Predigtreihe: Rechtfertigung aus Gnade (Teil 17)
16. Juli 2000
Der Zustand der Rechtfertigung
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Dieser Tage las ich in einem Buch, das von einem evangelischen Kirchenhistoriker über die Ereignisse des 16. Jahrhunderts, also über die sogenannte Reformation, in Thüringen geschrieben wurde. Er schildert mit erstaunlicher Offenheit und mit Freimut, was der Abfall von der katholischen Kirche besagte: Niemand will mehr stiften, keiner will mehr spenden, überall gehen die Erträgnisse für die Armen und für die Kranken und für die Bresthaften zurück. Nicht einmal die Diener des Wortes (also die Geistlichen) haben genug zu essen und zu trinken, um ihre Familie zu ernähren. Das waren die Wirkungen des Evangeliums nach Martin Luther. Er hatte nämlich erklärt: Es braucht nur den Vertrauensglauben, und dann ist man gerettet. Die guten Werke sind völlig unerheblich für das Heil; man kann nicht durch gute Werke das Heil sicherstellen.
Diese Begebenheit erzähle ich Ihnen, damit Sie nicht denken, unsere so lange andauernden Überlegungen über die Rechtfertigung seien theoretischer Kram, der für das praktische Leben keine Auswirkung hat. O ja! Die Theorie prägt die Praxis, die Lehre formt das Leben. Wie wir glauben, so handeln wir, und deswegen ist es so wichtig, den rechten Glauben zu haben, auch die rechte Lehre über die Rechtfertigung in uns zu bewahren.
Wir hatten am letzten Sonntag begonnen, die Eigenschaften der Rechtfertigung zu bedenken. Die erste Eigenschaft, über die wir uns Gedanken machten, war die Unanschaulichkeit. Der Rechtfertigungszustand ist verborgen; man kann ihn nicht sehen, nicht messen, nicht wägen. Heute haben wir zwei andere Eigenschaften zu bedenken, nämlich
1. Der Rechtfertigungszustand ist dem Wesen nach gleich bei allen, aber dem Verwirklichungsgrade nach verschieden.
2. Der Rechtfertigungszustand kann wachsen.
Beide Wahrheiten sind vom Konzil von Trient gegen Luther aufgestellt und ans Licht gestellt worden; denn Luther erklärte: Die Rechtfertigung ist bei allen gleich, und sie kann weder zunehmen noch abnehmen. Diese Irrlehre wurde vom Konzil von Trient in entscheidender Weise zurückgewiesen. „Wir nehmen“, so sagt das Konzil, „die Gerechtigkeit in uns auf, jeder seine eigene nach dem Maß – nach dem Maß! –, das der Heilige Geist den einzelnen zuteilt, wie er will, und entsprechend der eigenen Bereitung und Mitwirkung eines jeden.“ Hier ist also die Verschiedenheit der Rechtfertigung ausgesagt. Auch das Wachstum wird deutlich ausgesprochen: „So schreiten also die Gerechtfertigten in wachsender Tugendkraft voran. Sie werden neu von Tag zu Tag, indem sie nämlich die irdische Lust in ihren Gliedern ertöten und sie als Waffen der Gerechtigkeit gebrauchen zur Heiligung durch Beobachtung der Gebote Gottes und der Kirche. In dieser Gerechtigkeit, die sie durch Christi Gnade empfangen haben, wachsen sie – wachsen sie! – unter Mitwirkung des Glaubens an ihren guten Werken, und sie nehmen zu in ihrer Rechtfertigung nach dem Schriftwort: Wer gerecht ist, soll noch gerechter werden. Laß nicht ab, bis zum Tode nach Gerechtigkeit zu streben, und weiter: Ihr seht, daß der Mensch aus den Werken gerechtfertigt wird und nicht nur aus dem Glauben. Um diesen Zuwachs an Gerechtigkeit bittet die heilige Kirche, wenn sie betet: Mehre in uns, Herr, Glaube, Hoffnung und Liebe!“
Um diese Wahrheit ganz deutlich den Gläubigen einzuschärfen, hat das Konzil noch zwei Lehrsätze aufgestellt, nämlich: „Wer behauptet, die empfangene Gerechtigkeit werde nicht bewahrt und auch nicht vor Gott vermehrt durch gute Werke, sondern die Werke selbst seien nur Frucht und Anzeichen der erlangten Rechtfertigung, nicht aber auch Ursache ihres Wachstums, der sei ausgeschlossen.“ Und an einer andere Stelle: „Wer behauptet, die guten Werke des Gerechtfertigten seien in der Weise Geschenke Gottes, daß sie nicht auch die guten Verdienste des Gerechtfertigten selbst sind, oder der Gerechtfertigte verdiene nicht eigentlich durch die guten Werke, die er in der Kraft der göttlichen Gnade und des Verdienstes Jesu Christi tut, einen Zuwachs an Gnade, das ewige Leben und, wenn er im Gnadenstand hinübergeht, den Eintritt in das ewige Leben sowie auch nicht eine Mehrung seiner Herrlichkeit, der sei ausgeschlossen.“
Wir haben also zu bedenken, daß der Rechtfertigungszustand zwar dem Wesen nach in allen Gerechtfertigten gleich ist, aber seiner Verwirklichungsmöglichkeit nach verschieden ist. Der Rechtfertigungszustand ist gleich, das heißt: Alle, die gerechtfertigt sind, die also im Zustand der heiligmachenden Gnade sind, alle sind mit dem Tode und der Auferstehung Christi zusammengewachsen. Das Leiden Christi hat sich in ihnen ausgewirkt; sie sind des Heilsverdienstes Christi teilhaftig geworden. Die Herrlichkeit Gottes glüht und leuchtet in ihnen. Das ist die Gleichheit des Gnadenstandes in den Gerechtfertigten. Aber es gibt eine graduelle, eine gradmäßige Verschiedenheit je nach der Aufnahmebereitschaft. Je nachdem, wie sich der Mensch öffnet für die Gnade, empfängt er eben mehr oder weniger. Eine sehr einfache und einleuchtende Überlegung. Wer sich stärker dem Gnadeneinfluß öffnet, in dem wird die Gottesherrlichkeit deutlicher herausgearbeitet, in dem wird die Welthaftigkeit stärker zurückgedrängt. In einem solchen Menschen wird die Durchhellung und die Durchglühung mit dem Feuer Gottes und mit dem Lichte Gottes viel offenkundiger als in einem anderen Menschen. Wir haben es in unserer Hand, in der Gnade zu wachsen, wenn wir uns mehr für den Einfluß, für das Einfließen der Gnade öffnen. Und wir können immer mehr in der Welthaftigkeit zurückgehen, die Weltverfangenheit zurückdrängen, je mehr wir uns vom Lichte Gottes und vom Feuer Gottes durchglühen und durchhellen lassen. Dieses Wachstum in der Gnade wird in der Liturgie ausgedrückt, wenn die Kirche betet um Wachstum, um Sieg, um Behütung, um Kräftigung. Es handelt sich eben hier um eine Art Analogie zu dem natürlichen Wachstum. So wie in der Natur ein Zweig zu einem Baum heranwachsen kann, so kann auch der Mensch in der Gnade wachsen.
Die Heilige Schrift bezeugt diese Zunahme, wenn sie uns mehrere Gleichnisse überliefert, in denen von dem Wachstum die Rede ist. Der Herr erzählt das Gleichnis von den Talenten. Der eine bekam zehn, der andere fünf, ein dritter eines. Hier wird angedeutet, daß die Gnadengabe nicht in allen gleich ist, daß es Unterschiede gibt je nach dem freien Willen Gottes und nach der Aufnahmebereitschaft, nach der Aufgeschlossenheit des Menschen. In einem anderen Gleichnis schildert der Herr das Verhältnis von Gott oder Christus und den Gerechtfertigten unter dem Bilde des Weinstocks und der Reben. Da sagt er: „Jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie noch mehr Frucht bringt.“ Hier ist also eindeutig ausgesagt, daß es ein Wachstum im Fruchtbringen gibt. Und schließlich, um noch ein drittes Beispiel zu erwähnen: Die Frau, welcher der Herr viele Sünden vergeben hat, hat diese Vergebung deswegen erlangt, weil sie viel geliebt hat. Wer wenig liebt, dem wird weniger vergeben. Das Maß der Vergebung hat also sein Maß in der Liebe. Es gibt auch einige andere ganz deutliche Stellen der Heiligen Schrift, in denen das Wachstum in der Gnade ausgesprochen ist, etwa wenn es im zweiten Petrsubrief heißt: „Wachset in der Gnade und der Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus!“ Hier wird direkt die Aufforderung an uns gerichtet, in der Gnade und in der Erkenntnis des Heilandes zuzunehmen. „Wachset in der Gnade und der Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus!“ Im letzten Buch der Heiligen Schrift, nämlich in der Apokalypse, ist noch einmal davon die Rede, wo es heißt: „Der Gerechte soll sich noch mehr rechtfertigen, und der Heilige soll sich noch mehr heiligen.“ Es gibt also eine Vermehrung der Rechtfertigung, es gibt eine Kräftigung und ein Wachstum in der Heiligung.
Jetzt erhebt sich natürlich für uns die Frage: Wie geschieht denn dieses Wachsen? Wie kann man in der Rechtfertigung zunehmen? Wie kann man die Heiligung vermehren? Wie kann man die Welthaftigkeit zurückdrängen? Welche Mittel sind dazu notwendig? Um noch einmal auf die Analogie zurückzukommen zwischen natürlichem und übernatürlichem Wachsen: Das natürliche Leben muß genährt und gekräftigt, es muß geschützt und behütet werden. Das sind die beiden Hauptfunktionen: nähren und kräftigen, schützen und behüten. Ähnlich-unähnlich ist es auch mit dem Gnadenleben; es muß genährt und gekräftigt, es muß geschützt und behütet werden. Wie wird es genährt und gekräftigt? Wie wird es geschützt und behütet? Genau so, wie es entsteht. Es entsteht durch Glaube und Taufe. In Glaube und Taufe werden wir aus dem Zustand der Ungerechtigkeit in den der Gerechtigkeit versetzt. Und so ist es dann auch mit dem Wachstum in der Gnade. Durch Glaube und Taufe, durch Ausfaltung dessen, was in der Taufe uns gegeben ist, wächst die Gnade. Sie wächst auch durch die übrigen Sakramente. Jede heilige Kommunion kann, wenn der Mensch, der sie empfängt, sich ihr öffnet, zum Wachstum in der Gnade beitragen. Jeder Sakramentenempfang vermehrt, stärkt, kräftigt und hütet in dem richtig disponierten Christen die heiligmachende Gnade. Es gibt sogar ein Heilmittel, um die verlorene Gnade wiederzugewinnen oder um die geschwächte Gnade wieder zu kräftigen, nämlich das Bußsakrament. Also die Sakramente sind das grundlegende Mittel des Wachstums in der Gnade. Da die Sakramente in der Liturgie gespendet werden, kann man sagen: Die Liturgie und die Teilnahme an der Liturgie führt zum Wachstum in der Gnade. Und da die Liturgie sich ausfaltet im Kirchenjahr, kann man wiederum noch ergänzend hinzufügen: Wer im Sinne der Kirche am Kirchenjahr teilnimmt, das heißt ja an dem Lebens- und Leidensgang unseres Heilandes durch die Zeit, der vermehrt in sich die Gnade. Durch diese Gemeinschaft mit Christus in den Ereignissen des Kirchenjahres wird das göttliche Leben in ihm stärker durchhellt und durchfeuert.
Die Sakramente sind aber nur die Grundlage für das, was der Mensch selbst tun soll und tun kann, nämlich: Er soll in sich die Welthaftigkeit zurückdrängen. Wodurch? Durch Aszese, durch Beherrschung, durch Überwindung. Der Mensch muß etwas dazutun. Die Gnade gibt die Kraft, aber der Mensch muß sich der Kraft bedienen; die Anstrengung bleibt ihm nicht erspart.
Die weitere Aufgabe des Menschen im Wachstum der Gnade besteht darin, daß er die Gebote hält, wie das Tridentinum eindeutig erklärt hat. Er muß die Gebote Gottes und der Kirche halten. Dadurch wächst die Gnade. Jedes treue Festhalten an den Geboten, jede wirkliche Erfüllung der Gebote läßt das Gnadenleben sich vermehren. Auch durch das Gebet wächst das Gnadenleben. Aber da bin ich schon bei dem entscheidenden Punkte, von dem ich am Anfang ausgegangen bin. Das Gebet ist ein gutes Werk, und die Gnade wächst durch gute Werke. Die Kirche hat früher die Trias von Gebet, Fasten, Almosen aufgestellt, und das ist ja richtig. Nur muß man bei jedem dieser drei Gegenstände hinzufügen, daß damit eine ganze Fülle von guten Werken gemeint ist. Zum Beispiel beim Almosen ist nicht nur gemeint, daß man dem am Straßenrand sitzenden Bettler ein Markstück in die Mütze wirft, sondern Almosen sind auch alle Werke der geistlichen und der zeitlichen Barmherzigkeit. Alles, was wir tun für Menschen, alles, was wir wegschenken, überall, wo wir Menschen in Not beistehen, das sind gute Werke. Lassen Sie sich, meine lieben Freunde, nicht am Sinn, am Wert, am Nutzen der guten Werke irre machen. Die guten Werke verdienen uns wahrhaft den Himmel. Das ist katholische Lehre, ob es dem Herrn Spital paßt oder nicht. Das ist katholische Lehre.
Daß die guten Werke uns bei der Erlangung der Himmelsseligkeit helfen, daß sie gewissermaßen eine Bedingung dafür sind, das ist in der Heiligen Schrift über jeden Zweifel ausgesprochen. „Seid darauf bedacht, daß ihr eure Berufung und Auserwählung sicherstellet durch gute Werke!“ Das schreibt der erste Papst, Petrus, in einem seiner Briefe. „Seid darauf bedacht, daß ihr eure Berufung und Auserwählung sicherstellet durch gute Werke!“ Und der Völkerapostel Paulus steht ihm bei, wenn er schreibt, daß man in der Gnade Frucht bringen soll, daß man den Glauben beweisen soll, der in der Liebe wirksam ist. So im Galaterbrief. Der Glaube, der durch die Liebe wirksam ist, der erwirbt den Himmel. Und so hat Augustinus diese ganze Lehre zusammengefaßt in einem einzigen Satz. Augustinus sagt nämlich: „Das ist das entscheidende Wort, der Glaube, der in der Liebe wirksam ist.“
Amen.