2. April 2000
Über Sünde und Rechtsfertigunsgnade
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir hatten uns vorgenommen, über das große, ja das einzige Geschenk nachzudenken, das Gott uns gemacht hat, nämlich die Gnade. Wir hatten gesehen, daß die Gnade die Aufnahme in das dreipersönliche Leben Gottes bedeutet, in die Gemeinschaft mit Christus, aber auch mit dem Vater und dem Heiligen Geiste. Dieser Vorgang, in dem die Gnade uns ergreift, in dem wir mit Gott verbunden werden, nennt man mit einem herkömmlichen Ausdruck Rechtfertigung. Wir werden recht vor Gott, weil wir die Gerechtigkeit von ihm empfangen. Er macht uns gerecht, und deswegen heißt dieser Vorgang der Begnadung Rechtfertigung. Durch die Rechtfertigung treten wir in Gemeinschaft mit Christus. Er ist der Gerechte, ja im vollen Sinne der einzig Gerechte, den die Welt je gesehen hat. Und wer Gerechtigkeit empfangen will, muß sich zu Christus bewegen; er muß von Christus die Gerechtigkeit empfangen. Indem er in die Gemeinschaft mit Christus, dem Gerechten, kommt, geht die Gerechtigkeit Christi auf ihn über. Christus war ja nicht versklavt an Sünde, Tod und Teufel. Er war der Sündlose, er war der Freie, und so konnte er es unternehmen, die unter die Sklavenmächte Sünde, Tod und Teufel verlorenen Menschen zu befreien. Er, der ganz Freie, hat diesen Befreiungsfeldzug geführt und durch seinen Tod und seine Auferstehung Sünde, Tod und Teufel entmächtigt. Er hat diese Mächte entthront, vom Throne gestürzt, und so kann jeder, der mit ihm in Gemeinschaft tritt, Anteil an seinem Siege gewinnen.
Normalerweise vollzieht sich diese Anteilnahme in der heiligen Taufe. In der Taufe werden wir auf Tod und Auferstehung Jesu getauft. Die Macht und die Kraft von Tod und Auferstehung Jesu geht auf uns über und befreit uns von der Sünde. Aber da setzen gleich die Gegensätze ein. Denn im 16. Jahrhundert traten Männer auf, welche die Rechtfertigung in falscher Weise beschrieben. Sie sagten: Die Rechtfertigung geschieht dadurch, daß die Gerechtigkeit Christi uns angerechnet wird. Der Mensch bleibt Sünder, aber er gilt vor Gott wegen der Gerechtigkeit Christi als gerecht.
Gegen die falsche Rechtfertigungslehre hat sich das Konzil von Trient in lichtvollen und klaren Ausführungen gewandt. Um seine Darlegungen, seine immer gültigen Darlegungen zu verstehen, müssen wir zuerst wissen, gegen welche falschen Aufstellungen es sich gewandt hat. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen. Der Mensch ist durch die Erbsünde bis ins Mark verderbt. Er ist unfähig zum Guten. Der Mensch ist an die Mächte von Tod und Sünde versklavt; er besitzt keinen freien Willen und ist deswegen unfähig, etwas zu tun, was zu seiner Rechtfertigung führen kann. Es gibt keine menschliche Beteiligung an der Rechtfertigung durch Gott. Die Rechtfertigung von Gott aber geschieht in folgender Weise. Christus stellt sich gleichsam wie ein Schutzschild vor den Menschen, so daß der Vater im Himmel die Sündigkeit des Menschen nicht sieht, und darauf hin rechtfertigt der Vater im Himmel den Menschen, indem er ihn für gerecht erklärt, obwohl er nicht gerecht ist. Er bleibt Sünder, bleibt immer Sünder, aber der Vater rechnet ihm die Sünde nicht an, rechnet ihm vielmehr die Gerechtigkeit Christi zu.
Gegen diese falschen Lehren hat sich das Konzil von Trient eindeutig ausgesprochen. Vor allem und an erster Stelle gegen die Meinung, daß die Gerechtigkeit Christi dem Menschen bloß angerechnet wird und der Mensch also innerlich ein Sünder bleibt. Nein, die Gerechtigkeit Christi, die dem Menschen hilfreich ist, ist die Verdienstursache, die Wirkursache und die Vorbildursache für die Gerechtigkeit des Menschen. Also Christus wirkt die Gerechtigkeit des Menschen, aber seine Gerechtigkeit ist von der Gerechtigkeit des Menschen verschieden. Zwischen der Gerechtigkeit Christi und der Gerechtigkeit des Menschen besteht nicht das Verhältnis der Identität, sondern der Analogie. Der Mensch ist gerecht, weil Christus ihn gerecht macht.
Ich lese Ihnen die eine oder andere Wendung des Konzils von Trient vor. „Wer leugnet, daß durch die in der Taufe verliehene Gnade die Schuld der Erbsünde nachgelassen wird, oder wer behauptet, nicht all das werde hinweggenommen, was das wirkliche und eigentliche Wesen der Sünde ausmacht, sondern sagt, die Sünde werde nur obenhin abgeschabt oder nicht angerechnet, der sei ausgeschlossen.“ Hier sind also genau die Wendungen, welche die Glaubensneuerer des 16. Jahrhunderts aufbrachten, in die Verurteilung des Konzils aufgenommen, vor allen Dingen der letzte Satz: „Wer sagt, die Sünde werde nur obenhin abgeschabt oder nicht angerechnet....“ Nein, sie wird getilgt. Es wird all das weggenommen, was das wirkliche und eigentliche Wesen der Sünde ausmacht. Und dann wendet sich das Konzil gegen die Meinung, die Konkupiszenz, die im Menschen bleibt, sei die zurückbleibende Sünde. Die Konkupiszenz, das bestreitet das Konzil nicht, die Begierlichkeit, bleibt im Menschen zurück, auch wenn er von der Erbsünde befreit ist. Aber wozu? Sie ist zurückgelassen für den Kampf, damit der Mensch sich bewähren kann, damit er mit den neuen Kräften, die ihm mit der Gnade zugeteilt werden, die Anfälligkeit für das Böse überwinden kann. „Da sie aber für den Kampf zurückgelassen ist, kann sie denen, die nicht zustimmen, nicht schaden. Vielmehr: Wer recht kämpft, wird gekrönt werden.“ An einer anderen Stelle erklärt das Konzil: „Obwohl Christus für alle gestorben ist, empfangen doch nicht alle die Wohltat seines Todes, sondern nur die, denen Anteil gegeben wird am Verdienst seines Leidens. Denn wie die Menschen tatsächlich nicht in Ungerechtigkeit geboren würden, wenn sie nicht Nachkommen Adams wären, so würden sie nie gerechtfertigt, wenn sie nicht in Christus wiedergeboren würden. Denn durch die Wiedergeburt wird ihnen kraft des Verdienstes seines Leidens die Gnade geschenkt, durch die sie gerecht werden.“ Also sie werden gerecht nicht dadurch, daß ihnen äußerlich die Gerechtigkeit Christi angerechnet wird, sondern sie werden gerecht durch die Gnade, die ihnen einhaftet, durch die gratia inhaerens, wie das Konzil sie nennt. Die Rechtfertigung ist nicht nur Nachlaß der Sünden, wie die Glaubensneuerer sagen, sondern zugleich Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen durch die freiwillige Annahme der Gnade und der Gaben. „So kann zwar niemand gerecht werden, dem nicht die Verdienste des Leidens unseres Herrn Jesus Christus mitgeteilt werden, aber das geschieht in dieser Rechtfertigung eben dadurch, daß in Kraft des Verdienstes dieses Leidens die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist in die Herzen ausgegossen wird und ihnen innerlich anhaftet.“ Das ist der entscheidende Text: „...und ihnen innerlich anhaftet.“ Die Gnade haftet den Gerechtfertigten innerlich an. „Die Formalursache unserer Rechtfertigung“, so sagt das Konzil, „ist die Gerechtigkeit Gottes, durch die er uns gerecht macht, mit der wir von ihm beschenkt, im inneren Geist erneuert werden und nicht nur als Gerechte gelten, sondern wirklich Gerechte heißen und es sind.“
Das also ist die Lehre des Konzils von Trient über die Rechtfertigung. Wenn man die Sündenvergebung recht verstehen will, muß man wissen, was Sünde ist und was Sündenvergebung ist. Man kann die Sünde und die Sündenvergebung in dreifacher Weise auffassen: natürlich, sittlich und übernatürlich. Die natürliche Auffassung von der Sünde und von der Sündenvergebung, wie sie meinetwegen Friedrich Nietzsche vertritt, besagt folgendes. Die Sünde ist etwas Wertvolles; sie ist etwas Kostbares. Sie ist der fruchtbare Wurzelgrund, aus dem sich das schöne und starke Leben des Menschen erhebt. Vergebung der Sünde, Überwindung der Sünde besteht darin, daß man sich die Sünde zunutze macht, daß man in der Sünde eine Lebenssteigerung erfährt. Sie verstehen natürlich, daß das eine völlig amoralische Sicht der Sünde ist. Hier spricht einer, der nicht nur Gott, sondern auch die Sünde leugnet. Aber diese Auffassung existiert. Davon verschieden ist die andere, die in Sünde und Sündenvergebung den sittlichen Charakter sieht. Das Gute tritt an den Menschen mit der Forderung: „Du sollst!“ heran. Und wer sich dieser Forderung versagt, der begeht Sünde. Die Sündenvergebung besteht darin, daß man die Sünde verurteilt und sich von ihr abwendet. Hier wird immerhin der sittliche Charakter der Sünde und der Sündenvergebung gesehen. Hier wird der Mensch als ein personales Wesen, das verantwortlich ist für seine Taten, anerkannt. Aber die letzte Abgründigkeit der Sünde wird hier noch nicht durchschaut. Die kann erst begreifen, wer übernatürlich über Sünde und Sündenvergebung denkt. Sünde im Glaubensverständnis ist nichts anderes als die Empörung gegen den personhaften Gott. Sie ist der Versuch, der sinnlose, abenteuerliche Versuch, Gott abzusetzen. Die Sünde möchte Gott beseitigen und sich selbst an seine Stelle setzen. Das ist die Sünde im richtigen Verständnis des Glaubens. Die Sünde bewirkt die Zerstörung. Sie zerstört einmal den Menschen selbst. Warum? Weil der Mensch von Gott entstammt ist, und wenn der Mensch Sünde begeht, dann geht er gegen sein eigenes, von Gott stammendes Wesen an. Er zerstört sich selbst, zunächst den Geist und dann auch den Körper. Aber die Sünde besitzt gleichzeitig auch kosmische Tragweite, d. h. der Mensch kann nur sündigen an den Dingen dieser Welt, an den Geschöpfen, und wenn er sie in der Sünde mißbraucht, dann zerstört er die Welt, dann ruft er das Chaos hervor. Der Sünder ist der Totengräber der Schöpfung.
Vom Glauben müssen wir dann auch die Sündenvergebung verstehen. Die Sündenvergebung besteht darin, daß die Sündhaftigkeit der Sünde vernichtet wird, daß die Schuldhaftigkeit der Sünde aufgehoben wird. Das ist nur jemandem möglich, der keinen Anteil an der Sünde hat; das ist nur Gott möglich. So wie nur ein Gläubiger dem Schuldner vergeben kann, so kann auch nur Gott die Sünde vergeben. Der Mensch ist unfähig, von sich aus die Sünde aufzuarbeiten. Gott muß zu ihm kommen und ihm die Sünde nachlassen. Gott vermag die Sünde zu vergeben, weil er der Heilige ist, weil er der Allheilige, weil er der dreimal Heilige ist. Er durchschaut die Abgründigkeit der Sünde bis in die letzten Tiefen, und kraft seiner Heiligkeit behauptet er sich auch gegen die Sünde, vermag er die Sünde in einer Weise zu vernichten, wie es keiner menschlichen, geschöpflichen Tätigkeit möglich ist. Gott beseitigt die Sünde nicht dadurch, daß er sie nicht ernst nimmt, daß er sagt: Das ist nicht so böse gemeint. Er beseitigt sie auch nicht dadurch, daß er über die Sünde hinwegsieht, als ob sie nicht der Beachtung wert wäre. Er beseitigt sie nicht so, daß er sie verharmlost, als ob sie nicht weiter schlimm wäre. Nein, niemand vermag die Abgründigkeit der Sünde so zu durchschauen wie Gott, weil sie kraft seiner Heiligkeit von ihm bis in die letzten Tiefen durchschaut wird.
Und weil er nicht nur die Allheiligkeit, sondern auch die Liebe in Person ist, vermag er die Sünde dem Menschen zu vergeben. Er vergibt sie so, daß er die Sünde hinwegnimmt. Meine lieben Freunde, wenn die Sünde vergeben ist, dann ist sie vernichtet, dann bleibt im Menschen von der Sünde keine Spur zurück, die als Sünde bezeichnet werden kann. Natürlich wird das geschichtliche Geschehen nicht rückgängig gemacht. Was einmal passiert ist, das bleibt ein Element der Geschichte. Selbstverständlich können auch noch Auswirkungen der Sünde bleiben, etwa ein zerstörter Körper. Aber die Sünde und alles, was an der Sünde sündhaft ist, wird dem, dem Gott die Sünden vergeben hat, weggeräumt. Es bleibt nichts übrig. Gott haßt nichts von dem, was im Menschen ist, wenn die Sünde vergeben ist.
Da sehen wir das Glück der Sündenvergebung. Wir müssen es empfinden, meine lieben Freunde. Wir müssen es auch, wenn möglich, im Gefühl empfinden, wie beglückend es ist, Nachlassung der Sünden zu empfangen. Es ist eine große Freude im Menschen, es muß eine Freude in ihm sein, wenn er hört das Wort: „Deine Sünden sind dir vergeben. Gehe hin in Frieden!“
Amen.