25. Dezember 1985
Das Wort ist Fleisch geworden
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Daß Götter zu Menschen kommen, ist eine uralte Ahnung der Menschheit. In der griechischen Sage wird häufig von solchen Besuchen der Götter auf Erden berichtet. Etwa, als die Götter zu Tantalus kamen. Was die Sage raunt und was der Mythos ahnt, das hat die Geschichte in helles Licht gesetzt, nämlich die Menschwerdung Gottes, daß einmal zu geschichtlicher Stunde und an geschichtlichem Orte Gott diese Erde betreten hat, daß er sich eine menschliche Natur angeeignet hat und auf dieser Erde erschienen ist.
Soeben haben wir im Evangelium des Johannes vernommen: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ „Das Wort“ ist eine schlechte, aber wohl unumgängliche Übersetzung des griechischen Begriffes logos. Logos ist viel mehr als das menschliche, aus unserem Munde entströmende Wort. Logos ist die ungeschaffene Weisheit Gottes, die personhafte Weisheit Gottes, die in Präexistenz, also in einer vorirdischen Daseinsweise existierende Weisheit Gottes. Und von diesem Logos sagt Johannes: „Er ist Fleisch geworden.“
Warum denn Fleisch? Fleisch ist der Inbegriff des Geschöpflichen in der biblischen Sprache. Fleischwerdung bedeutet etwa nicht nur, daß er einen Körper angenommen hat, es bedeutet ebensogut, daß er eine menschliche Seele sich angeeignet hat. Aber Fleisch ist die Geschöpflichkeit, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Hinfälligkeit und der Schwäche.
„Und hat unter uns gewohnt.“ 33 Jahre ist er in der menschlichen Natur auf dieser Erde gewandert, hat er unter uns gelebt und ist für uns gestorben. Das heißt: Er hat unter uns gewohnt. Er hat eine Zeltwohnung aufgeschlagen unter uns, so müßte man genaugenommen übersetzen. Er hatte hier keine dauernde Bleibe.
Der Logos ist Fleisch geworden. Das bedeutet, daß Gott der ewige Vater dieses Logos ist. Im Glaubensbekenntnis wird genau unterschieden zwischen der ewigen Geburt Jesu Christi aus dem Vater und der zeitlichen Geburt aus der Jungfrau Maria. Das ist ganz deutlich auseinanderzuhalten. Von Ewigkeit ist er Gott von Gott, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt – das ist ein Unterschied –, nicht geschaffen. Zeugung ist nämlich die Hervorbringung eines Gleichen ohne werkzeugliche Methodik. Davon abgesetzt die Menschwerdung des Logos in der Zeit, aus der Jungfrau Maria, nicht, wie es in der neuen Übersetzung heißt: „von“. Da ist ein großer Unterschied in den Präpositionen: „aus!“ Das heißt: Alles, was Christus als Mensch hat, das hat er aus seiner Mutter, der Jungfrau Maria, das hat er nicht mitgebracht aus dem Himmel und auch nicht anderswoher, sondern aus dem Körper seiner Mutter Maria.“Durch den Heiligen Geist!“ Alle Werke Gottes nach außen sind den drei Personen gemeinsam. So lautet ein unumstößlicher Satz der katholischen Dogmatik. Aber das hindert nicht, daß besondere Werke den einzelnen Personen zugeschrieben werden. Und weil die Menschwerdung ein Akt der höchsten Liebe Gottes ist, deswegen wird dieser Akt der personhaften Liebe von Vater und Sohn, dem Heiligen Geist, zugeschrieben. Durch den Heiligen Geist, aus Maria. So ist die genuine katholische Formel. Denn der Heilige Geist ist es, dem diese wunderbare Menschwerdung zugeschrieben wird.
Maria hat also den ganzen Menschen Jesus geboren, und der war von Anfang an, vom ersten Augenblick seiner irdischen Existenz mit dem Logos verbunden. Heute feiern wir nicht eigentlich die Menschwerdung Jesu, denn sie ist schon neun Monate vorher geschehen. Heute feiern wir sein Heraustreten aus dem Mutterleib, und insofern ist es die Menschwerdung, als jetzt aller Menschheit auf der ganzen Welt bekannt wird: Jetzt ist er da, der Weltschöpfer, der, der alles Unheil aufarbeitet, der Schlangentreter, jetzt ist er da.
Gott ist also in zweifacher Hinsicht der Vater Jesu. Einmal durch ewige Zeugung, zum anderen durch die Bildung der Menschheit Jesu in der Jungfrau Maria. Der Nährvater Josef hat mit dem Hervorgang Jesu nichts zu tun. Er ist der Schützer Mariens und des Jesusknaben. Er ist bestellt worden, damit er für Maria und das Jesuskind sorge, damit sie auf der Flucht einen Beschützer hätten, auch damit die Ehre Mariens unangetastet blieb. Aber mit dem Hervorgang Jesu aus der Jungfrau Maria hat Josef nichts zu tun. Er ist in keiner Hinsicht der biologische Vater Jesu, wie es ungläubige Theologen unserer Zeit verbreiten. Er ist der Nährvater Jesu und der Beschützer der heiligen Familie, und darin erschöpft sich seine Aufgabe.
Gott ist ein Mensch geworden. Das ist ein unergründliches Geheimnis. Wir ehren es jeden Tag dreimal, wenn wir den Engel des Herrn beten. Da wird das Zwiegespräch zwischen dem Engel und Maria wiederholt. Durch ihr Ja hat Maria den Gottessohn auf die Erde gleichsam herabgezogen. Dies ist ein unergründliches Geheimnis, und wir können nur mit unseren schwachen Kräften versuchen, in dieses Geheimnis einzudringen. Gott hat selbstverständlich nicht den Himmel verlassen, als er ein Mensch wurde. Er hat eine Grenze überschritten, aber nicht die Grenze zwischen zwei territorialen Bereichen, sondern die Grenze, die zwischen Geschöpf und Schöpfer besteht.
Nur die zweite göttliche Person hat die Menschwerdung vollzogen, nicht die erste und nicht die dritte. Die Theologen haben darüber nachgedacht, ob auch der Vater und ob auch der Heilige Geist hätte Mensch werden können. Sie sagen: An sich wäre es möglich gewesen, aber die Menschwerdung ist allein vom Logos, von der zweiten göttlichen Person vollzogen worden. Als Antwort geben die Theologen an: Derjenige, der der Sohn Gottes war, sollte, weil er Sohn ist, auch der Sohn des Menschen sein. Im Philipperbrief heißt es, Christus habe seine Gottgleichheit nicht wie einen Raub festgehalten, sondern er habe sich entäußert, er habe die Gestalt eines Menschen angenommen und sei im Äußeren erfunden worden wie ein Mensch. Das ist tatsächlich das Geheimnis der Weihnacht. Er, der reich war, wurde arm, damit wir reich würden. Er, der der Herr war, wurde ein Knecht, damit wir Herren würden. Aber das bedeutet nicht, daß der Herr aufgehört habe, Gott zu sein. Der Nazarener Jesus ist von Anfang an ohne Unterbrechung und ohne Aufhören der Logos geblieben. Daß er sich entäußert hat, bedeutet nur, daß er eben in diese Knechtschaft des Fleisches eingegangen ist, daß er, dem Ehre und Herrlichkeit geziemt hätten, die Plackerei, die Mühsal und die Last des irdischen Lebens auf sich genommen hat. Über dieses Geheimnis kann und muß man endlos staunen.
In der Weihnachtsnacht hatte der Organist von St. Florian in Österreich, Anton Bruckner, gar wundersam die Orgel gespielt, und er war nachher nicht nach Hause gekommen. Man suchte ihn. Da fand man ihn, wie er an der Krippe kniete. „Meister,“ so sagten seine Hausgenossen, „was habt Ihr hier die ganze Nacht gemacht?“ Da gab Bruckner zur Antwort: „Ich habe immer nur vor mich hingesagt: Er ist ein Mensch geworden! Er ist ein Mensch geworden! Und da bin ich vor Staunen nicht mehr fertig geworden.“ Dieser große Künstler hatte etwas vom Geheimnis der Weihnacht verstanden. Wer die Wirklichkeit der Menschwerdung betrachtet, der wird wahrlich vor Staunen nicht mehr fertig. Aber er muß das Geheimnis stehen lassen und darf es nicht zerpflücken, wie der Herr Dexheimer, der Chefredakteur der Mainzer Allgemeinen Zeitung, der von Legende spricht, oder wie ein katholischer Bischof, der in der Zeitung DIE WELT von legendenhaften Zügen der Weihnachtsgeschichte spricht. Wer so redet, der läßt das Geheimnis nicht stehen, der kann auch nicht mehr staunen.
Nein, meine Christen, vom ersten bis zum letzten Buchstaben der Heiligen Schrift müssen wir annehmen, was Gottes Geist uns zu offenbaren sich gewürdigt hat. „Er ist ein Mensch geworden, und da bin ich vor Staunen nicht mehr fertig geworden!“
Er ist ein Mensch geworden für uns. Denn so heißt es im Glaubensbekenntnis: Propter nos homines et propter nostram salutem descendit de coelis – Wegen uns Menschen und wegen unseres Heiles willen ist er vom Himmel herabgestiegen. Er hat sich aufgemacht, die Verlorenheit der Menschen zu überwinden. Er hat es unternommen, den Menschen aus seiner Knechtschaft zu befreien.
Der Herr und Heiland hat den Auftrag des Vaters erfüllt, eine vollkommene Genugtuung für die Schuld der Menschen durch seinen Erlösungstod am Kreuze zu leisten. Das hat uns Anselm von Canterbury, der große mittelalterliche Theologe, wunderbar erklärt. Gott wollte eine vollkommene Genugtuung. Er hätte sich auch mit weniger begnügen können, aber nein, er wollte eine vollkommene Genugtuung für die Schuld der Menschen. Die Liebe Gottes, aber auch die Gerechtigkeit Gottes sollte unübersehbar geoffenbart werden, und das war nur möglich durch ein Todesleiden, durch einen Erlösungstod. Ein Mensch konnte wohl sterben, konnte auch für andere sterben, aber seine Genugtuung war zu arm, sie reichte nicht aus, um eine ganze Menschheit zu erlösen. So mußte also Gott die Erlösung auf sich nehmen. Aber wäre er nur Gott gewesen, dann hätte er nicht sterben können. So mußte er einen menschlichen Leib annehmen, um in diesem Leib die Sündenschuld an das Kreuz zu tragen, die Schuldschrift, die wider uns lautet, an das Kreuzesholz zu heften und damit auszulöschen.
Aus diesen Zusammenhängen sieht man, daß nur ein Gottmensch imstande war, die vollkommene Genugtuung zu leisten. Als Gott konnte er eine Genugtuung in überreichem Maße bewirken, als Mensch konnte er das Leid auf sich nehmen, ohne das die Genugtuung nicht erbracht werden sollte.
O wunderbares Geheimnis der Menschwerdung unseres Herrn und Heilandes! „Er ist ein Mensch geworden, er ist ein Mensch geworden, und da bin ich vor Staunen nicht mehr fertig geworden.“
Amen.