8. März 1998
Die Pflicht des Glaubens
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
An den vergangenen Sonntagen hatten wir uns die Pflichten vor Augen geführt, die der Mensch gegen sich selbst hat. Es gibt eine Pflicht der Selbstliebe. Und diese Pflicht der Selbstliebe wird in verschiedene Einzelpflichten auseinandergefaltet. Viele Gläubige, die ein gediegenes Gebetsleben entfalten, bekennen im Bußsakrament ihre Sünden nach der dreifachen Anordnung: Pflichten gegen sich selbst, Pflichten gegen Gott, Pflichten gegen den Nächsten. Und so beginnen wir heute damit, die zweite Gruppe dieser Pflichten zu betrachten, nämlich die Pflichten gegen Gott.
Die erste und grundlegende Pflicht gegen Gott ist der Glaube. Der Glaube ist nach dem Ersten Vatikanischen Konzil eine übernatürliche Tugend, kraft der wir durch Gottes Anregung und mit Hilfe der Gnade alles für wahr halten, was Gott geoffenbart hat und was mit dem natürlichen Lichte der Vernunft nicht erkannt werden kann. Alles, was Gott geoffenbart hat und was die Kirche uns zu glauben vorlegt, das muß geglaubt werden. Alles, was im geschriebenen Wort Gottes oder in der Tradition enthalten ist, das ist Gegenstand des Glaubens. Träger des Glaubens, Subjekt des Glaubens ist der Verstand; denn es geht ja beim Glauben um Erkenntnis, und das Organ, das der Erkenntnis zugeordnet ist, ist der menschliche Verstand.
Freilich genügt der Verstand allein nicht. Die Zustimmung zum Glauben ist, wie der heilige Thomas sagt, ein assensus imperatus, also eine gebotene Zustimmung. Wer gebietet denn dem Verstande die Zustimmung? Der Wille. Und warum muß der Wille dem Verstand die Zustimmung gebieten? Weil der Verstand die geoffenbarten Wahrheiten nicht einsieht. Er sieht sie nicht so ein, wie man die irdischen Dinge einsehen kann. Das irdische Wissen und die irdische Wissenschaft sind subjektiv evidenter, also einsichtiger als die Glaubenswahrheiten. Beim Glauben bleibt dem Menschen eine Wahl: Er kann glauben, aber er muß nicht glauben. Wenn er nicht will, dann ist ihm der Glaube nicht zur Hand.
Der Gegenstand des Glaubens ist Gott, und zwar insofern er das natürliche Licht des Verstandes übersteigt. Was wir mit dem natürlichen Licht des Verstandes erkennen können, das brauchen wir nicht zu glauben. Wir können erkennen, daß die Schöpfung einen Schöpfer braucht. Wir können erkennen, daß die Ordnung einen Ordner braucht. Das sind keine Wahrheiten, die man aus dem Glauben schöpfen muß; sie sind uns durch das natürliche Licht des Verstandes zugänglich. Aber was darüber hinausliegt, was eben dem Verstand nicht offenkundig ist, das muß geglaubt werden.
Das Erkenntnismittel des Glaubens ist wiederum Gott, und zwar insofern er sich offenbart als die absolute Wahrheit und Allwissenheit. Wir glauben, weil Gott sich geoffenbart hat. Wir glauben dem sich offenbarenden Gott. Deswegen sind beim Akt des Glaubens drei Beziehungen oder Richtungen zu unterscheiden. Der Glaubensakt ist einer, aber man kann in diesem Glaubensakt drei verschiedene Beziehungen unterscheiden, nämlich erstens: Wir glauben, daß Gott existiert. Die Lateiner nennen das „credere deum“; wir glauben an die Existenz Gottes. Zweitens: Wir glauben Gott seine Offenbarung; wir glauben dem sich offenbarenden Gott, was er uns mitteilt. Dazu sagen die Lateiner „credere deo“. Und drittens: Wir glauben an Gott, d.h. wir bauen unsere Zuversicht auf ihn, wir geben uns ihm in Hingabe hin und wenden uns ihm in gläubiger Liebe und in liebendem Glauben zu. Das geben die Lateiner wieder mit den Worten „credere in deum“. Noch einmal: Diese drei Seiten sind ein einzelner und einziger Akt, aber man kann an ihm verschiedene Seiten unterscheiden, so, wie man ein Haus von verschiedenen Seiten betrachtet. Es ist ein und dasselbe Haus, aber die Sichtweise ist jeweils verschieden, ob wir es von vorn, von hinten oder von oben betrachten.
Zwischen Glauben und Wissen besteht ein Unterschied. Das Wissen ist uns zugänglich durch den Verstand. Das Glauben wird uns ermöglicht durch die Offenbarung Gottes. Der Glaube ist aber kein blinder Glaube. Wir müssen „glauben“ nicht so verstehen, wie man es in der Alltagssprache gebraucht. In der Alltagssprache wird „glauben“ für „meinen“ verwendet, aber der Glaube, der religiöse Glaube, hat mit „meinen“ nichts zu tun. Im Sprachgebrauch des Alltags sagt man: „Ich glaube“ in dem Sinne von „Ich mutmaße, ich meine“. Aber das ist keine gläubige Weise, vom religiösen Glauben zu sprechen. Der religiöse Glaube ist nämlich gewiß. Er ist nicht eine Mutmaßung, sondern er hat eine Gewißheit, und diese Gewißheit stammt von Gott, und diese Gewißheit kann überhaupt nicht größer sein, weil der Grund dieser Gewißheit Gott ist, der nicht täuschen kann und der nicht getäuscht werden kann.
Der Glaube ist auch nicht irrational, daß man aus irgendwelchen Lebenskräften, aus irgendwelchen Lebensgefühlen zum Glauben kommt. Nein, der Glaube hat praeambula, er hat Voraussetzungen, vernünftige Voraussetzungen, Voraussetzungen, die mit dem Verstand erkennbar sind. Wir glauben, weil wir uns überzeugt haben, daß wir glauben dürfen. Wir glauben, weil wir sicher sind, daß wir glauben müssen. Die vernünftigen Überlegungen, die wir anstellen, zeigen uns: Gott hat sich geoffenbart, also müssen wir seiner Offenbarung trauen und sie annehmen. Der heilige Thomas von Aquin war der erste, der diese christliche Apologetik entwickelt hat. Die Glaubenswahrheiten sind verborgen, sagt er, und sie müssen uns deswegen geoffenbart werden. Aber daß wir sie annehmen dürfen, das erkennen wir mit unserem natürlichen Verstandeslichte. Der natürliche Verstand erklärt uns und befiehlt uns, die Vernünftigkeit des Glaubens anzuerkennen.
Es gibt viele falsche Auffassungen über den Glauben. Luther hat den Glauben als ein Ergreifen der Verdienste Christi bezeichnet, als ein irrationales Fürwahrhalten. Von ihm stammt die Lehre vom Fiduzialglauben. Das heißt, daß man sich der göttlichen Gnade gewiß sei. Aber diese Erklärungen des Glaubens gehen in die Irre. Wir sind uns nämlich nur deswegen gewiß, weil wir Glauben haben. Der Glaube fällt nicht mit der Gewißheit zusammen, sondern der Glaube ist der Grund der Gewißheit; er ist die Ursache der Gewißheit. Noch weiter verirrte sich ein Mann wie Schleiermacher, der den Glauben ins Gemüt verlegte. Der Glaube ist nach ihm das Gefühl – das Gefühl! – der schlechthinnigen Abhängigkeit. Nein, der Glaube ist kein Gefühl. Der Glaube ist eine Sache des Verstandes. Auch die Modernisten aus dem katholischen Lager wollen den Glauben als ein Erleben des Göttlichen, als ein Bedürfnis nach dem Göttlichen, das aus dem Unterbewußtsein aufsteigt, erklären. Diese antiintellektualistische Verirrung hat schon der heilige Papst Pius X. zurückgewiesen.
Wir müssen glauben, aber das Glauben allein genügt nicht. Der Glaube muß, wie der Apostel Paulus sagt, durch die Liebe informiert sein. Der Glaube muß seine Form empfangen durch die Liebe, d.h. er muß auf die Gottesliebe bezogen sein; er muß durch die Liebe auf Gott hin gerichtet sein. Denn der Apostel Jakobus schreibt: „Daß Gott existiert, das glauben auch die Dämonen.“ Aber das reicht eben nicht, um sie aus ihrer Verdammnis zu befreien. Da sie keine Liebe haben, deswegen nützt ihnen der Glaube nichts. Der Glaube muß lebendig sein, und er wird lebendig, wenn er durch die Liebe informiert wird. Wir sprechen deswegen von einer fides formata, von einer formierten, durch den Glauben gestalteten, durchwirkten Gläubigkeit. Der Glaube, dem die Liebe fehlt, ist eine fides informis, ein ungeformter Glaube. Dem fehlt etwas; dem fehlt die letzte Hinrichtung auf Gott. Der Glaube bleibt Glaube auch ohne Liebe, aber er ist dann kein Heilsglaube mehr. Er reicht nicht hin, um durch den Glauben das Heil zu finden.
Der Glaube ist auch eine Tugend, d.h. eine Fertigkeit im Guten. Wir unterscheiden theologische Tugenden und nichttheologische Tugenden. Die drei theologischen Tugenden sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Liebe ist das Größte, gewiß, weil sie eben unmittelbar mit Gott verbindet, aber die Liebe ist nur möglich, wo Glaube ist. Der Glaube ist das Fundament der Liebe. Ich kann Gott nicht lieben, wenn ich ihn nicht durch den Glauben erkannt habe. Ich kann auch auf Gott nicht hoffen, wenn ich ihn nicht im Glauben als den Gegenstand der Beseligung, als den Herrn der Beseligung erkannt habe. Also: Der Glaube ist das Fundament. Auf ihm erhebt sich das Tugendgebäude, vor allem Hoffnung und Liebe und die anderen Tugenden.
Der Glaube ist auch verdienstlich. Wir können, wenn wir im Gnadenstande sind und Glaubensakte setzen, uns Verdienste für den Himmel erwerben. Die Verdienstlehre ist ein genuiner Zweig am Baume des katholischen Glaubens, und es ist verdienstlich, den Glauben zu erwecken, den Glauben zu fördern, den Glauben zu bezeugen und zu bekennen.
Der Glaube ist notwendig. Im Hebräerbrief steht der fundamentale Satz: „Wer zu Gott kommen will, muß glauben, daß er ist und daß er denen, die ihn suchen, Vergelter wird.“ Der Glaube ist Wurzel und Grundlage der Rechtfertigung. Die Rechtfertigung besagt Versetzung aus dem Unheilsstande in den Gnadenstand. Der Rechtfertigungsstand wird nur erlangt im Glauben. Er ist die Grundlage und Wurzel der Rechtfertigung.
Der Glaube ist auch eine Ergänzung und eine Vervollkommnung der natürlichen Erkenntnis von Gott. Ich sagte vorhin schon: Wir können Gott auch ohne übernatürlichen Glauben erkennen, mit dem Lichte des Verstandes. Aber diese Erkenntnis bleibt unsicher, bleibt schwach, bleibt getrübt. Sie wird ergänzt und vervollkommnet durch die Offenbarung Gottes. Der Glaube ist eine Stütze und eine Ergänzung der natürlichen Gotteserkenntnis.
Der Glaube bringt uns auch in Verbindung mit Gott. Wir gewinnen gleichsam Anteil an Gott, wenn wir ihn erkennen im Glauben. Er führt uns zu Gott hin und ist insofern der Anfang des ewigen Lebens. Ja, genau das ist er. Was wir hier glauben, das werden wir einst schauen. Was uns hier manchmal unsicher erscheint und getrübt, das wird uns in vollem Lichte im Himmel offenbar werden. Der Glaube ist der Anfang des ewigen Lebens in uns.
Der Glaube ist auch eine Richtschnur für unser Leben hienieden. Im Glauben wissen wir, was wir zu tun haben, um den Himmel zu gewinnen. Da kann man nicht sagen: Es ist egal, was einer glaubt, wenn er nur ein anständiger Mensch ist. Ja, meine lieben Freunde, das weiß man ja erst aus dem Glauben, was ein anständiger Mensch ist. Ohne Glauben weiß man gar nicht, was anständig ist. Im August 1943 hielt der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, vor hohen SS-Offizieren einen Vortrag in Posen. Bei dieser Gelegenheit sagte er: „Ihr werdet wissen, was es bedeutet, wenn da tausend, zehntausend Judenweiber tot in einem Graben liegen, und dabei anständig geblieben zu sein, das ist unser Ruhm.“ Nach Himmler konnte man also anständig sein, auch wenn man Tausende von jüdischen Frauen umbrachte. Da sieht man, wohin man kommt, wenn man die Anständigkeit nicht mehr aus dem Glauben ableitet. Der Glaube sagt uns, was Rechtschaffenheit, was Anständigkeit, was Tugend ist. Auch die vielen Abtreiber halten sich für anständig, weil sie den Glauben nicht annehmen, der sagt, daß das ungeborene menschliche Leben heilig und unverletzlich ist.
Der Glaubensgegenstand ist natürlich unveränderlich – Gott. Auch das Erkenntnismittel, Gott, der sich offenbart, ist unveränderlich. Aber der Glaube in uns kann schwächer oder stärker werden. Wir haben es in der Hand, ob wir ihn festigen oder ob wir ihn schwächen. Es muß unser Ziel sein, den Glauben zu festigen. Wir müssen deswegen den Glauben erwecken, d.h. Akte der Zustimmung zum Glauben setzen, Glaubenserkenntnis sammeln, uns im Glauben fortbilden. Denn der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet, und wenn der Glaube nicht fest ist, können wir auch die Welt nicht überwinden, also die Augenlust, die Fleischeslust, die Hoffart des Lebens. Der Glaube, nur der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet.
Der sicherste Weg zu einem festen Glauben ist ein Leben aus dem Glauben. Wer gläubig die Offenbarung annimmt, wer sich bemüht, ihr mit aller Kraft nachzuleben, der wird auch im Glauben immer mehr gefestigt werden. Und wenn er im Glauben gefestigt ist, dann kann er gute Werke wirken in reichem Maße, dann kann er Tugenden ausbilden, dann kann er ein Zeuge sein auf dieser Welt für unseren Herrn und Heiland Jesus Christus. Das ist der Sieg, der die Welt überwindet, unser Glaube!
Amen.