Predigtreihe: Jesus, unser Gott und Heiland (Teil 7)
9. Juni 1991
Die Geschichtlichkeit der Evangelien
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Bei einem Bauwerk kommt es entscheidend auf das Fundament an. Das Fundament muß festgelegt sein. Dann kann sich auch der Bau erheben und ist vor Erschütterungen sicher. Auch in unserem Leben gibt es ein Fundament, und dieses Fundament ist unser Glaube. Wenn der Glaube fest ist, dann wird auch die sittliche Haltung sich von selbst einfinden; denn wovon ich überzeugt bin, das werde ich auch in meinem Leben durchsetzen. Es kommt alles auf den Glauben an. Das ist der Grund, meine lieben Freunde, warum wir uns mit dem Fundament unseres Glaubens beschäftigen, das da ist gelegt in Christus Jesus, unserem Herrn. Wir haben uns die Frage gestellt: Was dünkt euch von Jesus? Wessen Sohn ist er? Und dieser Frage wollen wir so lange nachgehen, bis wir erschöpfend darüber gesprochen haben und den Grund, den Grund unseres Glaubens gelegt haben. Es kann keinen anderen Grund geben als den, der in Jesus Christus gelegt ist.
Von Jesus Christus erfahren wir in den vier Evangelien. Wir haben praktisch keine nennenswerten anderen Quellen außer den Evangelien. Was die Heiden und die Juden von Jesus vermelden, das ist verzerrt oder undeutlich. Die einzigen Quellen, die deutlich sprechen, sind die vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Da erhebt sich die Frage: Sind diese Quellen zuverlässig? Ist das, was in den Evangelien geschrieben steht, denn tatsächlich beglaubigt? Kann man sich darauf verlassen? Oder sind da Unsicherheit und Zweifel? Ist es so, wie ein protestantischer Theologe sagt, daß die Gestalt Jesu überhaupt nicht mehr zu erkennen ist in den Evangelien?
Die Evangelien sind uns überliefert worden durch fast 2000 Jahre. Sie wurden bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst geschrieben, mit der Hand geschrieben, zunächst auf Papyrus und dann auf Pergament. Pergament ist haltbar, Papyrus ist nicht haltbar. Die Abschriften der Evangelien, die auf Pergament geschrieben sind, haben Jahrhunderte überdauert, und wir sind in der glücklichen Lage, daß wir Handschriften besitzen, die bis ins 4., teilweise sogar bis ins 3. Jahrhundert zurückreichen. Aber weiter zurück haben wir keine Abschrift der Evangelien aus Pergament. Wenn Sie einmal nach London k0mmen, dann empfehle ich Ihnen, in das British Museum, in das Britische Museum zu gehen. Da liegt unter Glas der Codex Sinaiticus. Das ist eine Handschrift der Bibel, die auf dem Sinaikloster, also in Ägypten, im vorigen Jahrhundert entdeckt wurde. Dieser Codex Sinaiticus – ich habe ihn gesehen – stammt aus dem 4. Jahrhundert, ist eine unserer wertvollsten Handschriften der Evangelien. Und in Rom liegt der Codex Vaticanus, der es mit dem Codex Sinaiticus an Wert mindestens aufnehmen kann, er stammt ebenfalls aus dem 4. Jahrhundert. Das sind ganz gewichtige, und zwar auch sehr zuverlässige Textzeugen, welche uns die Texte, den Wortlaut der Evangelien überliefern. Zu diesen Handschriften – wir haben etwa viertausend Handschriften des Neuen Testamentes, viertausend! – aus Pergament kommen dann auch einige Papyri. Ägypten ist ein Land, in dem es selten regnet, und der Wüstensand Ägyptens hat uns manche Papyri aufbewahrt. Aus dem Wüstensand Ägyptens sind uns einige Fragmente, also Bruchstücke, von Evangelien überkommen. In den 30er Jahren unseres Jahrhunderts hat ein englischer Forscher, Chester Beatty, solche Papyri erworben. Noch etwas später hat Roberts, wiederum ein englischer Forscher, einen Papyrus erworben, in dem ein Stück des Johannesevangeliums abgeschrieben ist, und zwar ausgerechnet die Stelle, wo es heißt: „Ja, ich bin ein König.“ Diese Papyri reichen noch weiter zurück als die Pergamenthandschriften; sie stammen aus dem 2. Jahrhundert, und da sieht man, daß im 2. Jahrhundert schon das Johannesevangelium, das letzte der vier Evangelien, in Ägypten verbreitet war.
Wann sind die Evangelien entstanden? Darüber bestehen große Meinungsverschiedenheiten. Aber die soliden Forscher haben immer daran festgehalten: Die Evangelien sind sehr bald nach Tod und Auferstehung und Himmelfahrt unseres Heilandes entstanden. Man nimmt vor allem an, daß sie vor der Zerstörung von Jerusalem geschrieben worden sind. Wann ist Jerusalem zerstört worden? 70 nach Christus. Warum nimmt man an, daß sie vor der Zerstörung Jerusalems geschrieben worden sind? Weil die Zerstörung Jerusalems, die ja eine Weissagung unseres Heilandes war, nur in ganz dunklen Worten ausgesagt wird. Hätten die Evangelisten sie miterlebt, dann würden sie viel genauer beschrieben haben, wie die Zerstörung Jerusalems vor sich ging. Wir dürfen also annehmen, daß die Evangelien, jedenfalls die drei ersten Evangelien – Matthäus, Markus und Lukas – vor 70 geschrieben worden sind. Ja, wir können das sogar noch näher bestimmen. Lukas hat ja bekanntlich ein Evangelium und die Apostelgeschichte verfaßt. Die Apostelgeschichte bricht ab im Jahre 62. Das ist die erste Gefangenschaft Pauli in Rom; da saß er in der Hauptstadt des Römischen Reiches im Gefängnis. Und warum bricht sie ab? Nun, weil der Evangelist Lukas aus irgendwelchen Gründen verhindert wurde, sie fortzusetzen. In der Apostelgeschichte blickt er aber schon zurück auf den „proton logon“, auf das erste Wort, und das ist sein Evangelium. Also, wenn die Apostelgeschichte im Jahre 62 beendet wurde, dann muß das Evangelium vorher geschrieben worden sein, in den 60er oder in den 50er Jahren. Und erst recht gilt das für das Markusevangelium, welches wohl das älteste ist. Das Markusevangelium muß zwischen 50 und 60 entstanden sein. Eine Sonderstellung nimmt das Johannesevangelium ein, denn dieses ist mit Sicherheit erst am Ende des 1. Jahrhunderts geschrieben worden. Matthäus war ein Apostel, Markus und Lukas waren Jünger des Herrn, Apostelschüler. Der Verfasser des 4. Evangeliums ist der Jünger, den Jesus lieb hatte, und das ist kein anderer als Johannes. Er hat seinen Lebensabend in Ephesus, also in der heutigen Türkei, verbracht, und dort hat er sein 4. Evangelium geschrieben. Es überbietet die anderen Evangelien insofern, als er einen Standpunkt über dieser Welt gleichsam einnimmt, als er die Herrlichkeit Christi, seines Herrn, auch in seinem irdischen Leben schon überall durchscheinen läßt. Aber zuverlässig, historisch zuverlässig ist es genauso wie die drei vorhergehenden Evangelien.
Die Evangelien haben eine Vorgeschichte. Was in ihnen enthalten ist, das ist vorher mündlich verkündet worden. Es gab eine Zeit, wo noch nichts geschrieben war, nämlich nach der Auferstehung des Herrn. Da fing alles erst an, das Christentum und seine Bewegung. Und so hat man eine Zeitlang die Worte und Taten Jesu mündlich überliefert. Dann haben sich natürlich Leute gefunden, die sie niedergeschrieben haben, nach dem Interesse, das sie hatten, die einen nur die Worte, die anderen nur die Taten Jesu, und so sind die Evangelien allmählich entstanden. Nun gibt es aber eine Beobachtung, die folgendermaßen aussieht: Matthäus und Lukas folgen im Aufbau ihres Evangeliums dem Markus. Wie ist das zu erklären, daß die Geschehnisse, wie sie bei Markus, dem ältesten Evangelisten, berichtet sind, bei Matthäus und Lukas wiederkehren? Man nimmt an – das ist nur eine Annahme, einen Beweis hat bisher noch niemand liefern können –, daß Matthäus und Lukas das Markusevangelium kannten, vor sich liegen hatten und daß sie sich an dieses Evangelium als Grundbestand der Überlieferung gehalten haben. Aber daneben haben sie noch weitere Quellen benutzt, vor allem eine Spruchquelle, also eine Sammlung von Worten des Herrn. Loquienquelle nennt man sie oder Quelle Q. Außerdem hatte sie noch weitere Quellen, was ja Lukas im Anfang seines Evangeliums ausdrücklich hervorhebt: er sei allem nachgegangen, was er habe in Erfahrung bringen können, und er erwähnt auch, daß schon viele – viele! – die Worte und Taten Jesu niedergelegt hätten. Er hat also alles herangezogen, was ihm verfügbar war, und daraus sein Evangelium geschaffen.
Man versucht nun, den Anteil der Evangelisten am Evangelium und die Entwicklung der vorliterarischen Einheiten zu erforschen. Das sind die sogenannte redaktionsgeschichtliche und die sogenannte formgeschichtliche Methode. Was ist die redaktionsgeschichtliche Methode? Die redaktionsgeschichtliche Methode sucht den Anteil der Evangelisten an der Entstehung des Evangeliums zu erforschen. Und da kann man tatsächlich manche Beobachtungen machen, z. B. daß Matthäus sehr viel daran gelegen ist, den Weissagungsbeweis zu führen, daß also alles, was sich im Leben Jesu ereignet hat, Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen ist. Da kann man feststellen, daß Markus vom Messiasgeheimnis berichtet. Jesus war der Messias, aber da die Leute ein falsches Bild vom Messias hatten, hat er darauf Wert gelegt, daß sein Geheimnis den Massen nicht kundgemacht wurde, damit sie nicht einen politischen Messias aus ihm machen. Und Lukas ist der große Anwalt der Heidenmission. Ihm geht es vordringlich um die Bedrückten und Bedrängten dieser Erde; auch um die Frauen. Die Frauen spielen eine besonders starke Rolle im Lukasevangelium. Man sieht, die Evangelisten hatten eben jeweils verschiedene Interessen, und je nach den Interessen, die sie hatten, haben sie aus der Fülle des Lebens Jesu bestimmte Züge hervorgehoben, aber alles natürlich in vollkommener Treue zu dem, was wirklich geschehen ist.
Die formgeschichtliche Methode will ergründen, wie sich die Überlieferung entwickelt hat, bis sie in die Evangelien aufgenommen, also niedergeschrieben wurde. Sie beruht auf Annahmen. Es wäre ganz falsch, die formgeschichtliche Methode und ihre Ergebnisse als sicher hinzustellen. Es handelt sich dabei um Vermutungen, manchmal um begründete Vermutungen, das ist ohne weiteres zuzugeben. Aber es bleiben Vermutungen, denn niemand ist dabei gewesen, wie sich die Überlieferung von den ersten Zeugen bis zur schriftlichen Niederlegung in den Evangelien entwickelt hat. Man kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit feststellen, daß die Ziele, die Absichten, mit denen die Überlieferung in der jungen Kirche verwendet wurde, auf deren Form eingewirkt haben. Je nachdem, ob man z. B. ein Wunder Jesu vor Kindern oder vor Erwachsenen erzählt, wird man sich einer anderen Sprachform bedienen. Man wird sich nach den Zuhörern richten, und je nachdem, ob von Jesus berichtet wird im Unterricht oder im Gottesdienst, wird sich die Gestaltung dessen, was da berichtet wird, dieser Zielsetzung anpassen. Das sind ein paar Hinweise darauf, wie die mündliche Überlieferung vom Sitz im Leben, nämlich wofür man sie verwendet hat, in gewisser Hinsicht geprägt worden ist.
Aber die entscheidende Frage bleibt: Ist die Überlieferung von Jesus zuverlässig? Dagegen werden z. B. angeführt die vielen Varianten im Text. Ich habe hier, meine lieben Freunde, das griechische Neue Testament. Da ist oben ein Text angegeben und unten im Apparat sind die vielen Handschriften angegeben, die abweichende Lesarten haben. Ist der Text dann noch zuverlässig, wenn abweichende Lesarten von ihm vorhanden sind? Es gibt tatsächlich so viele Varianten, wie es Worte im Neuen Testament gibt. Aber diese Varianten sind zum allergrößten Teil für den Inhalt dessen, was da berichtet wird, unerheblich. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Wenn der Evangelist Markus vom Letzten Abendmahl berichtet, das der Heiland gehalten hat, da heißt es oben im Text: „Er nahm Brot – labon arton.“ Unten gibt es eine Variante, die heißt: „Er nahm das Brot – labon ton arton.“ Man wird zugeben, daß diese Variante, diese Abweichung, völlig unerheblich ist. Ob ich sage: „Er nahm Brot“ oder „Er nahm das Brot“, das ist gleichgültig. Und dieser Art sind die meisten Varianten, die sich in den Handschriften des Neuen Testamentes finden. Sie sind in keiner Weise ein Grund, um die Zuverlässigkeit des uns überlieferten Textes anzuzweifeln.
Und genau so ist es mit den Einheiten der Überlieferung, die dann von den Evangelisten gesammelt, ausgewählt und in ihre Evangelien aufgenommen wurden. Ob es sich da um Wunderberichte handelt oder um kurze, einprägsame Worte des Herrn, etwa „Füchse haben Höhlen, die Vögel des Himmels haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen kann“, oder ob es sich um Gleichnisse handelt oder um seine großen Reden, die Bergpredigt oder die Seepredigt, alle diese Stücke, Einzelstücke oder Sammlungen, sind in ihrer Art sicher und beglaubigt, ohne Verfälschung und ohne Abänderung, die Wesentliches verändert hätten. Darüber, meine lieben Freunde, wollen wir am nächsten Sonntag Weiteres hören.
Amen.