Predigtreihe: Rechtfertigung aus Gnade (Teil 8)
30. April 2000
Die Gnade der Rechtfertigung
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die protestantische Lehre von der Rechtfertigung sagt: Die Rechtfertigung besteht allein in der Sündenvergebung. Sie besteht nicht in der inneren Erneuerung und Heiligung. Dagegen hat das Konzil von Trient die katholische Lehre dahin formuliert: Sündenvergebung und Heiligung sind zwei Seiten ein und desselben Vorganges. Wem die Sünden vergeben werden, der wird innerlich geheiligt. Es gibt keine Heiligung ohne Sündenvergebung, weil die Sündhaftigkeit ja in der Unheiligkeit besteht, und es gibt keine Sündenvergebung ohne Heiligung, weil die Wegnahme der Sündhaftigkeit die Wegnahme der Unheiligkeit ist. Gegenüber der protestantischen Zurechnungslehre, daß die Heiligkeit Christi dem Menschen bloß äußerlich zugerechnet wird, ihm nicht innerlich anhaftet, sondern nur äußerlich gewissermaßen angeklebt wird, hat das Konzil von Trient die eindeutige Lehrentscheidung gefällt: „Wer behauptet, die Menschen würden gerechtfertigt durch die bloße Anrechnung der Gerechtigkeit Christi oder durch die bloße Nachlassung der Sünden unter Ausschluß der Gnade und Liebe, die in ihren Herzen durch den Heiligen Geist ausgegossen wird und ihnen innerlich anhaftet, oder wer sogar sagt, die Gnade, durch die wir gerechtfertigt werden, sei nur die Gunst Gottes, der sei ausgeschlossen.“
Was die Kirche in dieser Lehrentscheidung bekennt, das sagt sie jedesmal aus, wenn ein Kind oder auch ein Erwachsener neu getauft wird. Die Taufe, die Symbolik der Taufe besagt beides, Sündenvergebung und Heiligung. Wenn der Priester über dem Täufling die Hand ausbreitet, dann deutet er damit an, daß der Täufling für Christus in Besitz genommen wird. Wenn der Täufling mit Chrisam gesalbt wird, dann wird damit angedeutet, daß er Christus ähnlich gemacht wird, denn Christus ist der Gesalbte. Und wenn schließlich dem Täufling das weiße Kleid überreicht wird, dann wird damit die Unschuld angedeutet, die jetzt in seiner Seele lebt, die Unschuld, die durch die Nachlassung der Sünden, durch die Eingießung des Heiligen Geistes, durch die Heiligung bewirkt wird.
Was die Kirche lehrt, ist nichts anderes als der Nachhall dessen, was die Apostel verkündet haben. Vor allem der Apostel Johannes und der Apostel Paulus lehren eindeutig die Zusammengehörigkeit von Sündenvergebung und Heiligung. In seinem Prolog zum Evangelium schreibt der heilige Johannes: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.“ Es braucht also einer Ermächtigung, damit man ein Kind Gottes wird. Und wie wird man ein Kind Gottes? „Allen, die nicht aus dem Geblüte, noch aus dem Wollen des Fleisches, noch aus dem Wollen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.“ Hier haben wir sie, die Lehre von der Wiedergeburt. Johannes ist der Herold der Lehre von der Wiedergeburt des gerechtfertigten Menschen. Der Mensch, der zu Christus kommt, wird wiedergeboren, erlebt eine neue Geburt.
Doch ist das nicht ganz leicht zu verstehen, wie wir aus der Unterhaltung erfahren, die Jesus mit Nikodemus führt. In der Nacht ist Nikodemus zu ihm gekommen, und der Heiland sagt ihm: „Ich sage dir: Wenn jemand nicht wiedergeboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Das ist eine Rede, die Nikodemus unverständlich ist. Eine Geburt kann er sich nur vorstellen als den Hervorgang aus dem Leibe der Mutter; anders kann er sich eine Geburt nicht denken. Und wie soll das geschehen, sagt er, wenn jemand alt ist? Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt geworden ist? Kann er denn in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und wiedergeboren werden? Da zeigt sich das ganze Mißverständnis des Nikodemus, und Jesus klärt ihn auf, daß die Geburt, die er meint, eine Geburt in anderen Formen ist als die, welche in Fleisch und Blut vor sich geht: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht wiedergeboren wird aus dem Wasser und dem Geiste, so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen.“ Also die Wiedergeburt, die dem Gerechtfertigten zuteil wird, ist eine Wiedergeburt aus Wasser und Geist. Damit ist natürlich auf die Taufe angespielt. In der Taufe erfolgt eine reale Wiedergeburt, genau so real wie die aus dem Schoß der Mutter, nur eben auf einer anderen Ebene. Hier wird das vergängliche Leben geboren und da das unvergängliche, hier das irdische und da das himmlische. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aus dem Geiste geboren wird, das ist Geist. „Wundere dich nicht darüber, daß ich dir gesagt habe: Ihr müßt wiedergeboren werden. Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Brausen.“ Der Wiedergeborene empfängt den Christusgeist. Er wird mit Christus vereinigt und von Christus in Besitz genommen; er lebt durch Christus. „Wie mich der lebendige Vater gesandt hat, und wie ich durch den Vater lebe, so wird auch der, welcher mich ißt, durch mich leben.“
Christus ist das Leben des Gerechtfertigten; er ist ein neuer Mensch geworden. Das sagt Johannes nicht unmittelbar aus, aber es wird ausgesprochen von Paulus. Paulus beschreibt den Vorgang der Rechtfertigung als Neuheit, als Neu-Werden, als Neuschöpfung. Das Alte ist vergangen, und das Neue ist geworden. Das Alte ist gestorben, und das Neue wird geboren. Im 2. Brief an die Korinther spricht er es deutlich aus, nämlich: „Wer in Christus ist, ist ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen, siehe, etwas Neues ist geworden.“ Der Mensch, der durch Christus in der Taufe gerechtfertigt wird, ist so neu wie eine neue Schöpfung. Er ist deswegen neu, weil Christus von ihm Besitz ergriffen hat.
Der neue Mensch wird von Paulus im Epheserbrief folgendermaßen beschrieben: „Ablegen sollt ihr den alten Menschen mit seinem früheren Wandel. Erneuert euch vielmehr in eurer ganzen Gesinnung und zieht an den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ Das ist das Kennzeichen des neuen Menschen: Er ist gerecht und heilig. Er ist neu geschaffen in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. „Solche Menschen seid ihr jetzt. Ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerechtfertigt im Namen unseres Herrn Jesus Christus und im Geiste unseres Gottes.“
Der gerechtfertigte Mensch ist der, dessen alter Mensch in der Taufe gestorben ist und dessen neuer Mensch in der Taufe hervorgekommen ist. Er gewinnt Anteil an Tod und Auferstehung Christi. Die Anteilnahme im Tode macht sich dadurch bemerkbar, daß die alte, irdische, vergängliche, böse Existenzweise untergeht; die Anteilnahme an der Auferstehung Christi zeigt sich dadurch, daß der Mensch eine neue Existenzweise gewinnt, nämlich in Gerechtigkeit und Heiligkeit, eine Existenzweise, die unvergänglich ist und die darin besteht – das sagt Paulus ebenfalls –, daß der Gerechtfertigte „Christus angezogen hat“. „Ihr seid alle Kinder Gottes durch den Glauben an Christus Jesus. Ihr alle, die auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen.“ Er versucht also aufs neue, mit einem Bilde darzustellen, was an dem Getauften und Gerechtfertigten geschehen ist. Er ist Christus ähnlich geworden, er hat ihn angezogen wie ein Gewand. Er weiß selber, daß das ein unzureichendes Bild ist, aber wie soll er sich ausdrücken, um das Unsagbare aussagen zu können? „Ihr habt Christus angezogen“, d. h. ihr seid christusförmig geworden, ihr seid Christus ähnlich geworden, und weil Christus dem Vater im Himmel ähnlich ist, seid ihr auch dem Vater im Himmel ähnlich geworden. Ihr seid aus der irdischen Existenz in die himmlische Existenz übergeführt worden. Ihr seid neue Menschen geworden. „Ziehet den alten Menschen aus mit seinen Werken, ziehet den neuen Menschen an, der neu geschaffen wird zur Erkenntnis nach dem Bilde dessen, der ihn erschaffen hat.“ Das heißt: Die Gerechtfertigten tragen die Züge Jesu an sich. Wenn man den Tiefenblick hätte, wie ihn Gott besitzt, dann würde man in den Gerechtfertigten die Züge Jesu erkennen, dann würde man erkennen, daß sie nach dem Bilde Jesu neu geschaffen sind.
Auch Paulus gebraucht das Bild von der Wiedergeburt im Brief an Titus. „Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Heilandes, erschien, hat er, nicht aufgrund von Werken der Gerechtigkeit, die wir getan, sondern nach seinem Erbarmen uns gerettet durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geiste.“ Durch das Bad der Wiedergeburt hat er uns neu geschaffen.
Um schließlich noch einen dritten Apostel anzuführen: Auch der Apostel Petrus spricht von der Wiedergeburt. In seinem ersten Brief schreibt er: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zur lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten zu einem unvergänglichen, unbefleckten, unverwelklichen Erbe, das uns im Himmel aufbewahrt ist.“ Diese Wiedergeburt hat also eine Verheißung, und zwar eine untrügliche Verheißung, nämlich, daß diejenigen, die wiedergeboren sind, am Leben Gottes in der Herrlichkeit des Himmels teilhaben werden. Das ist das unvergängliche, unbefleckte, unverwelkliche Erbe. Ja, sie sind durch die Wiedergeburt göttlicher Natur teilhaftig geworden. Das ist der gewaltigste und in gewissem Sinne ergreifendste Ausdruck, den Petrus in seinem zweiten Brief gebraucht, daß die Wiedergeborenen göttlicher Natur teilhaftig geworden sind. „Dadurch hat er uns die kostbarsten und größten Verheißungen geschenkt, damit ihr durch sie der göttlichen Natur teilhaftig werdet.“ Damit ihr durch sie der göttlichen Natur teilhaftig werdet! Und in der Auslegung dieser Stelle sprechen die griechischen Kirchenväter häufig davon, daß der Mensch, der gerechtfertigt ist, vergottet wird. Weil er der göttlichen Natur teilhaftig wird, weil er teilnimmt an der Unvergänglichkeitsgestalt des Christus, deswegen wird er gleichsam vergottet. Und als solche sind dann die Gerechtfertigten, um nochmals zum ersten Petrusbrief zurückzukehren, „ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliger Stamm, ein Gott zugeeignetes Volk“. Höher kann man die Gerechtfertigten ja doch wohl nicht preisen, als indem man sagt: Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliger Stamm, ein Gott zugeeignetes Volk.
Um völlige Gewißheit zu verschaffen, wie die Rechtfertigung zu verstehen ist, hat das Konzil von Trient seit der 3. amtlichen Fassung des Rechtfertigungsdekrets vom Jahre 1546 sich der aristotelischen Ursachenlehre bedient. Durch diese Ursachenlehre wird der Vorgang der Rechtfertigung vollkommen nach allen Seiten bestimmt. Und zwar sagt das Konzil von Trient – und darauf kommt es hier an –, daß die einzige, wesengebende Ursache unserer Rechtfertigung die Gerechtigkeit Gottes ist. Nicht die Gerechtigkeit, durch die er selbst gerecht ist, sondern durch die er uns gerecht macht, mit der wir von ihm beschenkt, im inneren Geiste erneuert werden und nicht nur als Gerechte gelten (wie der Protestantismus sagt), sondern wirklich Gerechte heißen und es sind. Unica causa formalis – die einzige formale Gerechtigkeit, die einzige wesengebende Gerechtigkeit, das einzige Gestaltgesetz unserer Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit, mit der uns Gott umkleidet, nicht die Gerechtigkeit, die er selbst besitzt, das wäre ja Identität, nein, es ist eine analoge Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit Gottes spiegelt sich im Gerechtfertigten. Er wird gerechtfertigt, weil Gott ihn mit einer ihm einhaftenden Gerechtigkeit überkleidet.
Der ganze Mensch wird gerechtfertigt. Nicht nur die Seele, auch der Leib wird einbezogen. Wenn man Augen hätte, wie sie Gott besitzt, dann würde man erkennen, daß das Tun des Gerechtfertigten verschieden ist von dem Tun des Nichtgerechtfertigten. Sein ganzes Sein und sein ganzes Tun ist geformt von der Rechtfertigung durch Gott. Er ist überkleidet mit der Herrlichkeit und mit dem Glanze der unvergänglichen Würde Christi. Auch wenn sich das Tun des Gerechtfertigten in den gleichen Formen vollzieht wie das Tun des Nichtgerechtfertigten, z. B. nur Essen und Trinken und Arbeiten, es ist von einer anderen Qualität. Es besitzt die Christusstruktur. Und deswegen kann Paulus mahnen: „Alles, was ihr tut, ob ihr eßt oder trinkt, tut alles zur Ehre Gottes!“ Das heißt eben als Christusangehörige. Tut alles zur Ehre Gottes, als solche, die Christus angezogen haben, als solche, die in Christus geheiligt sind, als solche, in denen die Christusdynamik, die Kraft Christi, wirksam ist.
Wenn wir ernst machen mit diesen Wahrheiten, die uns die Offenbarung schenkt, dann können wir nur versuchen, nachzusprechen, was Paulus im Galaterbrief uns vorgesprochen hat: „Ich bin ja durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, um Gott zu leben. Mit Christus bin ich gekreuzigt. Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“
Amen.