Predigtreihe: Die Sünde (Teil 5)
15. Dezember 1996
Die verschiedenen Arten der Sünde
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der Sünden sind viele, und wir sind gehalten, im Bußgericht die Sünden nach Art und Zahl zu bekennen. Also müssen wir wissen, welche Arten von Sünden es gibt. So wollen wir heute versuchen, die verschiedenen Arten der Sünden uns vor Augen zu führen.
Die Unterscheidung, die hauptsächlich dafür bestimmend ist, richtet sich nach dem Gebot oder der Tugend, das bzw. die durch die Sünde verletzt wird. Eine Sünde ist der Art nach verschieden, wenn sie sich gegen verschiedene Gebote oder verschiedene Tugenden richtet oder wenn sie dasselbe Gebot oder dieselbe Tugend auf verschiedene Weise verletzt. Also, um ein Beispiel zu geben: Die Lüge verstößt gegen das achte Gebot, der Diebstahl gegen das siebte. Geiz und Stolz sind gegen verschiedene Tugenden gerichtet. Der Geiz ist gerichtet gegen die Freigebigkeit, der Stolz gegen die Demut. Dasselbe siebte Gebot wird verletzt durch Diebstahl oder Betrug. Dieselbe Tugend wird verletzt – etwa die Hoffnung – durch Vermessenheit, vermessentliches Vertrauen auf Gott, und Verzweiflung. Also: Wir können der Art nach verschiedene Sünden begehen, je nachdem sie ein verschiedenes Gebot betreffen, eine verschiedene Tugend, oder je nachdem wir ein und dasselbe Gebot oder ein und dieselbe Tugend durch verschiedene, auf verschiedene Weise übertreten.
Eine andere Unterscheidung wird hergenommen von dem Entwicklungsstand der Sünde. Wir unterscheiden Gedankensünden, Wortsünden und Tatsünden. Das fünfte Gebot kann verletzt werden durch Haß – das ist eine Gedankensünde – und durch Totschlag. Ein und dieselbe Handlung ist eben in ihrer Entwicklung weiter fortgeschritten. Der Haß ist möglicherweise eine Vorstufe zum Totschlag, und der Totschlag vollendet den Haß. Wir unterscheiden sodann Fleischessünden von Geistessünden. Fleischessünden finden ihren Gegenstand in der körperlichen Befindlichkeit des Menschen; Geistessünden vollziehen sich allein im Herzen des Menschen. Aus dem Herzen kommen böse Gedanken und böse Taten hervor. Die Fleischessünden neigen zur Wiederholung, die Geistessünden sind, wenn das übrige gleich ist, besonders gefährlich, weil sie leicht der Aufmerksamkeit entgehen. Wir unterscheiden dann auch Sünden gegen Gott, gegen den Nächsten und gegen uns selbst, je nachdem die Sünde sich direkt und unmittelbar auf Gott, auf den Nächsten oder auf sich selbst richtet. Davon bleibt unbenommen, daß eine jede Sünde ein Verstoß gegen Gott und gegen das eigene, recht verstandene Wohl ist.
Eine ganz bedeutsame, weitgehend vergessene Unterscheidung ist die zwischen fremden und eigenen Sünden. Eigene Sünden sind jene, die wir selbst begehen; fremde Sünden sind solche, die andere begehen, an denen wir aber schuld sind. Man kann an fremden Sünden auf vielfache Weise schuldig werden, nämlich durch Befehlen, durch Anraten, durch Einwilligen, durch Loben, durch Unterstützen, durch Verteidigen, durch Reizen, durch Schweigen zu der fremden Sünde oder durch Verzicht auf Strafe, die notwendig wäre. Die Heilige Schrift bietet uns eine Fülle von Beispielen für alle diese fremden Sünden. Herodes befahl den Kindermord. Er hat nicht selbst getötet, aber er war verantwortlich dafür, daß andere getötet haben. Rebekka riet ihrem Sohne Jakob an, den Vater zu betrügen. Sie hat nicht selbst betrogen, ihr Sohn hat betrogen, aber sie war die Anstifterin für den Betrug. Aaron willigte ein, als ihn das Volk bedrängte, ein goldenes Kalb zu bilden. Die Initiative ging vom Volk aus, aber er hat diese Intitiative aufgegriffen und ihr zugestimmt. Das böse Weib des Job reizte ihren Mann in seinem Elend, und ähnlich tat es die Frau des Tobias. Paulus hat nicht selbst mitgesteinigt, als Stephanus gesteinigt wurde, aber er hat die Kleider derer bewacht, die die Steinigung vornahmen. Heli, der Hohepriester, sah zu, wie seine Söhne die Opfernden bedrängten, ihnen die besten Fleischstücke zu geben, bevor sie auf den Opferaltar kamen, und er wurde deswegen vom Propheten Samuel scharf gerügt. Das sind Beispiele für Menschen, die sich fremder Sünden schuldig gemacht haben. Eltern, Vorgesetzte, irdische Machthaber, Parlamente, auch geistliche Würdenträger können sich leicht fremder Sünden teilhaftig machen. Arbeitgeber und Gewerkschaftsfunktionäre sind ebenfalls in dieser Gefahr. Immer, wenn man eine von den genannten Möglichkeiten verwirklicht, sich fremder Sünden teilhaftig zu machen, wird man schuld an dem Bösen, das andere tun.
In der Kirche der Mainzer Studenten, St. Albert, liegen massenweise Pamphlete des sogenannten Kirchenvolksbegehrens aus. Diejenigen, die veranlaßt haben, daß sie in diese Kirche kamen, machen sich fremder Sünden schuldig! Und die Vorgesetzten im Ordinariat, die das nicht hindern, machen sich fremder Sünden schuldig! Sie tragen dazu bei, daß die Kirche unterhöhlt und unterwühlt wird. Ganz anders haben Männer wie Johannes der Täufer gehandelt. Er wollte nicht schuldig werden an einer fremden Sünde, und deswegen sagte er zu seinem Herrscher: „Es ist dir nicht erlaubt, die Frau deines Bruders zu haben!“ Er hat diesen Freimut mit dem Tode bezahlt. Und dieser Freimut ist nicht ausgestorben. Soeben hat der Heilige Vater den österreichischen Priester Neururer seliggesprochen. Was hat Neururer getan? Er hat einem Mädchen seiner Pfarrei abgeraten, einen geschiedenen SA-Mann standesamtlich zu heiraten. Er wurde denunziert, er kam ins Konzentrationslager, er ist in Buchenwald elendig zugrundegegangen. Er hat nicht geschwiegen zu dem, was dieses Mädchen vorhatte, sondern hat geredet und hat seine Rede mit dem Tode bezahlt. Fremde Sünden, meine lieben Freunde, sind außerordentlich zahlreich, weil die Feigheit der Menschen so groß ist, weil sie nicht wagen, gegen den Strom zu schwimmen, weil sie sich fürchten, sich unbeliebt zu machen.
Nicht alle Sünden sind gleich groß. Die Größe der Sünden, die Schwere der Sünden richtet sich nach dem Gegenstand, nach der Freiheit, mit der sie geschehen, und nach der Einsicht, die einer hat. Je gewichtiger der Gegenstand, je größer die Freiheit und je höher die Einsicht, um so schwerer die Sünde. Es leuchtet ein, daß derjenige, der einen Menschen an der Gesundheit schädigt, eine größere Sünde begeht als derjenige, der ihm etwas von seinem Vermögen wegnimmt. Derjenige, der am Sonntag schwere Arbeit verrichtet, ohne dazu gezwungen zu sein, sündigt schwerer als derjenige, der einmal zufällig irgendetwas erledigt, was er in der Woche zu tun vergessen hat. Auch die Freiheit ist von Bedeutung für die Schwere der Sünde. Wer aus Furcht oder unter dem Druck der Not eine Sünde begeht, dessen Sünde ist nicht so schwer wie die Sünde eines anderen, der aus freien Stücken mit wohlüberlegter Handlung die Sünde vollzieht. Auch die Einsicht ist von Bedeutung für die Schwere der Sünde. Die Sünde eines Priesters ist schwerer als die Sünde eines Nichtpriesters, denn er hat eine höhere Einsicht vermittelt bekommen. Auch die Sünde eines Christen ist wahrscheinlich schwerer als die eines Nichtchristen, denn ihm hat Gott seinen Willen deutlicher geoffenbart als dem Nichtchristen.
Wir unterscheiden bei der Schwere der Sünde die Todsünde von der läßlichen. Todsünde heißt diese Sünde nicht deswegen, weil die Seele stirbt, sondern weil das göttliche Leben in der Seele zugrunde geht, weil die Freundschaft mit Gott zusammenbricht. Der Ausdruck ist biblisch, er stammt aus dem ersten Johannesbrief, wo es heißt: „Es gibt eine Sünde zum Tode.“ Damit ist eben eine Sünde gemeint, die uns von Gott trennt. Die Todsünde liegt dann vor, wenn ein gewichtiger Gegenstand mit freiem Willen und in klarer Erkenntnis gegen Gottes Gebot erstrebt wird. Die Wichtigkeit des Gegenstandes richtet sich nach dem Zweck des Gebotes, nach dem Inhalt dessen, was da getan wird, nach der entgegengesetzten Tugend, nach den Umständen, die dabei zu berücksichtigen sind, aber auch nach dem Schaden, der durch die Tat angerichtet wird. Das alles ist zu bedenken, wenn man von der Todsünde spricht. Es hat immer Bestrebungen gegeben, die Todsünde zu verharmlosen. Am schlimmsten hat es Luther getrieben, der sagt: Es gibt überhaupt nur läßliche Sünden, sofern man am Vertrauen zu Gott festhält. Wer am Vertrauen zu Gott festhält, begeht nur läßliche Sünden. Dagegen hat das Konzil von Trient eindeutig Stellung genommen und gesagt: „Wer behauptet, es gebe keine schwere Sünde außer dem Unglauben, und durch keine andere Sünde außer durch den Unglauben, sei sie auch noch so schwer und groß, verliere man die einmal empfangene Gnade, der sei ausgeschlossen!“ Es ist ganz eindeutig, gegen wen diese Erklärung gerichtet ist. Das Tridentinum hat auch deutlich an dem Unterschied zwischen schwerer und läßlicher Sünde festgehalten. Das ist ein tröstlicher Unterschied für uns, die wir siebenmal des Tages fallen, aber doch nicht so, daß wir uns von Gott trennen. „Denn wenn sie auch in diesem sterblichen Leben, mögen sie auch noch so heilig und gerecht sein, zuweilen wenigstens in leichte und alltägliche, in sogenannte läßliche Sünden fallen, so hören sie deshalb doch nicht auf, gerecht zu sein.“ O wie wahr und wie tröstlich, meine lieben Freunde! Wer in der Hitze und Last des Tages in läßliche Sünden fällt, hört damit nicht auf, ein Freund, eine Freundin Gottes zu sein. Anders ist es mit den schweren Sünden. Es sind das jene Sünden, von denen der Apostel Paulus sagt, daß sie vom Reiche Gottes ausschließen. „Oder wisset ihr nicht, daß Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Täuschet euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Weichlinge, weder Knabenschänder noch Diebe, weder Habsüchtige noch Trunkenbolde, weder Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes erben.“ So schreibt er im ersten Brief an die Korinther. Und ähnlich im Brief an die Galater: „Das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch. Beide widerstreben einander, so daß ihr nicht das tut, was ihr wollt. Laßt euch vom Geiste leiten, so steht ihr nicht unter dem Gesetz! Als Werke des Fleisches sind offenkundig Unzucht, Unkeuschheit, Schamlosigkeit, Wollust, Abgötterei, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Ränke, Spaltungen, Parteiungen, Haß, Mord, Trunkenheit, Schlemmerei und dergleichen.“ Und dergleichen! „Was ich euch schon zuvor gesagt habe, wiederhole ich: Die solches tun, werden das Reich Gottes nicht erben.“ Daß diese Lehre des Paulus Gemeingut des Christentums ist, daß sie also nicht Sondergut oder Sondermeinung oder gar abzulehnende Meinung des Apostels Paulus ist, ergibt sich aus dem letzten Buch der Heiligen Schrift, aus der Apokalypse. Da wird dasselbe nämlich mit anderen Worten wiederholt. Da ist die Rede davon, daß diejenigen, die ihre Kleider im Blute des Lammes gewaschen haben, in die ewige Himmelsstadt einziehen. „Draußen bleiben die Hunde, die Zauberer, die Unzüchtigen, die Mörder, die Götzendiener und alle, welche Lüge lieben und üben.“ Hier wird also das bestätigt, was Paulus gelehrt hat.
Wir sollen uns Rechenschaft geben über die Gebote, über die Tugenden, über schwere und läßliche Sünden. Es ist allerdings häufig nicht leicht, manchmal unmöglich, genau anzugeben, wo die Grenze zwischen schwerer und läßlicher Sünde verläuft. Die größten Theologen – wie Augustinus - haben sich außerstande erklärt, in jedem Falle genau eine Entscheidung über diesen Unterschied zu fällen. Wie werden wir es können, die wir weit, weit unter diesen großen Theologen und gottbegnadeten Männern stehen! Deswegen empfiehlt es sich, was ich seit 45 Jahren den Menschen gesagt habe, in der heiligen Beicht alle Sünden zu bekennen, nicht nur diejenigen, die wir als Todsünden erkennen, sondern auch jene, die wir als läßliche Sünden deutlich vor Augen haben. Wer allzu leichtfertig etwas als Todsünde abstempelt, der treibt die Menschen in die Verzweiflung. Wer aber umgekehrt die Todsünde auf die sogenannten Radikalsünden beschränkt (Ehebruch, Mord und Götzendienst), der verfehlt sich ebenfalls gegen die Wahrheit. Gewiß hat es diese Trias – diese drei Sünden, die ich eben nannte – im Altertum gegeben, aber diejenigen, die sie vortrugen, haben unter diesen drei Sünden eine große Zahl von anderen Sünden zusammengefaßt. Das war gewissermaßen nur der Titel für eine Anzahl anderer Sünden, die irgendwie zu den genannten drei in Beziehung standen. Also niemals hat in der Kirche nur die Trias (Ehebruch, Mord und Götzendienst) als schwere Sünde gegolten. Niemals war es so.
Wir wollen uns bemühen, meine lieben Freunde, ehrlich vor Gott und den Menschen unsere Sünden zu erkennen, nichts zu verheimlichen, weder vor uns noch vor den Menschen noch vor dem Priester, dem Beichtvater, sondern die Eiterbeulen unseren Herzens ausdrücken. Wir wollen uns vor Gott und den Menschen demütigen; und das ist nicht der geringste Gewinn des Bußsakramentes, daß wir uns so darstellen, wie wir vor Gott stehen. Dadurch wird die Seele geheilt, dadurch wird das Gift herausgedrückt, dadurch werden wir frei, und es erfüllt sich das wunderschöne Wort: „Beicht macht leicht.“
Amen.