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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Sünde
21. September 2025

Jesus und die Ehebrecherin

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Schriftgelehrte und Pharisäer sind fleißig unterwegs, um Tag und Nacht nach dem Rechten zu sehen, Männer der öffentlichen Verantwortung, erfüllt von der Sorge um die Sauberkeit des öffentlichen und privaten Lebens. In einer Nacht haben die Sittenwächter Jerusalems einen Fang gemacht. Sie haben eine junge Frau in zärtlicher Umarmung mit einem fremden Mann überrascht. Man führt sie ab zum Gerichtshof. Sie weiß, was ihr bevorsteht. Denn was sie getan hat, ist Ehebruch. Ehebruch ist im altjüdischen Recht keine Streitsache, sondern eine Strafsache. Nach Lev 20,10; Deut 22,22 steht auf dem Ehebruch mit einer verheirateten Frau die Todesstrafe für beide Teile, ohne dass die Todesart näher angegeben wird. Über eine verlobte Jungfrau, die Ehebruch begangen hat, wurde die Steinigung verhängt (Deut 22,23f.). Es ist wahrscheinlich, dass auch die ehebrecherische Ehefrau diese Strafe erlitt. An diesem Morgen wollen die pharisäischen Sittenwächter noch einen anderen Fang machen. Sie wollen dem Ketzer aus Nazareth eine Falle stellen. Sie bringen die junge Sünderin zu Jesus und stellen sie genau vor ihn hin. Nun wenden sich die frommen Männer an Jesus. Jesu bekannte Milde gegen Sünder erregte bei ihnen schon lange Ärgernis (Lk 5,30; 15,2; 19,7). Sie haben jetzt eine Fangfrage für ihn bereit. Zuerst geben sie sich respektvoll und lernbegierig, um Vertrauen zu gewinnen. Daher die Anrede „Meister“, die von Rechts wegen nur den ordinierten Schriftgelehrten zusteht; Jesus aber ist kein Rechtsgelehrter und will keiner sein (Mt 1,22; Lk 12,13f.; Joh 7,15). Jesus weiß, wie es gemeint ist, und hört kaum hin. Triumphierend konstatieren sie den Tatbestand: Ehebrecherin, auf frischer Tat ertappt und auf der Stelle verhaftet. Dann ein kurzer Hinweis auf die alttestamentliche Strafbestimmung: „Im Gesetz hat Moses uns vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen.“ Die einschlägigen Paragraphen lauten: „Wenn ein Mann mit der Frau seines Nächsten Ehebruch treibt, so sollen beide hingerichtet werden, der Ehebrecher und die Ehebrecherin“ (3 Mos 20,10). „Wenn eine Jungfrau verlobt ist, und ein Mann trifft sie in der Stadt und schläft mit ihr, so sollt ihr sie beide zum Stadttor hinausführen und sie zu Tode steinigen. Die Jungfrau deshalb, weil sie nicht um Hilfe geschrien hat, obwohl es doch in der Stadt war. Der Mann deshalb, weil er das Weib seines Nächsten defloriert hat“ (5 Mos 22,23f.). Zum Schluss die Fangfrage: Und du, was sagst du nun?

Beide sind schuldig, beide müssen sterben. Die Schriftgelehrten und Pharisäer aber sprechen nur von der Partnerin und referieren wie selbstverständlich: „Solche Frauen“ müssen sterben. Warum nur die Frau? Ist die Gerechtigkeit blind? Wo steckt der Mann? Gegenüber dem Mann drückt man ein Auge zu. Das nennt man Solidarität. Schweigende Solidarität der Männer und Richter, wenn es um den Schutz eines Mannes geht; lärmende Solidarität der Männer und Richter, wenn es um die Bestrafung einer Frau geht. Solche Solidarität gehörte damals zum guten Ton. Die Sittenrichter haben den Partner laufen lassen. Sie halten es nicht einmal für nötig, ihr Verhalten durch irgendeine Ausrede zu rechtfertigen. Stattdessen stellen die Hüter des Gesetzes die andere Frage: Wie steht Jesus zu Moses? Die Frage ist berechtigt. Denn Jesus hat am mosaischen Gesetz Kritik geübt durch Wort und Tat. Jesus erklärte: „Niemand kennt den Vater als allein der Sohn“ (Mt 11,27; Lk 10,22). Niemand, das kann nur heißen: Weder Moses noch die Propheten. Jesus bricht den Sabbat, er duldet und verteidigt den Sabbatbruch seiner Jünger, er fordert den Geheilten vom Teich Bethesda in aller Form zum Sabbatbruch auf (Mk 2,23-28; 3,1-6; Joh 5,8-10). Er kritisiert den vorgeschriebenen Tempelgottesdienst (Mk 14,58). Er erlaubt die Speisen, die Moses verbietet; er untersagt die Ehescheidung, die Moses erlaubt (Mk 7,15; 10,9). Das ist keine bloße Kritik an den Sitten und Frömmigkeitsidealen seiner Zeit. Das ist ein grundsätzlicher Angriff Jesu auf den totalitären Geltungsanspruch des Alten Testamentes, das sind praktische Konflikte mit dem jüdischen Strafgesetzbuch, das als offenbarte Willenskundgebung Gottes galt. Die Juden haben Jesu Verhalten auf ihre Weise kommentiert. Im Talmud heißt es: „Am Rüsttag des Passahfestes hat man Jesus von Nazareth gekreuzigt, weil er gezaubert und verführt und Israel zum Abfall verleitet hat“ (Sanhedrin 43a). Man wusste, dass Jesus den Offenbarungscharakter des mosaischen Gesetzes nicht ohne Vorbehalt anerkannte. Es ist darum vollauf begreiflich, wenn die Schriftgelehrten und Pharisäer die heikle Frage stellen: Was sagst du zu jenem Strafparagraphen des Moses? Offenbar vermuteten sie, dass Jesus milder urteilen werde als das Gesetz des Moses.

Die Frage ist gestellt. Was antwortet Jesus? Zunächst einmal gar nichts. Er schweigt. Das ist typisch für ihn. Er schweigt auch vor Kaiphas, vor Herodes und vor Pilatus. Jesus schweigt und schreibt irgendetwas in den Sand. Was schreibt er wohl? Wir wissen es nicht. Aber die Fragesteller lassen nicht locker. Schließlich schaut Jesus auf und spricht: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Das ist der Gegenangriff, mit dem Jesus den Angriff der Schriftgelehrten und Pharisäer erwidert, ein gezielter Gegenstoß. Jesu Antwort erkennt die Schuld der Frau und das Recht des Gesetzes voll an. Er verharmlost nicht das Vergehen und verachtet nicht die Strafdrohung. „Ohne Sünde.“ Jesus spricht hier natürlich nicht von totaler Sündlosigkeit. Er weiß: „Niemand ist gut als Gott der eine“ (Mk 10,18). Jesus meint die spezielle Sünde, die hier zur Debatte steht, den Ehebruch. Wer von euch hat niemals Ehebruch begangen? Das ist der Sinn der Antwort Jesu. Eine unmissverständliche Provokation, doppelt ungeheuerlich, wenn man bedenkt, wer hier herausgefordert wird: Die Schriftgelehrten und Pharisäer, die so denken wie der Pharisäer, der im Tempel spricht: „Ich danke dir Gott, dass ich kein Ehebrecher bin“ (Lk 18,11).

Die zeitgenössische Literatur zeichnet ein düsteres Bild von der Moral in geschlechtlichen Dingen. Der Apostel Paulus hält den Schriftgelehrten und Pharisäern vor: „Du sagst, man soll nicht ehebrechen, und treibst selbst Ehebruch“ (Röm 2,22). Der römische Historiker Tacitus schreibt etwas später über die Juden: „In geschlechtlichen Dingen sind sie maßlos. Von fremdvölkischen Frauen halten sie sich zurück. Aber untereinander ist bei ihnen nichts unerlaubt“ (Historien 5,5). Der Talmudtraktat Jebamoth berichtet: „Wenn Rabbi Rabh nach Dardaschir kam, pflegte er zu fragen, welche Frau ihm für einen Tag angehören wolle. Und wenn Rabbi Nonhman nach Schikansib kam, pflegte er zu fragen, welche Frau ihm für einen Tag angehören wolle.“ Was heißt das? Die beiden prominenten Schriftgelehrten besorgten sich in den beiden Städten für eine Hotelnacht ein Callgirl, schrieben am Abend einen Ehevertrag, am nächsten Morgen einen Scheidebrief, und alles war juristisch in Ordnung (da sowohl Polygamie als auch Scheidung gesetzlich zulässig waren). Manches war gewiss in manchen Kreisen verpönt. Aber das alles war kein strafbarer Ehebruch, niemand wurde deshalb gesteinigt. Ganz anders die jüdische Braut, die Ehefrau. Sie war an ihren Ehemann gebunden. Eine Nacht mit einem anderen Mann war Ehebruch und stand unter Todesstrafe.

Man sieht, Jesus rührt hier an einen öffentlichen Missstand. Er reißt den heuchlerischen Zeitgenossen die Maske vom Gesicht. „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe als erster einen Stein auf sie.“ Nach mosaischem Recht haben die Zeugen des Verbrechens bei der Steinigung des Verbrechers den Vortritt (5 Mos 13,10; 17,7; Apg 7,38). Im Falle der Ehebrecherin sind die Zeugen des Verbrechens aber dieselben Männer, die den Liebhaber der jungen Frau haben entkommen lassen. Sie sind Heuchler im doppelten Sinn: Sie bestrafen eine Sünde, die sie selber straflos begangen haben und noch begehen. Und sie bestrafen nur die Sünderin, nicht aber den Sünder, nur die Frau, nicht den Mann. Jesus verlangt gleiches Recht für alle, Richter und Angeklagte, Männer und Frauen.

Jesus hat gesprochen und wendet sich wieder seiner Schreibarbeit zu. Seine Gegner empfinden die Bloßstellung, sagen kein Wort mehr und gehen verlegen davon, einer nach dem anderen, die Senatoren zuerst. Dann folgen ihre Handlanger, die Schriftgelehrten und Pharisäer. Keiner bleibt, denn keiner hat eine weiße Weste. Jesus ist allein mit der jungen Frau. Er schaut auf und fragt wie verwundert: „Frau, wo sind sie (geblieben)? Hat keiner dich verurteilt?“ Die Frau antwortet: „Keiner, Herr.“ Die Schriftgelehrten sagen „Meister“ zu Jesus. Die junge Frau sagt „Herr“. Das Wort Herr ist die höfliche Anrede, die eine Frau im antiken Palästina einem Manne schuldig ist, zumal einem fremden Manne. Aber an diesem Ort, in diesem Augenblick hat diese Anrede einen religiösen Unterton. Hier geht das Wort auf den Herrn, der im Allerheiligsten thront, auf den Herrn über Leben und Tod, der die Richter Israels zur Rechenschaft zieht. Sie steht vor dem einzigen Mann, der das menschliche und göttliche Recht hat, einen Stein auf sie zu werfen. Jetzt steht sie vor dem Herrn, der das letzte Wort hat über Tod und Leben. Sie wartet auf sein Urteil. Jesus verharmlost die Sünde nicht. Was sie getan hat, ist ein Gräuel vor Gott. Aber jeder Sünder kann sich von der Sünde lossagen und sie in aller Zukunft meiden. Jesus traut der Frau die Umkehr zu. „Da sprach Jesus: So verurteile ich dich auch nicht.“ Schlichter und anspruchsloser kann man es nicht sagen, ritterlicher und menschlicher kann man nicht sprechen. Jesus von Nazareth ist ritterlicher als irgendein Mann. Gott der Herr ist menschlicher als irgendein Mensch. Jesus ist immer da am göttlichsten, wo er am menschlichsten ist. Jesus von Nazareth am Tor von Nikanor, das ist die Offenbarung der Menschlichkeit Gottes im Tempel des Herrn. „Geh hin und sündige fortan nicht mehr.“ Die junge Frau kann gehen, frei und unangefochten.

Amen.

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