18. April 2021
Der gute Hirt
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der zweite Sonntag nach Ostern heißt im Volksmund „Guter-Hirten-Sonntag“. Diese Bezeichnung leitet sich von dem Evangelium her, das an diesem Sonntag in der hl. Messe verlesen wird. Unser Herr Jesus Christus hat sich selbst als den guten Hirten vorgestellt: „Ich bin der gute Hirt.“ Unmittelbar danach gibt er das Kennzeichen des guten Hirten an: Er gibt sein Leben für seine Schafe. Das heißt: Er gibt alles. Mehr als das Leben kann er nicht geben. Mit dieser Aussage hat der Herr Auftrag und Erfüllung seines Lebens beschrieben. Jedermann in Palästina zur Zeit Jesu wusste um die Pflichten und um die Tätigkeit eines Hirten. Der Hirt ist der Hüter von Haustieren beim Weidegang. Er versorgt seine Herdentiere und verteidigt sie heroisch gegen Gefahren. Bevor Jesus, der gute Hirt, in die Herrlichkeit des himmlischen Vaters zurückkehrte, bestellte er Menschen, die an seiner Stelle die Hirtenaufgabe übernehmen und fortführen sollten. So ist das Hirtenamt auf die katholischen Priester übergegangen. Die Priester der katholischen Kirche sind nicht als naturhaftes Produkt aus der sozialen Entwicklung herausgewachsen. Sie sind eine Einrichtung, die Jesus Christus geschaffen hat. Die Form und die Eigenart des katholischen Priesters hat etwas Überzeitliches, ist seit dem Tage, da Jesus die Wahl der Apostel vollzog, im wesentlichen gleich geblieben und wird es immer bleiben. Es sind vier Merkmale, an denen man den katholischen Priester erkennt, weil sie seinem Beruf und seiner Berufserfüllung eine besondere und eigentümliche Art verleihen.
Das erste dieser vier Merkmale ist das Weihebewusstsein. Es ist die Überzeugung, Träger göttlicher Vollmachten zu sein und als solcher in sichtbarer und offizieller Form bestellt und befähigt zu sein, eben „geweiht“ zu sein. Durch die Handauflegung des Bischofs wurde ihm ein Anteil an den Vollmachten gegeben, die Christus zu eigen sind. Das Weihebewusstsein des Priesters enthält den Glauben an folgende Tatsachen: Nur eine bestimmte und begrenzte Zahl von Menschen ist durch Christus zu solcher Vollmacht bestellt. Diese Bestellung geschieht in deutlich erkennbarer Weise, so dass die so geprägten Menschen sichtbar von den übrigen Menschen abgegrenzt sind. Die Vollmacht, die ihnen gegeben wurde, ist von höchster Wirklichkeit. Die Religionsdiener im Protestantismus sind achtenswerte Menschen. Aber sie sind keine Priester. Sie empfangen keine Weihe. Sie sind Christus nicht im Sein verähnlicht. Karl Marx war selbst jüdischer Abstammung. Von ihm stammt das Wort: Luther hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Es klingt brutal, aber es ist richtig. Die Kirche hat das Priestertum energisch und nachhaltig gegen Bestreitung und Entwertung verteidigt. Der Glaube an die besondere und reale Bevollmächtigung einer bestimmten Gruppe von Menschen ist von ihr durch 2000 Jahre mit beispielloser Energie und Zähigkeit behauptet und durchgesetzt worden. Die gewaltige Energie, mit der die Kirche den Glauben an das besondere Weihepriestertum festgehalten hat, ist in die Priester selbst übergegangen. Selbst im tiefgesunkenen Priester, selbst im abgefallenen Priester und sogar im ungläubig gewordenen Priester lebt schier unausrottbar das Bewusstsein, dass er eigentlich Priester ist und übernatürliche Kräfte und Vollmachten in Händen trägt. Darum verliert er kaum je die heimliche Sehnsucht nach dem wunderbaren Opferdienst am Altar. Selbst inmitten einer allgemeinen Verneinung aller Dogmen bleibt doch eine merkwürdig inkonsequente Neigung, an das Geheimnis des Altars zu glauben, ja selbst dieses Geheimnis wieder zu vollziehen. Wenn ein solcher Priester wieder zurückfindet zu seiner Sendung und seinem Beruf, dann geht sein Heimweg zumeist von dieser Sehnsucht aus.
Das Weihebewusstsein des Priesters beruht auf dem Glauben an objektive, von oben gegebene Vollmachten und Kräfte, nicht an subjektive, aus ihm selbst hervorquellende Fähigkeiten. Was er den Menschen zu bringen hat, ist unendlich mehr als eigene Einsichten oder Ideen, mehr als sein eigener Glaube, mehr als Wort und Beispiel. Dieser Glaube an den objektiven Charakter seiner Vollmachten (und an die bloß werkzeugliche Funktion seiner eigenen Person) ist das Prophetische im Standesbewusstsein des katholischen Priesters. Das Göttliche, das der Priester in sich ruhend und wirkend weiß, ist unausdenkbar groß und heilig. Aber er selbst ist nur der Träger, der kein persönliches Verdienst um das Heiligtum hat, das er tragen darf. Auf seine Person geht nichts über von dem Glanz der Gnade, die er in Händen hält. Darum kann er seine Vollmachten und seine Würde nur zitternd und mit Schrecken erfüllt tragen. Er fühlt das schmerzvolle Missverhältnis zwischen dem Menschen und seinem Amt. Die Kostbarkeit, die er trägt, wird ihm zu einer Last und Belastung, die alle seine persönlichen Kräfte weit übersteigt, unter der er bebt und wankt.
Das Bewusstsein persönlicher Bedeutungslosigkeit gegenüber dem gewaltigen Amt, das der Priester trägt, wird noch verstärkt durch die Verantwortung, die dieses Amt mit sich bringt. Die göttlichen Vollmachten, die der Priester besitzt, sind nicht für ihn selbst, sondern zur Heile der anderen. Er ist Ausspender der Geheimnisse, die ihm anvertraut sind. Das ist das zweite Merkmal des Priesterstandes: das Bewusstsein der Verantwortlichkeit. Er weiß, dass er für andere lebt, für das Volk, für die Gemeinde, für die Armen, für die Kinder, ja für die ganze Kirche. Es bleibt von seinem eigenen Leben, seinen eigenen Interessen und Wünschen nichts zurück; er wird sogar nur dadurch selig und heilig, dass er für andere lebt. Für ihn bleibt keine Stunde, kein Werk, kein Unternehmen, das nicht im Bereich jener Verantwortung läge. Es gibt keine Zwecke mehr, die dringlicher und wichtiger wären oder auch nur gleich dringlich und wichtig als die priesterlichen. Selbst sein Leben und sein Lebensglück spielt keine Rolle mehr, die gegen seinen Beruf aufkommen könnte. Ob er sein Leben und seine Gesundheit bewahrt oder einsetzt, er tut beides nicht für eigene Interessen, sondern für die Aufgaben seines Priestertums. Der Priester lässt seine eigenpersönlichen Wünsche und Neigungen stets zurücktreten hinter dem Amt und der Sendung, die ihm von Gott aufgetragen sind. Einer meiner Schüler, der das Priestertum erreicht hat, erklärte: „Der Priester hat doch auch ein Recht auf Glück.“ Ich kann nicht finden, wie dieser Anspruch begründet werden soll. „Das Glück des anderen ist es, das glücklich macht“ (Hugo Ball). Die Priester sollten sich nicht von Friedrich Nietzsche beschämen lassen, der schreibt: „Trachte ich denn nach meinem Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!“ Dieses Bewusstsein, für andere da zu sein in verantwortlicher Weise, ist etwas ganz Neues innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Christus hat hiermit einen neuen Beruf und eine neue Berufsauffassung in die Welt gebracht. Christus hat die Möglichkeit gezeigt, dass ein Mensch primär und geradezu wesenhaft für den Dienst anderer bereitgestellt wird, dass er also zunächst nicht für sich lebt, sondern für andere.
Aus diesem Verantwortungsbewusstsein folgt jene eigenartige seelische Haltung, die den katholischen Priester zu allen Zeiten zum Menschenfreund, zum Berater des Volkes, besonders des armen Volkes, zum väterlichen Freund der Kinder, zum Erfinder und Träger zahlloser Bestrebungen und Werke der Volksbildung, Volksgesundheit und Volksrettung gemacht hat. Dem Volke war bewusst: Dieser Mann ist ein Priester, also muss er für uns da sein, uns gehören, zu uns halten. Er ist ein Priester, also muss er Rat und Trost wissen. Die Verantwortlichkeit des Priesters ist die Haltung einer großen und bereitwilligen Hilfsbereitschaft. Es ist kein Zufall, dass die Priester aller christlichen Epochen sich immer auf die Seite der Schwächeren, der Unterdrückten und der Notleidenden gestellt haben. In einem Staat der USA hatte ein Unternehmer Streit mit seinen Arbeitern. Die Parteien konnten sich nicht einigen, und so schlug man einen in jener Gegend bekannten und angesehenen katholischen Priester als Schlichter vor. Der Unternehmer lehnte ab. Er schrieb: „Ich bestreite keineswegs seine Sachkenntnis, sein Geschick und seine Ehrenhaftigkeit. Aber wie bei allen katholischen Priestern ist auch bei ihm die Vorliebe auf Seiten der Arbeiter.“ Die Menschensorge des katholischen Priesters ist nun aber rein religiös bestimmt. Sie erwächst nicht aus irgendwelchen humanitären Erwägungen, sie geht auch nicht aus bloß menschlichem Erbarmen hervor, sondern sie ist die Ausstrahlung eines religiösen Imperativs, eben der von Gott gegebenen Sendung. Freilich ist dieser religiöse Imperativ dem Priester gleichsam zur innerlichen Notwendigkeit geworden, so dass er auch das menschliche und persönliche Fühlen und Erbarmen auslöst.
Doch wie warm und menschlich die Priester auch zu fühlen vermögen, sie kommen nicht auf unmittelbarem Wege zu den Menschen, sondern von Gott her, von dem sie sich gesandt wissen. Dem Priester ist die Religion zum Beruf im buchstäblichen Sinne geworden. Das ist die dritte Eigenart des katholischen Priesterstandes. Der katholische Priester übt einen Beruf aus, der nicht mehr und nicht weniger ist als seine Religion. Er besitzt einen wirklichen Beruf, eben die priesterliche Arbeit im Auftrag und im Sinne der katholischen Kirche. Aber die Erfüllung seiner Aufgaben ist wirklich Religion und religiöses Leben. Er trägt in seiner Seele gewisse Gnadengaben, die ihn zu seinem Dienst befähigen, und diese Gnadengaben sind eine Berührung durch Gott, ein Teilhaben an Gottes besonderer Nähe, ein Durchströmtsein von Gottes Leben. Die Priesterweihe ist ein Sakrament, eine Mittteilung göttlicher Begnadung, von heiligmachender und besonderer Berufungsgnade. Der Priester kommt durch die Weihe in ein ganz nahes Verhältnis zu Gott, so real und so tief eingesenkt, dass es selbst in der Sünde nicht mehr ganz aufgegeben werden kann. Selbst seine Sünde hat einen religiösen Charakter, freilich in negativem Sinn, den Charakter eines Sakrilegs (= Entweihung einer gottgeweihten Person), wenn er, mit der Sünde belastet, seine priesterlichen Funktionen ausübt. Des Priesters Religion ist eben sein Priestertum, sein Priesterberuf.
Die Gefahr, die in der Verbindung von Religion und Beruf liegt, ist das Versiegen der religiösen Quellen im einzelnen Priester, so dass sein berufsmäßiges Wirken zu einer bloß äußeren, beamtenmäßigen Funktion wird. Das Heilige wird dann zum Handwerk, das Göttliche zum Mechanismus, das Ewige zur Fiktion. Wenn der Priester seine ewigen Zusammenhänge verloren hat, behält sein Priestertum, sein priesterliches Wirken zwar noch die Kraft und die Gültigkeit, die Christus ihm verleiht, er bleibt wirksam für andere. Aber für den Priester selbst ist es sinnlos, ja sinnwidrig, weil es aufhört, Erfüllung seines Berufes zu sein, obgleich es noch mechanisch weiterläuft. Es begibt sich das Absurde, dass ein Leichnam Leben ausströmt; dass ein Mensch, der erloschen ist, noch fortfährt, zu leuchten; dass eine Seele aus Gottes Nähe heraus wirkt und dabei Gott unendlich ferne steht. Wenn die Verbindung von Religion und Beruf zerrissen ist, wird dadurch auch der Beruf zerstört, unwahr und tot. So etwas geschieht tatsächlich. Von dem einen oder anderen wissen wir es. Der französische Priester Joseph Turmel (1859-1943) verlor den Glauben, behielt aber diese innere Entwicklung für sich. Er blieb äußerlich in der Kirche und übte die priesterlichen Funktionen weiter aus, zelebrierte täglich die Messe, gab anderen die Kommunion und hörte die Beicht. Gott allein weiß um das schreckliche Geheimnis und um das ewige Schicksal dieses Priesters.
Der religiöse Charakter des priesterlichen Berufes bringt noch eine vierte Eigentümlichkeit mit sich, die das katholische Priestertum bis in seine tiefsten Wurzeln hinein kennzeichnet. Es ist die Einsamkeit, die dieses Priestertum umgibt. Sie ist schon in der Tatsache gegeben, dass der Priester auf dem Wege über Gott zu den Menschen kommt, nicht von seinem eigenen Unternehmen gezogen, sondern von Gott gesandt. Sie wird verstärkt durch die Lebensform des Zölibats. Der Zölibat, das ehelose, enthaltsame Leben, hat vielfache Wurzeln. Er hat zunächst eine praktische Bedeutung. Die Seelsorge in dem umfassenden, den ganzen Menschen erfüllenden Sinn, wie die katholische Kirche sie versteht, wird wesentlich erleichtert und gefördert durch die Ehelosigkeit. Es gilt hier, was von allen großen Erfüllungen der Menschenseele gilt: Sie sind ausschließlich, sie sind unverträglich mit jeder anderen Erfüllung. Dass zum Beispiel die Kunst (oder die Wissenschaft) solchen ausschließlichen Dienst verlangt, ist altbekannt. Die große Sängerin Christa Ludwig schreibt in ihrer Autobiographie: „Ich glaube, in diesem Berufe bleibt eine Sängerin am besten allein.“ Der bedeutende Forschungsreisende Wilhelm Filchner, der wegen seiner Untersuchungen in Innerasien monate-, jahrelang fern von Heimat und Familie war, erklärt: „Ein solcher Beruf verlangt die Ehelosigkeit.“ Sodann hat der Zölibat des katholischen Priesters eine religiöse Wurzel; er ist nicht ein künstlerischer oder wissenschaftlicher Zölibat, sondern ein religiöser. Der katholische Priester ist „dem Herrn geweiht“. Sein Zölibat bedeutet, dass er dem Herrn gehört. Sein Beruf ist eine von Gott gegebene Lebensaufgabe und Lebensform und somit auch die Verpflichtung, nur von Gott her zu den Menschen zu kommen. Dieser Weg aus der Unendlichkeit in die Unendlichkeit muss dem Priester als gottverlorene Einsamkeit erscheinen. Daraus ergibt sich, dass der priesterliche Zölibat viel mehr bedeutet als etwa bloßen Verzicht auf die Ehe oder gar auf sexuelle Befriedigung. Im Wesen des priesterlichen Zölibats liegt die innere Einsamkeit, der Verzicht auf die tragende, bergende und wärmende Nähe der Menschen, eine Art Heimatlosigkeit innerhalb der irdischen Grenzen. Daraus folgt, dass nur starke und selbständige Naturen, die das natürliche Anlehnungsbedürfnis zu überwinden vermögen, zum Priestertum berufen sein können. Ihre Einsamkeit muss durchflutet und durchwärmt sein von der Fülle und dem Reichtum des inneren Lebens. Nur der Mensch ist zum Führen geeignet und berufen, der versteht, einsam und allein an der Spitze zu schreiten. Nur der kann vielen gehören, der herausgehoben ist aus allzu naher Verkettung und Verflechtung mit einzelnen. Nur der kann andere stützen, der selbst stehen kann. Der Dienende erwartet oder fordert nichts von anderen. Nur die, die nicht mehr an sich selbst hängen, sind die wirklich selbstständigen und tragfähigen Naturen, an denen andere Halt gewinnen. Solche Priester hat es gegeben, und ich bin überzeugt: Es gibt sie heute noch. Es sind jene, von denen Friedrich Nietzsche schreibt: „Hier sind Priester. Und wenn es auch meine Feinde sind, geht mir still an ihnen vorüber und mit schlafendem Schwerte. Auch unter ihnen sind Helden.“
Amen.