Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. März 2012

Jesus, der wahre Sohn Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die zentrale Wirklichkeit im Christentum ist niemand anders als Jesus Christus. Das Christentum ist identisch mit Jesus Christus. So kann man in einem richtigen Sinne sagen. Um seine Person dreht sich alles. Aber wer ist Jesus Christus? Darüber geben Auskunft die kirchlichen Glaubensquellen: die Heilige Schrift und die Überlieferung. Zwei: Die Schrift und die Überlieferung. Bevor auch nur eine Zeile über Jesus geschrieben war, gab es eine mündliche Überlieferung, gab es eine Predigt von Jesus. Und auch als die Evangelien geschrieben waren, lief die mündliche Verkündigung, lief die Predigt von Jesus daneben her. Und nicht nur die Predigt, sondern auch der Gottesdienst, die Verehrung, gehört zu dieser Überlieferung und sagt uns, wer Jesus ist. Selbstverständlich schätzen wir die schriftlichen Zeugnisse von Jesus überaus hoch. „Schon viele haben es unternommen“, schreibt der Evangelist Lukas am Anfang seines Buches, „schon viele haben es unternommen, eine Darstellung der Begebenheiten zu verfassen, die in unserer Mitte zum Abschluss gekommen sind.“ Es gibt also viel mehr Evangelien, als wir in unserem kirchlichen Gebrauch haben. Die Kirche hat nur aus der großen Menge der schriftlichen Zeugnisse von Jesus vier auserwählt, weil sie wusste: Hier spricht der Heilige Geist, weil sie überzeugt war, diese vier kanonischen Evangelien enthalten die Wahrheit. Es sind die Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Aus ihnen und der mündlichen Überlieferung ist zu entnehmen, wer Jesus Christus ist.

An erster Stelle können wir uns berufen auf seine Selbstzeugnisse. Was sagt er von sich selbst? Er nannte sich den „Menschensohn“. Damit nahm er Bezug auf eine Vision im alttestamentlichen Buche Daniel. In diesem Buche wird der Menschensohn als eine Hoheitsgestalt geschildert, die in Gottes Umgebung weilt. Als Jesus am Sabbat einen Mann mit einer verdorrten Hand heilte und die Pharisäer ihm deswegen Vorwürfe machten, erklärte er: „Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat.“ Eine solche Aussage ließ die Anwesenden aufhorchen. Als er von seinem Leiden und von seinem Tode sprach, fügte er hinzu, er werde am dritten Tage auferstehen, und nicht nur das. Er kündigte an: „Der Menschensohn wird in der Herrlichkeit seines Vaters kommen und jedem nach seinen Werken vergelten.“ Er erklärt sich zum Richter; zum Richter der Lebenden und der Toten. Vor der höchsten jüdischen Behörde, am Abend vor seinem Tode, im Angesicht des bevorstehenden Leidens, erklärt Jesus: „Ihr werdet den Menschensohn zur Rechten Gottes sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.“ Er setzt sich an die Seite Gottes. Wenn Jesus seine Sendung beschreibt, macht er auch immer Aussagen über sich selbst: „Ich bin im Namen meines Vaters gekommen; zum Gericht bin ich in die Welt gekommen, damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden.“ – „Ich bin gekommen, damit ich die Welt rette. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater als durch mich.“ – „Ich bin ein König“, sagt er vor Pilatus, „ich bin ein König. Dazu bin ich geboren und in die Welt gekommen, dass ich der Wahrheit Zeugnis gebe.“ Auskunft über Jesus gibt er selbst.

Auskunft geben aber auch seine Reden. Jesus hat ja viele Reden gehalten. Die bekannteste unter seinen Predigten ist die „Bergpredigt“, wo der Evangelist Matthäus eine Zusammenfassung der Lehre Jesu bietet. Als Jesus seine Reden beendet hatte, da staunten die Scharen über seine Lehre, denn er lehrte wie einer, der Macht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten. Das heißt, er tradiert nicht bloß, er gibt nicht bloß weiter, was er überkommen hat, nein, er beansprucht für seine Worte Autorität. Als die Hohepriester ihre Bediensteten aussandten, um Jesus festzunehmen, kehrten diese unverrichteter Sache zu ihnen zurück. Die Hohepriester machten ihnen Vorwürfe, warum sie Jesus nicht mitgebracht hätten. Sie antworteten: „Niemals hat ein Mensch so geredet wie dieser Mensch.“ Die Reden zeugen von Jesus, geben uns Auskunft, wer Jesus ist.

Der dritte Weg zu seiner Erkenntnis sind seine Taten. Er heilte Kranke, Blinde, Aussätzige. Er vertrieb die Dämonen aus den Besessenen. Ein Aussätziger fiel vor ihm nieder und sagte: „Wenn du willst, kannst du mich gesund machen.“ Jesus streckte seine Hand aus, berührte ihn und sprach: „Ich will! Sei rein!“ Und der Aussatz ließ von ihm. Er gibt Toten das Leben zurück. Da war ein Synagogenvorsteher, Jairus mit Namen. Er meldete Jesus: „Meine Tochter ist gestorben, aber komm, lege deine Hand auf und sie wird leben.“ Jesus kam, ergriff ihre Hand und sprach: „Talitha kumi, Mädchen, ich sage dir: steh‘ auf!“ Und das Mädchen stand auf.

Wir sehen aus der Heiligen Schrift, wie sich die Menschen, die Zeitgenossen Jesu, mit seiner Person beschäftigten. Sie fragten: „Wer ist denn das eigentlich?“ Sie versuchten, Jesus in einer der ihnen bekannten Kategorien unterzubringen. Sie meinten, er sei der wiedererstandene Johannes der Täufer oder Elias oder Jeremias oder einer von den Propheten. Von den Propheten hatten sie gehört, die kannten sie. Und mit denen verglichen sie Jesus.

Als Jesus in Jerusalem einzog, da geriet die ganze Stadt in Bewegung und fragte: „Wer ist dieser?“ Die Volksscharen sagten: „Das ist der Prophet Jesus aus Nazareth.“ Viele spürten, dass das nicht ausreicht, wenn man Jesus unter die Propheten einreiht. So griffen sie höher und dachten an den Retter, der ihrem Volke verheißen war, an den Messias. Aus dem Volke in Jerusalem glaubten viele an ihn und sagten: „Ob der Messias, wenn er kommt, mehr Wunder wirken kann, als dieser?“ Die samaritanische Frau, mit der Jesus am Jakobsbrunnen zusammentraf, ging in ihren Heimatort Sichar und sagte zu ihren Mitbewohnern: „Ob der nicht der Messias ist?“ Das waren in Frageform vorgebrachte Vermutungen. Andere haben diese Fragen für sich beantwortet. Zwei Blinde schrien: „Erbarme dich unser, Sohn Davids.“ Klipp und klar wird hier gesagt: Das ist der Messias! Denn der musste aus dem Geschlecht Davids kommen. Die kananäische Frau in der Gegend von Tyrus und Sidon schrie ihm zu: „Erbarme dich meiner, Sohn Davids.“ Auch sie wusste: Das ist der Messias! Die Feinde Gottes, die ja häufig über hohe Intelligenz verfügen, die Feinde Gottes hatten keinen Zweifel daran, dass in Jesus der Messias erschienen ist. Die Dämonen stürzten auf ihn zu und schrien: „Du bist der Sohn Gottes!“ Der Satan, der Jesus in der Wüste versuchte und der eine besonders hohe Intelligenz besitzt, der Satan nannte ihn den Sohn Gottes.

Die Jünger waren von Jesu Messianität überzeugt. Vor Caesarea Philippi fragte Jesus sie, für wen sie ihn halten. Petrus antwortet im Namen der Apostel: „Du bist Christus“, das heißt der Messias, „der Sohn des lebendigen Gottes.“ Und Jesus bestätigt dieses Bekenntnis: „Nicht Fleisch und Blut hat dir dies geoffenbart, kein Mensch, sondern mein Vater, der im Himmel ist.“ Jesus wird also in den Evangelien eindeutig als der Messias, der Gesandte Gottes, der im Alten Bunde angekündigt worden war, erkannt. Aber dieser Messias war nach allgemeiner Überzeugung ein bloßer Mensch. Es reicht also nicht aus, wenn man die Persönlichkeit Jesu ausschöpfen will, zu sagen: „Du bist der Messias.“ Seine Reden und seine Taten erwecken in den Zeugen Erstaunen und Bestürzung. Sein Selbstbewusstsein überschreitet das bloß Menschliche. Als Jesus den Gichtbrüchigen, durch ein einziges Wort, vor aller Augen heilte, da gerieten alle in Staunen und sagten: „So etwas haben wir noch nie gesehen!“ Das ist analogielos, das ist einzigartig. Man brachte einen besessenen Stummen zu Jesus. Jesus trieb den Geist aus und der Stumme redete. Das Volk verwunderte sich und sagte: „Noch nie ist so etwas in Israel vorgekommen!“ Analogielos, einzigartig.

Jesus betätigte sich aber nicht bloß als Therapeut und als Exorzist. Zweimal lud er die Massen zu einem Abendessen ein, und aus wenigen Broten und noch weniger Fischen teilte er allen aus, und alle wurden satt. Als Jesus dem Orkan Einhalt gebot und das Seebeben zum Verstummen brachte, da fragten die Zeugen dieser Tat: „Was ist denn das für einer, dass ihm sogar Wind und Wellen gehorchen?“ Herr über die Natur ist nur der Schöpfer der Natur, der alles aus Nichts hervorgebracht hat, der waltet, machtvoll waltet von einem Ende der Erde zum anderen. Wenn Jesus der Natur gebietet, ist er dann nicht der auf Erden erschienene Schöpfer? Als Jesus dem Gichtbrüchigen die Sünden nachlässt, fragen die Anwesenden in ihrer Verlegenheit: „Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?“ Eine richtige Überlegung. Also: Wenn dieser Fremdling, wenn dieser Heimatlose Sünden vergibt, ist er dann nicht der auf Erden erschienene Gott? Langsam ging den Jüngern auf, dass Jesus das bloße Menschentum weit überschreitet. Dass er nicht bloß ein Prophet ist, und nicht auch bloß der Messias, sondern dass er weit mehr ist.

Die Lösung liegt in der Ankündigung Jesu, er sei der Sohn des himmlischen Vaters. Der einzigartige Sohn des himmlischen Vaters. Er nennt sich wiederholt und mit besonderer Betonung den Sohn, und Gott seinen Vater. Aber er ist Sohn in einer anderen Weise, wie es die übrigen Menschen sind. Von diesen kann nämlich keiner sagen, was er von sich sagt. Das steht bei Matthäus: „Alles ist mir von meinem Vater übergeben und niemand erkennt den Sohn, als nur der Vater. Und den Vater erkennt niemand als der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.“ Das steht bei Matthäus – ich sage das mit Betonung –, denn wenn es bei Johannes stünde, würden wir uns nicht wundern. Er hatte einen besonderen tiefen Blick. Aber nein, das ist die johanneische Stelle bei Matthäus. Johannes mit seinem tiefen Blick bewahrt die Worte auf, die uns Jesu Wesen vollends zeigen: „Ich und mein Vater sind eins.“ Ich und mein Vater sind eins. Als Philippus Jesus bat, er möge ihnen doch den Vater zeigen, da antwortet er: „Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen. Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist?“ Gott selbst zeugt für die einzigartige Sohnschaft Jesu. Wir haben es ja eben gehört im Evangelium. Auf dem Berge Tabor erklärt eine Himmelsstimme: „Dieser ist mein auserwählter Sohn, den höret!“ Hier ist vom Vater und vom Sohn die Rede. Aber wie ist diese Beziehung zu erklären? Welches Verhältnis obwaltet zwischen diesem Vater und diesem Sohn? Auch die übrigen Menschen nennen Gott ihren Vater, und Jesus hat uns gelehrt, zu beten: „Vater unser…“ Ja, jene was unterscheidet denn seine Sohnschaft von der Sohnschaft, die wir auch durch die Gnade besitzen? Jesu Beziehung zum Vater unterscheidet sich von der anderer Menschen, auch von der seiner Jünger. Wiederholt erklärt er seine einzigartige Verbindung mit dem Vater: „Glaubt mir, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist!“

Nach der Auferstehung erklärt er seinen Jüngern: „Ich steige hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ Das heißt: seine Beziehung zum himmlischen Vater ist unvergleichlich, überragt diejenige, welche die Jünger auch in ihrer Frömmigkeit zu Gott haben. Der Evangelist Lukas und der Evangelist Matthäus lassen keinen Zweifel daran, dass Jesus sich als den Sohn Gottes verstanden hat. Der Evangelist Johannes ist in der Erkenntnis Jesu noch weiter vorgedrungen. Um sie auszudrücken, nimmt er eine Bezeichnung auf, die aus der Umwelt der damaligen Juden stammt. Er spricht vom Logos, vom Ewigen Wort, das bei Gott war und selber Gott ist. Dieses Wort „Logos“, der Begriff Logos, die damit gemeinte Wirklichkeit, stammt aus der jüdischen Weisheitsspekulation. Es schien ihm geeignet, auf Jesus Anwendung zu finden. Natürlich im übertragenen Sinne, gereinigt von falschen Vorstellungen. Denn er fügt gleich hinzu: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Gott hat niemand jemals geschaut. Der Eingeborene, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, der hat uns Kunde gebracht. Dieser Eingeborene ist niemand anders als Jesus von Nazareth. Hier ist es klar ausgesprochen: Der in Jesus von Nazareth spricht und handelt, hat nicht nur eine irdische Existenz etwa von dreißig Jahren. Nein, er hat vor dem irdischen Leben eine Präexistenz, ein Dasein vor seinem Erscheinen auf der Erde. Er ist der präexistente Gottessohn.

Aber da erhebt sich ein neues Problem, denn wie verhält sich denn der in Jesus erschienene Gott zu dem Gott der Väter – Abrahams, Isaaks und Jakobs? Das ist ein schweres Rätsel, und war auch für die Jünger ein schweres Rätsel. Eines hat die Kirche immer ausgeschlossen: Dass es mehrere Götter geben könnte. Es gibt nur einen Gott. Der Eingottglaube ist eine Grenzscheide, die auf keinen Fall überschritten werden darf. Ja, aber wie kann man die Einheit Gottes festhalten, wenn neben dem Gott der Väter der Gottmensch Jesus Christus steht? Um die Einheit Gottes festzuhalten, verfielen manche Christen auf den Ausweg, verschiedene Seinsweisen, verschiedene Erscheinungsweisen Gottes anzunehmen. In der Schöpfung, so sagten sie, erscheint Gott als der Vater, in der Erlösung als der Sohn. Und sie stellten den Satz auf: „Der Vater hat gelitten.“ Da wurde das Glaubensbewusstsein der Kirche wach. Nein, das ist unmöglich, das widerspricht der ganzen Leidensgeschichte der Bibel. Wie kann Jesus am Ölberg sagen: „Vater, wenn es möglich ist, dann lass‘ diesen Kelch vorübergehen.“ Das ist unmöglich zu sagen: „Der Vater hat gelitten.“ Das musste abgewiesen werden. Das sind die sogenannten „Patri-Passianer“, wie sich diese Männer nannten, die modalietischen Monarchianer, wie die Kirche sie bezeichnete.

Andere Christen gingen ebenfalls in der Absicht, die Einheit Gottes festzuhalten, einen umgekehrten Weg. Sie erniedrigten Jesus. Sie fielen hinter die schon erreichten Erkenntnisse zurück. Sie lehrten: Christus ist ein bloßer Mensch, wenn auch auf übernatürliche Weise aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau geboren. Bei der Taufe ist er mit göttlicher Kraft ausgestattet und von Gott an Sohnes Statt angenommen worden. Das ist der Ausweg der Ebioniten. Das ist der Ausweg der Nazaräer.

Die Kirche verwarf auch diesen Ausweg, denn sie wusste: Hier wird dem Heiland der Königsmantel seiner Gottheit von der Schulter gezogen.

Die Lösung musste natürlich gesucht werden in dem Verhältnis von Sohnschaft und Vaterschaft. Jesus steht zum Vater im Himmel in der Beziehung der Sohnschaft. Er hat also die Abstammung vom Vater, die Herkunft vom Vater, den Ursprung vom Vater. Und diesen Ursprung hat die Kirche mit dem glücklichen Wort „Zeugung“ bezeichnet. Vater, Sohn, Zeugung. Aber diese Zeugung ist natürlich nicht geschlechtlich zu verstehen. Das ist ein geistiger und geistlicher Vorgang: die Hervorbringung eines anderen, der mit dem Zeugenden wesensgleich ist. Die letzte Klarheit in dieser Dogmenentwicklung brachten Begriffe, die aus der griechischen Philosophie stammen. Es sind die Begriffe „Natur“ und „Person“. In Gott besteht Einheit der Natur und Dreiheit der Personen. Vater und Sohn sind dem Wesen nach gleich, verschieden nur nach der Personalität. Das göttliche Wesen ist und bleibt eines und ein einziges. Es verdoppelt sich nicht durch die Sohnschaft des Logos und es verdreifacht sich nicht durch den Hervorgang des Heiligen Geistes. Der Vater teilt dem Sohn die eine, einzige, Wesenheit mit, und Vater und Sohn teilen die eine einzige und eigene Wesenheit dem Heiligen Geist mit. Das göttliche Wesen ist der Zahl nach, nicht der Art nach, ist der Zahl nach eines. Also nicht, als ob jede göttliche Person ein eigenes Wesen besäße, sondern alle besitzen ein und dasselbe göttliche Wesen. Alle drei Personen besitzen die eine und einzige göttliche Wesenheit. Und wegen dieser Einheit bleibt der Gott der Christen ein einziger Gott.

Auch Jesus bleibt sich immer derselbe. Zu ihm kann nichts hinzugetan und von ihm kann nichts weggenommen werden. Menschen können ihm nicht etwas geben, was er nicht hatte. Wohl aber können dunkle Vorstellungen gelichtet werden. Unbestimmte Zuschreibungen können bestimmt werden. Dadurch, dass die Erkenntnis immer tiefer in das Wesen Jesu eindringt, wird er kein anderer. Jede frühere Erkenntnis bleibt erhalten. Und jede spätere Erkenntnis nimmt sie auf. Aber die Erkenntnis wächst. Das Bild Jesu wird durch die tiefer dringende Erkenntnis nicht verfälscht. Er wird nicht zu etwas gemacht, was er nicht war. Es werden ihm nicht Attribute zugeschrieben, die ihm nicht zukommen. Es findet nicht eine papierene Vergöttlichung, Apotheose, Jesu statt. Vielmehr wird durch Erkenntnis aus Jesus herausgeholt, was in ihm war. Sein Wesen wird aufgedeckt, seine Natur enthüllt. Jawohl, es existiert eine Entwicklung des Dogmas. Aber es ist eine Entwicklung ein und derselben Göttlichkeit. Es ist eine Entwicklung nicht im Gegenstand der Erkenntnis, sondern in der Erkenntnis.

Der Glaube an die Leitung der Kirche durch den Heiligen Geist sieht auch in dem Keim die spätere Entwicklung angelegt. Das Ei und das Huhn sind sehr verschieden. Aber das Huhn ist aus dem Ei geworden. Alles, was das Huhn ausmacht, war in dem Ei angelegt. Der Eichbaum ist von der Eichel verschieden. Aber der Eichbaum ist aus der Eichel entstanden. In der Eichel sind alle wesentlichen Merkmale des Eichbaums enthalten. So ist auch die Entwicklung der Dogmen eine explikative Entwicklung, das heißt, sie faltet aus, was unentfaltet war. Der bisher verborgene Sinn wird ans Licht gebracht. Neue Formulierungen bereichern die alte Erkenntnis. Aber es geht nichts verloren von der bisherigen Erkenntnis. Alte Dogmen werden nicht abgelegt oder ausgeschieden. Jesus bleibt der Messias, auch wenn er die Zweite Person in der Gottheit ist. Er bleibt der Menschensohn, auch wenn er der wesensgleiche Gottessohn ist. Das Dogma ist wesentlich konstant und unveränderlich. An seiner Konstanz hängt die Identität der Kirche. Die Kirche von heute muss mit der Kirche der Urzeit identisch sein. Und die Kirche ist eine apostolische Kirche. Der Glaube der Apostel muss auch unser Glaube sein.

Meine lieben Freunde, damit stehen wir katholischen Christen allein. Viele protestantische Theologen haben den Inhalt, den genuinen Inhalt des apostolischen Glaubensbekenntnisses aufgegeben. Sie nehmen Interpretationen vor, wie sie sagen, die in Wirklichkeit Umdeutungen sind. Ich zitiere einen sehr berühmten evangelischen Theologieprofessor, der erklärt: „Erledigt“ – erledigt – „ist die Geschichte von der Himmelfahrt Christi, der Glaube an Geister und Dämonen. Erledigt sind die Wunder, die christliche Endzeitlehre, die Auffassung des Todes als Sündenstrafe. Die Lehre von der Genugtuung Jesu sowie die Auferstehung Jesu. Erledigt sind Menschwerdung Christi, Sühnetod Christi, Dreieinigkeit, alles, das ist erledigt.“ Eine religiöse Gemeinschaft, die den Glauben der Apostel preisgibt, ist nicht mehr die Kirche Christi.

Ich habe versucht, meine lieben Freunde, Ihnen einen in der Predigt naturgemäß kurzen Abriss der Entwicklung zu geben, wie unsere Erkenntnis von Jesus gewachsen ist. Am Anfang steht der einfache Glaube, stehen oft bildhafte, volkstümliche Sätze über Gott. Aber er genügt nicht. Die Menschen fragen weiter, was heißt denn das: „Ich und der Vater sind eins?“ Das muss man doch erklären. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Ja, was sagt das? „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Was beinhaltet das? Beim letzten Abendmahl sagt der Herr: „Das ist mein Leib.“ Ja, das muss erklärt werden, was das bedeutet. Und das hat die Kirche getan. Sie hat es getan in der Kraft des Geistes, freilich auch durch menschliche Bemühungen. Dazu kamen die Angriffe von außen. Der Glaube ist immer gefährdet. Da mussten lehramtliche Formulierungen getroffen werden, die sich durch die Natur der Irrtümer bestimmen ließen. Irrtümer im philosophischen Gewand können nur durch Begriffe im philosophischen Gewand zurückgewiesen werden. Die philosophischen Begriffe werden natürlich bearbeitet, die Kirche wählt sie aus, aber sie passt sie der Wirklichkeit Jesu an. Wir haben es ja soeben gesehen beim Begriffe des Logos, des Wortes. Dass die Kirche dabei nicht in die Irre geht, dass es nicht zu einer Verfremdung kam, dafür bürgt der Geist der Wahrheit.

Die Schaffung solcher Formeln hat Jahrhunderte gedauert. Aber die Definitionen der Kirche haben endliche Klarheit gebracht. Noch auf dem Konzil von Trient wurde eine solche Definition vorgenommen, nämlich das, was in der Heiligen Messe geschieht, was auf den Altären sich ereignet, das ist eine Transsubstantiation, eine Wesensverwandlung. So erklärt das Konzil von Trient in unfehlbarer Weise. Der Beistand des Geistes sorgt dafür, dass bei der Formulierung der Dogmen die Kirche nicht in die Irre geht. Er sorgt dafür, dass die aufgestellten Sätze die gemeinte Wirklichkeit nicht verfehlen. Wir können deswegen, meine lieben Freunde, jedenfalls geht es mir so, der ich diese Dinge über Jahrzehnte lang studiert habe, wir können deswegen mit dem heiligen Paulus sagen: „O Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes, wie unerforschlich sind seine Gerichte, wie unaufspürbar seine Wege. Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt oder wer ist sein Ratgeber gewesen oder wer hat ihm zuerst gegeben, so dass es ihm vergolten werden müsste? Aus ihm und durch ihn und in ihm ist alles. Ihm sei Ehre und Herrlichkeit in Ewigkeit.“

Amen.

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