Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
13. Juni 2004

Das Märchen von der „gemeinsamen“ Bibel

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Aber die Bibel haben wir gemeinsam!“ So höre ich die Ökumeniker sagen. Katholiken und Protestanten, so behaupten sie, haben dieselbe Bibel. Ist das zutreffend oder ist das ein hohles Schlagwort? Haben Katholiken und Protestanten wirklich dieselbe Bibel? Wir werden sehen, meine lieben Freunde, dass sich Katholiken und Protestanten in bezug auf den Umfang, auf die Übersetzung und auf die Erklärung der Bibel voneinander unterscheiden.

Der Umfang der Bibel ist festgelegt im sogenannten Kanon. Das kirchliche, das oberste kirchliche Lehramt hat bestimmt, welche Bücher zum Alten und zum Neuen Testament gehören. Der Kanon des Alten Testamentes umfasst 45 Bücher, der Kanon des Neuen Testamentes 27 Bücher. Mit höchster lehramtlicher Vollmacht, ja mit Unfehlbarkeit ist festgestellt, dass diese Bücher Gott zum Urheber haben, von Gott inspiriert sind und uns den Glauben der Offenbarung vermitteln sollen. Der Protestantismus hat einen anderen Kanon. Luther streicht aus dem alttestamentlichen Kanon sieben Bücher, also statt 45 bleiben 38. Sieben Bücher werden von ihm aus dem Kanon verwiesen: das Buch der Weisheit, das Buch Jesus Sirach, das Buch Baruch, das Buch Judith, das Buch Tobias und das erste und zweite Makkabäerbuch. Sind denn diese Bücher überflüssig für die Begründung des Glaubens? Benötigen wir sie nicht, um das uns zu lehren, was Gott uns vermittelt haben wollte?

Diese Bücher sind keineswegs unbeachtlich, meine lieben Freunde. Im Buch der Weisheit sind grundwesentliche Wahrheiten unseres Glaubens enthalten. Zum Beispiel wird darin gelehrt, dass Gott aus der Natur erkannt werden kann. Man kann aus der Wirkung auf die Ursache zurückschließen. Das lehrt das Buch der Weisheit. Im selben Buch der Weisheit ist vom ewigen Leben der Seelen die Rede, also keine Ganztodhypothese, wie sie im Protestantismus vertreten wird, sondern vom ewigen Leben der Seele wird uns dort Belehrung zuteil. In den Makkabäerbüchern werden wir belehrt, dass es einen Zwischenzustand zwischen Hölle und Himmel gibt, nämlich das Fegfeuer. Die Kirche hat immer die Makkabäerbücher in dem Sinne verstanden, dass hier Hinweise auf das Fegfeuer, auf den Reinigungszustand enthalten sind. Kein Wunder, dass der Protestantismus den Reinigungszustand verwirft. Er verwirft ihn, weil er die Bücher verwirft, in denen der Reinigungszustand ausgesagt ist. Es ist also unzutreffend zusagen, Katholiken und Protestanten haben dieselbe Bibel. Nein, sie haben nicht dieselbe Bibel.

Das gilt auch für das Neue Testament. Auch im Neuen Testament scheidet Luther mehrere Bücher und sagt, sie gehörte nicht zu den rechten gewissen Hauptbüchern des Neuen Testamentes, und zwar handelt es sich dabei um den Hebräerbrief, um den Jakobusbrief, um den Judasbrief und um die Johannes-Apokalypse. Warum setzt er diese Bücher an das Ende des Kanons oder weist sie ganz aus dem Kanon? Weil sie nicht in seine Theologie passen. Er findet dort das nicht wieder, was er als seinen Glauben ansieht. Ein Beispiel dafür ist der Brief des Apostels Jakobus. In diesem Briefe heißt es: „Was hilft es, meine Brüder, wenn einer sagt, dass er Glauben habe, wenn er keine Werke hat? Kann etwa der Glaube ihn selig machen?“ Hier sehen wir, warum Luther diesen Brief verwirft. Er selbst predigt ja die Gerechtigkeit allein aus Glauben, und hier wird gesagt, dass der Glaube nicht genügt, um selig zu werden. „Was hilft es, meine Brüder, wenn einer sagt, dass er Glauben habe, wenn er keine Werke hat? Kann etwa der Glaube ihn selig machen?“ Das ist der Grund, warum der Jakobusbrief von Luther als eine stroherne Epistel bezeichnet wird. Strohern, das heißt ohne gediegenen Inhalt. Dabei ist der Jakobusbrief für uns von größter Wichtigkeit. In ihm ist das Sakrament der Krankensalbung, der Letzten Ölung, bezeugt. „Ist jemand krank unter euch, so rufe er die Priester der Kirche, dass sie über ihn beten und ihn mit Öl salben, und das Gebet des Glaubens wird ihn aufrichten.“ Kein Wunder, dass der Protestantismus das Sakrament überhaupt nicht kennt. Es ist falsch, zu sagen, Katholiken und Protestanten haben dieselbe Bibel. Sie haben nicht dieselbe Bibel.

Ähnliches gilt für die Übersetzung. Die Bibel ist in hebräischer und in griechischer Sprache geschrieben. Wer diese Sprachen nicht kennt, muß sich an Übersetzungen halten, und Übersetzungen sind selbstverständlich von Anfang an vorgenommen worden, auch Übersetzungen in die germanischen Sprachen, in die deutsche Sprache. Wir kennen eine Übersetzung aus dem Jahre 370 von dem gotischen Bischof Ulfilas. Er veranstaltete eine Übersetzung der Bibel ins Gotische. Wir wissen, dass die alte deutsche Sprache ebenfalls Bibelübersetzungen kannte. Aus dem Jahre 748 haben wir ein Fragment, ein Bruchstück erhalten einer Bibelübersetzung in das damalige alte Deutsche. Erst recht sind Bibelübersetzungen veranstaltet worden, als der Druck aufkam. Von 1466 bis 1521 wurde 14 hochdeutsche und 4 niederdeutsche Übersetzungen der Bibel veranstaltet. 14 hochdeutsche und 4 niederdeutsche Druckausgaben der Bibel vor Luther, denn er gilt ja als derjenige, der die Bibel für die Deutschen entdeckt hat, was ein Märchen ist. Die Bibel war längst in Deutschland bekannt, übersetzt und im Gebrauch, als Luther daran ging, die Bibel zu übersetzen.

Er hat sie übersetzt, aber seine Übersetzung hat viele Mängel. Zunächst einmal war seine Grundlage, nämlich die Handschriften der Bibel, unzureichend. Er stützte sich für die hebräische Bibel auf eine Ausgabe in Brescia von 1494 und für das Neue Testament auf die zweite Ausgabe von Erasmus von Rotterdam. Das war natürlich eine viel zu schmale Grundlage, um eine gediegene Bibelübersetzung zustande zu bringen. Aber nicht nur das. Er übersetzte seine Bibel so, dass er seine Theologie in sie eintrug. Jede Übersetzung verrät ja etwas vom Verständnis, das einer vom Text gewinnt, und er verstand sie eben so, wie er sich die Theologie zurechtgemacht hatte, im Gegensatz zur katholischen Kirche.

Ein Beispiel für diese Weise, wie Luther arbeitete, ist der Römerbrief. Im Römerbrief heißt es in 3,28: „Wir halten dafür, dass der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt werde, ohne die Werke des Gesetzes.“ „Wir halten dafür, dass der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt werde, ohne die Werke des Gesetzes.“ Was macht Luther? Er fügt ein Wort ein: „Wir halten dafür, dass der Mensch durch den Glauben, allein durch den Glauben, gerechtfertigt werde.“ Das Wort allein steht nicht im Urtext; das Wort hat er eingefügt. Warum? Um gegen die katholische Kirche eine Handhabe zu haben, die eben außer dem Glauben noch andere Dispositionsakte für die Rechtfertigung verlangt. Nach katholischer Lehre genügt der Glaube allein nicht, um gerechtfertigt, also geheiligt zu werden, sondern es braucht auch die heilsame Furcht vor der Gerechtigkeit Gottes. Es braucht auch die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes. Es braucht auch den Anfang der Liebe. Es braucht vor allem Reue, also Abscheu vor der Sünde, und Vorsatz. Niemand wird gerechtfertigt ohne Reue. Das alles weist Luther ab mit seinem Wörtchen „allein“. „Wir halten dafür, dass der Mensch allein durch Glauben gerechtfertigt werde.“

Solche Übersetzungen können wir nicht akzeptieren, solche Übersetzungen, die vorgeformt sind durch die Anschauung, die ein Einzelner vom Glauben der Kirche gewonnen hat. Diese Übersetzungen sind eine Gefahr, und wer sie übernimmt, der gerät mit der Übersetzung in das Risiko, den darin verborgenen nichtkatholischen Glauben zu übernehmen. Katholiken und Protestanten unterscheiden sich auch in der Übersetzung.

Sie unterscheiden sich drittens erst recht in der Erklärung der Heiligen Schrift. Der Protestantismus behauptet, die Schrift erkläre sich selbst. Das ist natürlich barer Unsinn. Kein Buch erklärt sich selbst. Jedes Buch muß erklärt werden. Wenn wir in der Schule Cäsars „Gallischen Krieg“ gelesen haben, dann wissen wir, dass der Lateinlehrer uns erklären musste, was da an unverständlichen Begriffen, Ausdrücken und Worten in dem Buche enthalten war. Jedes Buch bedarf der Erklärung. Die Erklärung muß sich natürlich an den Gegebenheiten ausrichten. Sie darf nichts in den Text eintragen, was nicht darin steht; sie muß redlich sein. Die Heilige Schrift ist auch nicht überall durchsichtig und klar. Sie ist an vielen Stellen schwer verständlich und kann nur mit Hilfe von soliden Erklärungen, manchmal nur durch lehramtliche Feststellungen, erklärt werden. In der Heiligen Schrift selbst wird ausgesagt, dass sie schwer zu verstehen ist, nämlich im zweiten Petrusbrief. Da schreibt der Apostel: „So hat unser lieber Bruder Paulus euch geschrieben mit der ihm eigenen Weisheit wie in allen seinen Briefen, wo er von diesen Dingen redet. Manches in ihnen ist schwer zu verstehen, was dann die Ungebildeten und Ungefestigten, wie sie es auch mit den übrigen Schriften tun, zu ihrem eigenen Verderben verdrehen.“ Ich wiederhole noch einmal diesen grundsätzlichen Satz: „Manches in ihnen ist schwer zu verstehen, was dann die Ungebildeten und Ungefestigten, wie sie es auch mit den übrigen Schriften tun, zu ihrem eigenen Verderben verdrehen.“ Nein, die Erklärung der Schrift ist eine hohe Kunst, und deswegen gibt es berufsmäßige Erklärer der Heiligen Schrift. Freilich, alle Menschen können irren; nur einer irrt nicht, nämlich Gott. Nur wenn Gott die Wahrheit einer Stelle verbürgt, sind wir sicher, dass sie auch so vom Heiligen Geist gemeint ist.

Ich will Ihnen ein Beispiel geben, wie Protestanten die Heilige Schrift verstehen. Sie alle kennen die Stelle Mt 16,18: „Ich sage dir, du bist Petrus“ – also der Fels – „und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.“ Die Protestanten bieten dazu drei Erklärungen an. Die erste: Die Stelle ist unecht; sie ist später eingetragen worden. Das Wort ist nicht von Jesus gesprochen, sondern von den Aposteln oder von einem Redaktor erfunden worden. Alle Handschriften, die wir besitzen vom Matthäusevanglium, enthalten diese Stelle. Sie ist nicht später eingetragen worden, sie ist von Anfang an im Matthäusevangelium enthalten. Eine andere Erklärung sagt: Das geht auf den Glauben des Petrus. Auf den Glauben des Petrus will Gott seine Kirche bauen. Aber das steht doch gar nicht da. Es heißt doch nicht: Auf deinen Glauben will ich die Kirche bauen, sondern auf dich, auf die Person will ich die Kirche bauen. Eine dritte Erklärung sagt: Das geht schon auf den Petrus. Petrus ist tatsächlich gemeint in diesem Text, aber er sollte keine Nachfolger haben. Es geht nur auf den Petrus, nicht auf etwaige Nachfolger. Ja aber, meine lieben Freunde, wenn Petrus das Fundament ist, wie soll denn da ein Gebäude bestehen ohne Fundament? Muß er nicht einen Nachfolger haben, wenn er das Fundament ist? Sie sehen an dieser Stelle, an diesem Beispiel, wie die Erklärungen der Heiligen Schrift auseinander gehen. Wir glauben an das, was in goldenen Lettern an der Kuppel des Petersdomes in Rom geschrieben steht, nämlich dass damit der Primat des Apostels Petrus, der Primat des römischen Bischofs begründet wurde.

Wenn Sie einmal nach Ottobeuren kommen, dann können Sie sich ein Bild zeigen lassen, das früher im Kreuzgang hing, das man aber jetzt offenbar weggenommen hat; aber es muß noch im Kloster sein. Auf diesem Bilde ist Folgendes zu sehen. Jesus sitzt mit den Glaubensneuerern zu Tische. Jeder von ihnen hat in seiner Hand ein Spruchband, auf dem seine Lehre der Eucharistie enthalten ist. Zwingli hat ein Spruchband, auf dem steht geschrieben: „Das bedeutet meinen Leib.“ Calvin hat ein Spruchband, auf dem steht die Inschrift: „Das ist Kraft von meinem Leibe.“ Luther hat ein Spruchband, auf dem geschrieben steht: „Das enthält meinen Leib.“ Und Jesus hat ein Spruchband, auf das er mit Wehmut blickt, und auf diesem Spruchband steht geschrieben: „Das ist mein Leib.“ An diesem schönen Bild können Sie die Unterschiedlichkeit der Auslegung der Heiligen Schrift an einer entscheidenden erkennen.

Wenn im Protestantismus jemand das Wort von Petrus im Matthäusevangelium so versteht wie die Katholiken, dann verliert er sein Amt. Der evangelische Pfarrer Richard Baumann hat erklärt, dass die Stelle Mt 16,18 besagt: Es gibt ein Fundament der Kirche, das ist der Petrus bzw. das Papsttum, und auf dieses Fundament hat der Herr seine Kirche gebaut. Gegen den Pfarrer Richard Baumann wurde ein Lehrzuchtverfahren angestellt, und er musste aus seinem Amte scheiden.

Meine lieben Freunde, in diesen kurzen Ausführungen haben wir erkannt: Es ist unrichtig, zu sagen, Katholiken und Protestanten haben dieselbe Bibel. Die Bibel der Katholiken unterscheidet sich von der der Protestanten im Umfang, im Text und in der Erklärung. Die Bibel ist das Werk des Heiligen Geistes, und sie ist das Eigentum der Kirche. Der Heilige Geist lässt dieses Werk nicht im Stich. Er hat sein Lehramt eingesetzt, das die Bibel untrüglich, mit unfehlbarer Sicherheit auslegt. Der Heilige Geist behält die Herrschaft über die Bibel in der Erklärung des Lehramtes und durch die Erklärung des Lehramtes. Amen.

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