Predigtreihe: Jesus, Gottes Sohn (Teil 12)
23. Mai 1993
Die Selbstbezeugung Jesu als das Brot des Lebens
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Seit geraumer Zeit versuchen wir, in das Geheimnis Jesu Christi einzudringen. Wir haben uns die Aussagen überlegt, mit denen die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas das Wesen Jesu zu beschreiben suchen. Wir haben auf den Apostel Paulus gehört, wenn er, ein Feuerbrand, der er ist, von seinem Herrn und Heiland, dem er sich geweiht hat, redet, und wir sind dabei, auf Johannes zu lauschen, wenn er uns Christus, das Leben, erklärt. Wir haben gesehen, daß Jesus im Johannesevangelium sich als die Wahrheit, als der Weg und als das Leben bekundet. Wir wollen uns heute seine Selbstbezeugung als das Leben und das Brot des Lebens vor Augen führen.
„Gleichwie der Vater das Leben in sich selbst hat, so hat er dem Sohne gegeben, das Leben in sich zu haben.“ Das ist die erste Äußerung, die wir heute bedenken wollen. An vielen anderen Stellen des Evangeliums, aber auch der drei Johannesbriefe wird Jesus als das Leben vorgestellt. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“ Oder im Johannesprolog: „In ihm war das Leben!“ Oder im ersten Johannesbrief: „Was wir gesehen und gehört haben vom Wort des Lebens..... und das Leben ist unter uns erschienen.“ Jesus wird also von Johannes als das Leben geschildert. Dieses Leben steht im Gegensatz zu unserem biologischen irdischen Dasein. Dieses irdische sogenannte Leben ist, verglichen mit dem seinen, ein Scheinleben; denn es ist ein vergängliches Leben. Es ist ein Leben, das ständig der Gefahr und der Not ausgesetzt ist, ein Leben, das mit Sicherheit einmal scheitern wird an der Todeswand. Dieses Leben ist also nur eine schwache Ahnung jenes Lebens, das in Christus erschienen ist. „Gleichwie der Vater das Leben in sich selbst hat, so hat er dem Sohne verliehen, das Leben in sich selbst zu haben.“ Es ist das ein Leben in Fülle und in Unvergänglichkeit.
Ein Leben in Fülle! Das will besagen: Es ist nicht kärglich, es ist nicht ärmlich, es ist auch nicht auseinandergelegt in aufeinander folgende und auseinander hervorgehende Akte. Es ist ein Leben, das in höchster Konzentration in jedem Augenblick besessen wird. Ein Leben in Unvergänglichkeit. Es ist ein Leben, das niemals scheitern kann, sondern das in unverbrauchbarer und unerschöpflicher Fülle gelebt wird.
Gewiß ist auch Christus dem Todesschicksal unterlegen. Aber sein Tod war nichts anderes als die Weise, wie sich das Leben völlig in seiner irdischen Gestalt durchsetzte. Durch seinen Tod hat das Leben in ihm die menschliche Gestalt, die menschliche Wirklichkeit durchdrungen, so daß diese Gestalt jetzt offen ist für das Leben und daß aus dieser Gestalt Ströme lebendigen Wassers, sprich: Heiligen Geistes, hervorgehen können. Durch seinen Tod, durch sein Sterben hat er unseren Tod vernichtet und durch sein Auferstehen neues Leben uns gewonnen.
Das Leben, das Jesus ist und das Jesus bedeutet, will er den Seinigen mitteilen. Wir sollen Anteil an diesem Leben gewinnen. Wie geschieht denn das? Das geschieht auf mehrfache Weise. Unerläßlich, um an diesem Leben Anteil zu gewinnen, ist der Glaube. Wer nicht glaubt, dem wird dieses Leben nicht erschlossen. Der Glaube aber muß sich verleiblichen in der Taufe. In der Taufe geht das neue Leben auf den Menschen über, da werden die vergänglichen Formen dieser Welt abgebrochen und die unvergängliche Daseinsweise herausgearbeitet. Dieser Abbruch der welthaften Existenzform und die Herausarbeitung der ewigen, unvergänglichen Existenzweise wird fortgesetzt in den übrigen Sakramenten. Die Sakramente sind die Weisen, wie das Leben Gottes in uns übergeht. Auch in den Drangsalen des irdischen Lebens vollzieht sich der Abbruch der welthaften und die Herausarbeitung der unvergänglichen Existenzweise. Die Drangsale dieses Lebens haben nach Gottes Absicht eine bestimmte Aufgabe, nämlich uns auf den endgültigen Abbruch der irdischen Existenzform vorzubereiten, der im Tode geschieht. Im Tode soll das, was in der Taufe begonnen wurde, zur Vollendung und Ausreifung kommen, nämlich das Hervorbrechen des ewigen, des unvergänglichen Lebens.
Deswegen vergleicht der Herr den Tod mit dem Schicksal des Weizenkorns. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein.“ Es muß sterben, damit es zu vielen Weizenkörnern wird, die sich in der Ähre sammeln. Ähnlich ist es mit unserem Sterben. Erst muß die irdische Existenzform abgebrochen werden, damit das ewige Leben sich im Menschen durchsetzen kann.
Wie tröstlich, meine lieben Freunde, ist doch, was uns in der Präfation der Totenmesse gelehrt wird: Deinen Gläubigen, o Herr, wird ja das Leben nicht geraubt, sondern nur umgestaltet. Wenn die irdische Zeltwohnung abgebrochen wird und in Staub zerfällt, steht eine ewige Heimat im Himmel für uns bereit. Ja, das ist die Botschaft von Jesus, der das Leben ist. Das Leben, das in ihm ist, in ihm, dem Lebendigen, das soll auf die, die zu ihm gehören, übergehen. Sie sollen ein Leben in unvergänglicher Fülle mit ihm leben, sie sollen nicht mehr sterben.
Christus, so jubelt Paulus, Christus, der gestorben ist, ist ein für allemal gestorben, er stirbt jetzt nicht mehr; und das sollen die Menschen, die mit ihm verbunden sind, in ähnlicher Weise erfahren. Wenn die irdische Zeltwohnung abgebrochen wird, dann steht eine himmlische Wohnung bereit, die nie mehr vergehen wird.
In der letzten Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian wurde der Diakon Euplius vor den Richter geführt. Der Richter fragte ihn, warum er die heiligen Schriften, die Bücher des Alten und Neuen Testamentes und die liturgischen Bücher, nicht ausgeliefert habe. Da gab ihm der Diakon zur Antwort: „Weil in diesen Büchern das ewige Leben ist!“ Und wer sie ausliefert, verliert das Leben. Daraufhin wurde er zum Tode verurteilt, und er starb mit den Worten: „Dank sei Christus, meinem Gott!“ Der Diakon hatte begriffen, daß die Worte, die der Herr spricht, lebendige, wirksame Worte sind, die denen, die sie hören und aufnehmen, das Leben nicht nur verheißen, sondern sogar garantieren.
Der Herr sagt zweitens auch: „Ich bin das Brot des Lebens! Gleichwie der Vater mich gesandt hat, und ich durch den Vater lebe, so wird der, der mich ißt, durch mich leben!“ Das Brot, das wir auf Erden zu uns nehmen, nährt das irdische Leben. Es nährt das vergängliche Leben, aber es nährt es auf vergängliche Weise. Auch das vom besten Weizen genährte Leben wird einmal zusammenbrechen. Es ist eben die irdische Nahrung nur ein Gleichnis für die himmlische Nahrung, für die Nahrung der Seele und des Geistes. Und von eben dieser Nahrung verheißt Christus, daß er sie selber sei. „Ich bin das Brot des Lebens, das vom Himmel herabgestiegen ist. Wer dieses Brot ißt, der wird leben, auch wenn er schon gestorben ist.“
Der Herr, der sich als das Brot des Lebens verkündet, weiß darum, daß der Hunger des Magens weit, weit übertroffen wird vom Hunger des Geistes und des Herzens. Das ist der eigentliche Hunger, und diejenigen, die ihn nicht spüren, das sind Verhärtete, die sich auf dieser Welt zu behaglich eingerichtet haben, um zu begreifen, daß sie für Höheres berufen sind. Denen aber, die diesen Hunger verspüren, ruft Christus zu: „Ich bin das Brot des Lebens!“ Also den Wissenden, denjenigen, die überzeugt sind, daß diese Welt ihnen keine letzte Erfüllung schenken kann, denjenigen, die wissen, daß es auf Erden nur die Sehnsucht, aber nicht die endgültige Sättigung gibt, den Wissenden, die die Mühsal der Mannesarbeit, die Klagen der Frauen, die Tränen der Kinder und über allem die Last der Schuld kennen, ihnen sagt der Herr: „Ich bin das Brot des Lebens. Kommt alle zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch erquicken!“ Was er verkündet, hat er gleichnishaft dargestellt in einer großen Abendeinladung. Draußen, auf den Halden von Galiläa, hat er die Seinigen, die Scharen um sich versammelt und ihnen die Sättigung des irdischen Hungers geboten. Die Jünger waren ratlos und hilflos, aber er wußte Rat, und er brachte Hilfe. Wir dürfen nicht an der Wirklichkeit dieses Geschehens zweifeln. Das ist keine Legende, sondern das ist eine wirkliche geschehene, von der Macht unseres Heilandes zeugende Tat.
Aber die Begebenheiten im Leben Jesu haben eben eine Bedeutung, die über den augenblicklichen Zweck hinausweist. Und diese Abendeinladung deutet an, daß Christus das Brot des Lebens ist in einer überströmenden Weise. Wenn da die Rede ist von den Körben, die übrig blieben, dann wird eben darin angedeutet, daß Christus die Sättigung in einer überfließenden Fülle zu gewähren imstande ist. Was er auf den Halden von Galiläa getan hat, das hat er bei einer anderen Abendeinladung zu einer vorläufigen Erfüllung gebracht , nämlich beim letzten Abendmahl. Da bewirtet er die Seinigen anders als sonst ein Gastgeber. Er gab ihnen Brot und Wein, aber unter Brot und Wein verborgen schenkte er sich ihnen selbst. Unter den Zeichen und Gestalten von Brot und Wein übergab er sich als das Brot des Lebens seinen Jüngern in einer unsagbaren, für uns letztlich undurchdringbaren Weise. Da ist das Wort „Ich bin das Brot des Lebens“ in leibhaftiger Wirklichkeit erfüllt worden. Und obwohl wir nicht an der Realität dieses Vorgangs zweifeln dürfen, hat auch dieses Geschehen noch eine über sich hinausweisende Bedeutung. Denn es weist hin auf jene Stunde, in der sich der Herr den Seinen nicht mehr in Zeichen, sondern in unverhüllter Wirklichkeit schenken wird. Das letzte Abendmahl hat die Bedeutung einer Vorerfüllung. Es weist hin auf jene letzte, endgültige Erfüllung, in der sich der Herr den Vollendeten offenbaren wird, wie er ist. Es weist hin auf jenes Mahl, wo die Seinigen gesättigt werden in einer überströmenden, unsagbaren und für uns heute noch unbegreiflichen Weise.
„Ich bin gekommen, daß sie das Leben haben und daß sie das Leben in Fülle haben.“ So sagt der Herr im Johannesevangelium. Er kann ihnen das Leben geben, weil er das Brot des Lebens ist, das eben den letzten Hunger des Menschen stillt.
Wenn wir also, meine lieben Freunde, wissen wollen, wer unser Herr und Heiland ist, dann hören wir auf das, was er uns durch Johannes, seinen Lieblingsjünger, sagen läßt: „Gleichwie der Vater das Leben in sich selbst hat, so hat er dem Sohne verliehen, das Leben in sich zu haben. Wie ich vom lebendigen Vater gesandt bin und durch den Vater lebe, so soll der, der mich ißt, durch mich leben.“ Wie singen wir doch so schön in unserem Kirchenlied: „O Jesu, all mein Leben bist du, ohne dich nur Tod. Meine Nahrung bist du, ohne dich nur Not. Meine Freude bist du, ohne dich nur Leid. Meine Ruhe bist du, ohne dich nur Streit.“
Amen.