dieses Gedächtnis ist eine Verheutigung, eine Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers, und darum ein Bild. Wir wollen also nacheinander die beiden Begriffe uns klarmachen: das Meßopfer als ein Gedächtnis des Kreuzesopfers, und das Meßopfer als ein Bild des Kreuzesopfers.

Das Meßopfer als ein Gedächtnis des Kreuzesopfers. Was ist ein Gedächtnis? Die menschlichen, die irdischen Ereignisse sind alle vergänglich. Sie kommen und gehen, sie sind nicht aufzuhalten, und auch, wenn sie längere Dauer haben, so sind sie doch nur ein Stillehalten im Wandel. Die Vergänglichkeit des Menschen und seines Geschickes ist seine Größe und sein Elend. Was vergangen ist, ist nicht mehr gegenwärtig. Es kann bloß im Gedächtnis aufbewahrt werden. Das Gedächtnis, also die menschliche Fähigkeit, sich zu erinnern, kann das Geschehen zurückrufen, indem man eben daran denkt. Wir gedenken unserer Verstorbenen; wir gedenken unseres vergangenen, verfehlten Lebens. Das Gedächtnis vermag also in einer gewissen subjektiven Hinsicht das aufzubewahren, was längst entschwunden ist. Neben dem subjektiven Gedächtnis gibt es ein objektives. Wir können uns an Ereignisse dadurch zu erinnern bemühen, daß wir Denkmäler aufstellen. Unseren gefallenen Kriegern wurden Kriegerdenkmäler aufgestellt, und an bestimmte Ereignisse oder Personen erinnern wir uns durch einen Gedenkstein oder eine Gedenktafel. Auf unseren Friedhöfen sind Denkmäler errichtet, damit wir derer, die vor uns mit dem Zeichen des Glaubens vorangegangen sind, gedenken und sie nicht vergessen. Das ist also ein objektives Gedächtnis.

Beides spielt im eucharistischen Opfersakrament eine Rolle. Wir gedenken des Leidens Christi, indem wir die Leidensgeschichte lesen oder hören, indem wir den Kreuzweg gehen. Das ist ein subjektives Gedächtnis. Wir gedenken des Leidens Christi, indem wir das Passionsspiel aufführen – das ist objektives Gedächtnis, oder indem wir ein Kreuz errichten oder im Zimmer aufhängen. Weit, weit darüber hinaus geht jenes Gedächtnis, das sich im eucharistischen Opfersakrament abspielt. Das ist ein wirklichkeitserfülltes Gedächtnis. Es nähert sich dem objektiven Gedächtnis an, geht jedoch weit darüber hinaus; was im eucharistischen Opfersakrament geschieht, das ist eine reale Darstellung des Todes Christi, das ist ein Gedächtnis singulärer Art.

Das Gedächtnis im eucharistischen Opfersakrament nennen die Kirchenväter „Nachahmung“. Es wird also im eucharistischen Opfersakrament nicht nur des Todes Christi gedacht, er wird auch nicht nur in Zeichen dargestellt, sondern der Tod Christi tritt in irgendeiner schwer zu erklärenden Weise in das eucharistische Opfersakrament ein. Man kann sagen: Im eucharistischen Opfersakrament vollzieht sich eine sakramentale Epiphanie von Golgotha. Ja, genau das ist es, eine sakramentale Epiphanie von Golgotha, ein unter Zeichen geschehendes, ein unter Zeichen sich vollziehendes objektives und lebendiges Gedächtnis des Geschehens am Kreuze. Nicht nur der Christus passus, Christus, der gelitten hat, sondern die passio Christi, das Leiden Christi, wird in irgendeiner Weise im eucharistischen Opfersakrament gegenwärtig. Also: Das eucharistische Opfer ist ein Gedächtnis. Aber es ist ein wirklichkeitserfülltes Gedächtnis, weil der, dessen gedacht wird, mit Leib und Seele, mit Fleisch und Blut, mit Gottheit und Menschheit zugegen ist. Und wie beim geschichtlichen Vorgang der Leib und das Blut des geschichtlichen Christus der Träger dieses Geschehens war, so ist im eucharistischen Opfersakrament der sakramentale Leib und das sakramentale Blut Christi der Träger dieser Gegenwart, der Träger dieses Gedächtnisses. Wir sind also nicht auf das bloße subjektive Erinnern verwiesen, sondern wir haben eine wirkliche Anwesenheit, ein In-Erscheinung-Treten des Todesopfers Christi auf Golgotha im eucharistischen Opfer.

Ähnlich ist es mit dem zweiten Begriff, der repraesentatio, dem Bild. Wenn wir von Bild sprechen, dürfen wir nicht den dürren und dürftigen Bildbegriff heranziehen, den wir heute haben. Eine Fotografie, eine Abbildung, ein Ölgemälde – damit ist viel zu wenig ausgesagt. Das Bild im Sinne des Sprachgebrauches der Kirche, der Kirchenväter, der theologischen Betrachtungsweise, ist ein sinnfälliges In-Erscheinung-Treten einer verborgenen Wirklichkeit. Im Bild ist der Abgebildete in irgendeiner Weise gegenwärtig. Das trifft von den Fotografien oder von den gezeichneten und gemalten Bildern nur in ganz abgeschwächtem Sinne zu. Aber von dem Bilde, das wir im eucharistischen Opfersakrament haben, trifft es im wirklichen Sinne zu. Das eucharistische Opfer ist eine wirklichkeitsmächtige Darstellung des Todes Christi. Der Tod Christi tritt im eucharistischen Opfersakrament gleichsam aus der Vergangenheit heraus in die Gegenwart. Das eucharistische Opfer verheutigt (repräsentiert) das Geschehen von Golgotha. Das Kreuz steht im Mittelpunkt der Heilsgeschichte. Von ihm gehen Strahlen aus, und diese Strahlen werden aufgefangen vom eucharistischen Opfersakrament. In diesem Sinne also ist das eucharistische Opfersakrament eine repraesentatio des Kreuzesopfers.

Der heilige Thomas von Aquin hat sich in besonderer Weise bemüht, von den sakramentalen Zeichen her das Verständnis für den Zusammenhang zwischen Kreuzesopfer und Meßopfer zu eröffnen. Sein Gedankengang ist etwa der folgende: Kraft des Sakramentes, der Worte „Das ist mein Leib, das ist mein Blut“, wird jedesmal nur der Leib und nur das Blut gegenwärtig. Kraft des natürlichen Zusammenhanges ist selbstverständlich das Blut im Leibe; aber kraft des Sakramentes, kraft der Worte des Sakramentes, werden Leib und Blut getrennt dargestellt. Diese Trennung deutet auf das Geschehen am Kreuze, denn da wurden Leib und Blut getrennt. Die Lanze, die der Soldat in die Seite Jesu stieß, öffnete die Seite, und aus ihr floß heraus, was noch im Leibe Christi war, Wasser und Blut. Ähnlich ist es im eucharistischen Opfersakrament. Da wird die Trennung der Gestalten dargestellt, und diese Trennung der Gestalten deutet nicht nur auf den Tod Christi, sondern stellt ihn in sakramentaler Weise dar. Es ist ja das Wesen der Sakramente, daß sie das wirken, was sie bezeichnen. Und was bezeichnet das eucharistische Opfersakrament? Nun, es bezeichnet durch die Trennung der Gestalten den Tod Christi. Wenn es ihn aber bezeichnet, muß es ihn auch in irgendeiner Weise wirken, zumindest indem das Geschehen am Kreuze in die eucharistische Opferfeier hineinwirkt. In irgendeiner Weise ist mithin nach Thomas von Aquin auch der Tod Christi in der eucharistischen Opferfeier gegenwärtig.

Gelehrte Theologen, die wir Mysterientheologen nennen, die Anhänger der Mysterientheorie sind, sind der Meinung, daß nicht nur der Leib und das Blut Christi in die Eucharistie hineinwirken, sondern daß sogar der Geschehenskern der Kreuzesopfers in der Eucharistie gegenwärtig werde, und zwar nicht nur der Tod, sondern auch die Auferstehung und die Himmelfahrt Christi. Denn einen toten Leib kann man nicht feiern, nur einen lebendigen, wie er eben aus der Grabesgruft hervorgestiegen ist zur glorreichen Auferstehung. Diese Mysterientheologen können sich auf viele Äußerungen von Kirchenvätern berufen. Es gibt auch Texte in unserer Liturgie, die diese Richtung der Auslegung begünstigen. Zum Beispiel beten wir am 9. Sonntag nach Pfingsten in der heiligen Messe: „Wir bitten dich, o Herr, laß uns immer würdig an diesen Geheimnissen teilnehmen, da ja das Werk unserer Erlösung vollzogen wird, sooft man das Gedächtnis dieses Opfers feiert.“ Was geschieht also bei der Gedächtnisfeier? Es wird das Werk unserer Erlösung vollzogen. Das kann vielleicht so gedeutet werden, daß der Tod Christi in irgendeiner Weise in die Gegenwart hineintritt und uns erlöst, heiligt und mit dem Heiligen Geiste erfüllt.

Jetzt begreifen wir, meine lieben Freunde, was es heißt, wenn wir mit Papst Leo XIII. sagen: „Das eucharistische Opfersakrament ist eine unblutige Erneuerung des Kreuzesopfers.“ Ja, genau das ist es. Das Kreuzesopfer tritt aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein, insofern der gekreuzigte und auferstandene Heiland wirklich, wahrhaft und wesentlich zugegen ist. Wir haben ihn auf dem Altare, und wir können ihn opfern. So wird das Meßopfer tatsächlich ein Opfer. So wird das Geschehen auf dem Altare eine Opferhandlung. Wir haben nämlich jetzt einen Opferpriester und eine Opfergabe, Christus. Er ist gegenwärtig, und wir brauchen uns seiner Opferhandlung nur anzuschließen, dann bringen wir unser Opfer dar.

Genau das ist der Sinn des Gebetes, das wir jeden Tag nach der heiligen Wandlung beten: „Daher sind wir denn eingedenk, Herr, wir, deine Diener, aber auch dein heiliges Volk, des heilbringenden Leidens, der Auferstehung von den Toten und der glorreichen Himmelfahrt deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus, und bringen so deiner erhabenen Majestät von deinen Geschenken und Gaben ein reines Opfer, ein heiliges Opfer, ein makelloses Opfer dar.“ Daher, heißt es, sind wir denn eingedenk. Wieso denn „daher“? Deswegen. weil der Herr so eben gesagt hat: Ihr sollt eingedenk sein, aber nicht bloß, indem ihr euch psychologisch an mich erinnert, sondern indem ihr diese Feier, die ich euch vorgemacht habe, nachahmt. Daher sind wir denn eingedenk. Also wir verkündigen den Tod des Herrn, aber nicht zuerst mit Worten, sondern durch das Geschehen. Das eucharistische Opfersakrament ist mehr als ein bloßes Ausrufen des Todes Christi, es ist ein Vollziehen, eine Verkündigung durch die Darstellung, durch das Tun. Und weil jetzt dieses Geschehen des heilbringenden Leidens, der Auferstehung und der glorreichen Himmelfahrt zugegen wird in den auf dem Altare liegenden Gestalten, deswegen können wir es auch opfern. Jetzt haben wir die Möglichkeit zu opfern, weil nämlich eine Opfergabe da ist. „So bringen wir deiner erhabenen Majestät von deinen Gaben und Geschenken ein reines, ein heiliges, ein makelloses Opfer dar, das heilige Brot des ewigen Lebens und den Kelch des immerwährenden Heiles.“

Das ist ein Versuch, meine lieben Freunde, zu erklären, was im Meßopfer geschieht. Es vollzieht sich im eucharistischen Opfer ein Gedächtnis des Kreuzesopfers, aber ein wirklichkeitserfülltes Gedächtnis, ein sakramentales In-Erscheinung-Treten des Kreuzesopfers. Wir haben im eucharistischen Opfer ein Bild, aber ein wirklichkeitsmächtiges Bild des Kreuzesgeschehens. Weil dieses Geschehen hier Gegenwart wird, haben wir die Möglichkeit, ein Opfer darzubringen, ein reines, ein heiliges, ein makelloses Opfer, ein Opfer, das alle Opfer überragt, das tausendmal wiederholt werden kann, obwohl das eine Opfer des Kreuzes einmal und für immer geschehen ist. Aber dieses abgeschlossene Opfer tritt eben unzählige Male in die Gegenwart herein, damit wir in die Opferbewegung Jesu eingehen und mit ihm zum Vater im Himmel kommen können. Auf diese Weise wird das Opfer Christi unser Opfer. Auf diese Weise wird das Geheimnis unserer Erlösung vollzogen.

Amen.

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