Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
2. November 1986

Die Armen Seelen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Als ich ein Knabe war, nahm mich die Großmutter bei der Hand und ging mit mir auf den großen Simultanfriedhof meiner Heimatstadt. Dann deutete sie auf einen Grabstein und sagte: „Siehst du, da liegt ein Katholik begraben.“ „Ja,“ sagte ich, „Großmutter, wieso weißt du, daß das ein Katholik war?“ „Ja, das sieht man an den drei Buchstaben R.I.P. Requiescat in pace. Nur Katholiken schreiben auf ihre Grabsteine, er möge ruhen in Frieden.“

Tatsächlich besteht zwischen dem Totengedenken der Protestanten und dem Allerseelentag der Katholiken eine tiefe Kluft. An die Toten gedenken können auch Nichtkatholiken, aber für die Toten beten können nur Katholiken. Denn nur Katholiken sind überzeugt, daß man mit dem Gebet den Verstorbenen zu Hilfe kommen kann. Und sie sind dieser Überzeugung, weil sie den Glauben an den Reinigungszustand, an das Fegefeuer, haben. Wir wollen den heutigen Allerseelentag benutzen, um drei Fragen über den Reinigungszustand zu stellen, nämlich

1. Worin besteht er?

2. Gibt es einen solchen Reinigungszustand?

3. Wie können wir den dort Befindlichen zu Hilfe kommen?

Die erste Frage lautet: Worin besteht der Reinigungszustand? Im Reinigungszustand, im Fegefeuer, sind diejenigen Gläubigen, die noch zeitliche Sündenstrafen abzubüßen haben. Die Sünde fordert nach Gottes Gerechtigkeit Strafe, die schwere Sünde schwere Strafe, die leichte Sünde leichte, läßliche, zeitliche Strafe. Zwar werden bei der Sündenvergebung im Bußsakrament alle Sünden vergeben, ohne Ausnahme. Wenn überhaupt Sündenvergebung erfolgt, dann werden alle vergeben. Ebenso wird die ewige Strafe, die wir verdient haben, erlassen. Aber nicht immer werden alle zeitlichen Sündenstrafen nachgelassen, und die müssen entweder auf Erden oder im Jenseits abgebüßt werden.

Die Armen Seelen, wie wir sie nennen, die abgeschiedenen Verstorbenen, könnte man auch als reiche Seelen bezeichnen. Arm sind sie, weil sie die Anschauung Gottes noch nicht haben und Schmerzen leiden. Es ist klar: Wenn man Sehnsucht nach Gott hat, und die Armen Seelen haben nichts mehr, womit sie sich über ihre Sehnsucht hinwegtrösten können wie auf Erden, wo man sich mit den Schätzen der Erde blenden lassen kann, also wenn man Sehnsucht hat nach Gott, große Sehnsucht, und die Sehnsucht wird nicht erfüllt, so ist das ein starker Schmerz. Deswegen nennen wir zu Recht die im Fegefeuer befindlichen Seelen „arme“ Seelen, denn sie darben noch der Freude des Himmels, der Anschauung Gottes, und sie leiden Schmerzen. Aber sie sind gleichzeitig reiche Seelen, weil sie gerettet sind. Wer im Fegefeuer ist, ist gerettet! Die Armen Seelen sind also reich an Freude, nämlich daß sie es geschafft haben, daß sie die gewisse Aussicht haben, in den Himmel zu kommen, wenn ihre Läuterung vollendet ist. Die Armen Seelen sind darum sicher auch von einem tiefen Glück erfüllt, von einem Glück, daß sie den Sieg über die Welt und den Tod und den Teufel errungen haben.

Die Kirche lehrt uns nun für die Verstorbenen beten: „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen!“ Was ist mit der Ruhe gemeint? Die Ruhe ist der Gegensatz von den Schmerzen, welche die Armen Seelen leiden. Wenn man Ruhe hat, dann sind die Schmerzen verschwunden. Die hier angesprochene Ruhe ist der Zustand des Friedens und des Glücks in der Gegenwart Gottes. Deswegen: „Gib ihnen die ewige Ruhe!“ Das bedeutet soviel wie „Erlöse sie von den Schmerzen!“ „Und das ewige Licht leuchte ihnen!“ Nun, das Licht, von dem hier die Rede ist, ist die Anschauung Gottes. Gott ist Licht, und wer ihn sehen darf, der ist im Lichte, in einem Lichte, das niemals erlischt. Jetzt verstehen wir, was die Kirche sagt, wenn sie uns beten lehrt: „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen! Laß sie ruhen in Frieden!“

Gibt es ein solches Fegefeuer? In einigen Büchern der Heiligen Schrift finden sich Andeutungen. Wenn der Heiland sagt: „Wer gegen den Heiligen Geist lästert, dem wird diese Sünde weder in dieser noch in jener Welt vergeben werden,“ dann scheint das ein Hinweis zu sein, daß eben auch in jener Welt noch eine Nachlassung von Sündenfolgen und Sündenresten, wie es die Strafen ja sind, erfolgt. Oder wenn der Heiland sagt von einem Sünder, er wird nicht herauskommen aus dem Kerker, bis er den letzten Heller bezahlt hat, dann deutet das die Kirche auf den Reinigungszustand, wo durch Leiden Genugtuung geleistet werden muß. Außerdem spricht der Apostel Paulus einmal von der Rettung wie durch Feuer, was von dem läuternden Reinigungszustand verstanden werden kann. Außerdem hat die Kirche nicht nur die Glaubensquelle, die Offenbarungsquelle der Schrift, sie hat auch die Tradition. Und die Tradition bezeugt, daß in der Kirche immer für die Verstorbenen gebetet worden ist. Wir haben ein ergreifendes Zeugnis von der Mutter des heiligen Augustinus, Monika. Als sie auf dem Sterbebett lag, sagte sie: „Wo ihr mich begrabt, ist völlig gleichgültig, aber nur: Gedenket meiner am Altar!“ Also sie wünschte das Gebet für ihre Seele.

Im Alten Bunde schon finden sich Andeutungen für den Reinigungszustand; denn warum hätte Judas Makkabäus große Mengen Silbers nach Jerusalem schaffen lassen, damit dort Opfer dargebracht würden, wenn es sinnlos gewesen wäre? Opfer für die Verstorbenen, und zwar für die Gefallenen, bei denen im Tode Götzenbilder gefunden worden waren, die also zwar den Tod für Israel erlitten hatten, bei denen aber die Befürchtung bestand, daß sie noch nicht frei von aller Schuld seien, hatten doch nur einen Sinn, wenn ihnen dadurch geholfen werden konnte. So gibt es also schon im 2. Buch der Makkabäer einen Hinweisauf den jenseitigen Läuterungszustand.

Seine Notwendigkeit läßt sich auch durch eine Vernunftüberlegung einsichtig machen. Viele Menschen sind nicht rein genug, um in den Himmel einzugehen, aber sie sind auch nicht so verdorben, daß sie die Verdammnis erfahren müßten. Also müssen sie noch eine Zeit schmerzlicher Läuterung über sich ergehen lassen. Es scheint, daß auch in den Sagen der Völker eine Ahnung von dem Läuterungszustand vorhanden ist. Ich denke etwa an die Gestalt des Prometheus in der griechischen Sage. Prometheus ist nach der Sage der Mann, der den Göttern das Feuer gestohlen und es auf die Erde gebracht hat. Er wurde deswegen im Kaukasus an einen Felsen angekettet, und dann kam ein Adler und fraß ihm täglich die Leber ab, die nachts nachwuchs, schmerzhaft gequält, bis ihn endlich Herakles befreite.

Das alles scheint dahin zu konvergieren, daß wir in der Kirche sagen müssen: Es gibt einen Läuterungszustand, in dem diejenigen, die beim Tode noch nicht Vollendete sind, rein gebrannt werden, damit sie Gott zu schauen voll befähigt werden.

Dieser Läuterungszustand ist schmerzlich, und da erhebt sich die Frage: Ja, kann man denn den in diesem Zustand Befindlichen nicht zu Hilfe kommen? Doch, man kann es! Die Armen Seelen können für sich selbst nichts mehr tun, sie können nur noch leiden. Sie können nicht mehr genugtun, sie können keine Verdienste mehr sammeln, sie können nur noch genugleiden. Aber es ist möglich, daß ihnen von außen Hilfe kommt. „Es ist ein heiliger und heilsamer Gedanke, für die Verstorbenen zu beten, daß sie von ihren Sünden erlöst werden,“ haben wir soeben in einer der Lesungen dieses Tages gehört. Wir können also den Verstorbenen durch Gebet zu Hilfe kommen, etwa indem wir das schöne, wunderbare Gebet immer wieder sprechen: „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen! Herr, laß sie ruhen in Frieden!“

Das wirksamste Mittel, den Verstorbenen zu Hilfe zu kommen, ist die heilige Messe. In jeder heiligen Messe wird sowieso schon für die Verstorbenen gebetet, und um so wirksamer ist das Meßopfer, wenn es für die Verstorbenen in besonderer Intention, in besonderer Meinung dargebracht wird.

Wir können für die Verstorbenen Ablässe gewinnen und sie ihnen fürbittweise zuwenden. Über die Verstorbenen hat die Kirche keine Gewalt, sie kann deswegen die Ablässe nicht in hoheitlicher Zusprechung ihnen zuteilen, aber sie kann sie ihnen fürbittweise zuwenden. Und das sollten wir tun. Wir sollten den Allerseelenablaß gewinnen, heute bis um 12 Uhr nachts auf dem Friedhof oder in der Kirche durch Gebet nach der Meinung des Heiligen Vaters. Im Buche Job heißt es: „Erbarmt euch meiner, wenigstens ihr, meine Freunde, denn die Hand des Herrn hat mich getroffen!“ Ja, das ist der Ruf, der heute aus dem Läuterungszustand an uns ergeht: „Erbarmet euch unser, ihr, meine Freunde, denn die Hand des Herrn hat uns getroffen!“

Wir wollen diesen Ruf hören. Wir wollen für die Armen Seelen beten, und wir wollen sie auch anrufen um ihr Gebet, denn das vermögen sie: Sie können für uns beten, und sie werden für uns beten; denn ihre Liebe zu uns ist in fortwährendem Wachstum begriffen. So geschieht ein wunderbarer Austausch in der Gemeinschaft der Heiligen. Engel tragen unsere Gebete empor zu Gott für die im Reinigungszustand auf den Eingang in den Himmel Harrenden, und Engel tragen die Gebete der im Läuterungszustand Befindlichen vor Gottes Angesicht, damit uns Hilfe werde, damit wir wie sie uns einmal in Ewigkeit im Lichte Gottes freuen können.

Amen.

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