22. September 2024
Maria Magdalena
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Maria Magdalena ist das Rätsel des Neuen Testamentes. In den Evangelien erscheint sie als treueste Begleiterin Jesu von Galiläa bis Golgotha. Sonst aber berichten die vier Evangelien fast nichts von ihr. In der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen wird sie überhaupt nicht erwähnt. Es gab in der Umgebung Jesu viele Frauen, die Maria hießen. Daher trägt die Lieblingsjüngerin zur Unterscheidung von anderen Marien den Beinamen Magdalena, die Magdalenerin. Magdala ist ein kleiner galiläischer Kurort am Westufer des Sees Genesareth. Die jungen Galiläerinnen waren seit jeher berühmt wegen ihrer Schönheit. Als man einst in ganz Israel nach einer kleinen Schönheitskönigin suchte, welche die letzten Jahre des Königs David verklären sollte, fiel die Wahl auf die Galiläerin Abisag von Sunam (1 Kön 1,1ff.). Magdala war berüchtigt um seiner freien Sitten willen. Fünf Kilometer weiter südlich lag Tiberias, die Residenz des lebenslustigen Herodes Antipas, der durch seine Affären mit Herodias und Salome bekanntgeworden ist. Im Westen von Magdala erhob sich das unwegsame Bergland mit den berüchtigten Hochtälern, in denen die galiläischen Widerstandskämpfer ihre Schlupfwinkel hatten. Die vielbegehrten Mädchen von Magdala hatten ihre Freunde vermutlich im Westen wie im Süden, in den Felsenhöhlen der Partisanen wie im Offizierskasino von Tiberias. Soll man sich die junge Maria Magdalena vorstellen wie die verwegene Ahnfrau Jesu, die Dirne Rahab, die den feindlichen Spähtrupp vor der Staatspolizei versteckt hat? (Josua 2,1ff.; 6,22ff.) In der späteren Überlieferung wird Magdalena mit Maria von Bethanien und der öffentlichen Sünderin von Lk 7,36 ff. gleichgesetzt. Doch zu Unrecht. Die Kombination der drei Gestalten: Maria Magdalena, die öffentliche Sünderin und die Schwester des Lazarus ist nicht zu halten. Es handelt sich um verschiedene Personen, die nichts miteinander zu tun haben. Nach einer alten Personalnotiz hat Jesus aus Maria Magdalena sieben Dämonen ausgetrieben (Lk 8,2; vgl. Mk 16,9). Die Evangelien bringen uns oft recht ausführliche Berichte von der Austreibung „unreiner Geister“. Immer aber handelt es sich bei diesen Berichten um Männer. Hier ist von der Behandlung einer Frau die Rede, doch verschweigt man alle Details. Wollte man Maria Magdalena nicht kompromittieren? Jesus hat viele Männer von vielen Krankheiten geheilt, Blinde, Taube, Aussätzige, Besessene. Stets hat er diese Männer nach der Heilung entlassen. Die junge Maria von Magdala aber nimmt er in seinen Jüngerkreis auf (Lk 8,2; Mk 15,40f.). Warum diese enge Bindung und Lebensgemeinschaft? In Lk 11,24-26 ist uns ein vielsagendes Gleichniswort Jesu erhalten: „Wenn der unreine Geist ausfährt aus einem Menschen, durchzieht er dürre Stätten und sucht nach einer Bleibe. Und wenn er keine findet, spricht er: Ich will in das Haus zurückkehren, aus dem ich gekommen bin. Und wenn er kommt, findet er es ausgefegt und ausgeschmückt. Da geht er hin und holt sich andere Geister, schlimmer als er selbst, sieben Stück, und sie halten ihren Einzug und setzen sich dort fest, und es wird mit jenem Menschen am Ende ärger als am Anfang.“ Mit anderen Worten: Nach jeder Dämonenaustreibung muss man mit der Gefahr eines Rückfalls rechnen. In besonderem Maße gilt das natürlich von sexualpathologischen Fällen. Das weiß jeder moderne Psychotherapeut. Das wusste man auch im Altertum. Maria Magdalena war von sieben Dämonen geplagt. Das heißt doch wohl, dass bei ihr bereits ein erster Rückfall vorlag, und spricht dafür, dass Jesus die Galiläerin in seine Gefolgschaft aufgenommen hat, um sie vor erneuten Rückfällen zu bewahren. Wenn Maria in Magdala zurückblieb, musste man fürchten, dass die sieben unreinen Geister mit Verstärkung in das geschmückte Haus zurückkehren. Wenn sie aber in dauernder Lebensgemeinschaft mit Jesus und seinen Jüngern trat, durfte man hoffen, dass sie mit den Plagegeistern ihrer Vergangenheit fertig wurde. Diese Hoffnung hat sich großartig erfüllt.
Maria Magdalena war nicht die einzige Frau im Jüngerkreis Jesu. Der Evangelist Lukas berichtet: „Und Jesus wanderte von Stadt zu Stadt und die zwölf Jünger mit ihm, sowie einige Frauen, die von bösen Geistern und Krankheiten geheilt worden waren: Maria mit dem Beinamen Magdalena, aus der sieben Dämonen ausgefahren waren, und Johanna, die Ehefrau des Chuza, der ein Verwalter des Herodes war, und Susanna und viele andere, die ihnen zu Dienst standen mit dem, was sie besaßen“ (Lk 8,1-3). Von Johanna und Susanna hören wir nur hier. Johanna kam wohl aus der benachbarten Residenzstadt Tiberias, denn ihr Ehemann Chuza war ein Regierungsbeamter des Herodes Antipas. Chuza ist ein arabischer, Johanna ein jüdischer Name. Johanna war demnach die jüdische Ehefrau eines arabischen Würdenträgers am Hof eines arabischstämmigen Fürsten. Vielleicht ist ihr die Hofluft in Tiberias schlecht bekommen. Jedenfalls hielt Jesus es für notwendig, auch sie in seinen Jüngerkreis aufzunehmen. Susanna heißt so viel wie Lilie und ist ein gut hebräischer Name. Die Susanna von Lk 8,3 ist demnach Jüdin. Im Übrigen erfahren wir von ihr nur dies, dass Jesus auch sie von bösen Geistern oder Krankheiten befreit hat. Schließlich erwähnt Lukas noch „viele andere Frauen“, die nach ihrer Heilung in die ständige Gefolgschaft Jesu aufgenommen wurden (Lk 8,3). Ihre Namen nennt er nicht. In der Passionsgeschichte finden sich noch allerlei weitere Namen von galiläischen Jüngerinnen und Begleiterinnen Jesu, mindestens sechs namentlich genannte Frauen. Und genau wie Lukas, so betont auch der Evangelist Markus, dass zur Gefolgschaft Jesu viele Galiläerinnen gehörten, deren Zahl und Name völlig im Dunkeln bleibt (Mk 15,41).
Die Pharisäer und die frommen Juden dachten im Allgemeinen skeptisch über das weibliche Geschlecht. Ganz anders Jesus. Er hat privat reichlich Umgang mit Frauen gehabt. Er lässt sich zum Entsetzen der pharisäischen Augenzeugen von einem Straßenmädchen die Füße küssen und spricht: „Ihr sind ihre Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt“ (Lk 7,36-47). Der junge Galiläer ist menschlicher als irgendein Mensch und ritterlicher als irgendein Mann. In Mt 21,31 sagt er den Hohepriestern, Schriftgelehrten und Senatoren ins Gesicht: „Wahrhaftig, ich sage euch: Die Zolleintreiber und Straßenmädchen kommen eher ins Reich Gottes als ihr.“ Das Straßenmädchen von Lk 7,50 geht nach der einmaligen Begegnung mit Jesus wieder nach Hause. Ebenso die Samariterin von Jo 4,28ff. Ebenso die Ehebrecherin von Jo 8,11. Aber die Mädchen und Frauen von Lk 8,2f. nimmt Jesus mit auf allen Wegen, doch wohl, weil es sich hier um besonders ernste Fälle handelt. Der schwerste Fall aber ist offenbar das Mädchen von Magdala. Kein Zweifel, dass nicht nur die Gegner Jesu an diesem Fall Anstoß nehmen, sondern auch und vor allem die Jünger selbst. Das Neue Testament freilich verrät uns nichts von irgendwelchen Verstimmungen. Hier hat man entweder den Mantel der Liebe oder den Schleier des Vergessens über diese ärgerliche Angelegenheit gebreitet. In der außerbiblischen Literatur haben sich zahlreiche Proteststimmen erhalten.
Maria von Magdala steht in den neutestamentlichen Listen der Jüngerinnen Jesu stets an der Spitze (Mk 15,40; Mt 17,56; Lk 8,2f.). Warum? Sie war die Lieblingsjüngerin Jesu. Sie stand seinem Herzen am nächsten. Ihr hat er seine tiefsten Geheimnisse anvertraut. Ihr hat er seinen Geist eingepflanzt. Sie hat sich auch am meisten bewährt. Als Jesus verhaftet wurde, sind alle seine Jünger geflohen (Mk 14,50). Petrus hat ihn verleugnet (Mk 14,66ff.). Maria Magdalena aber bekannte sich vor aller Welt zu dem verurteilten Ketzer und folgte ihm bis nach Golgotha, männlicher als alle Männer des Jüngerkreises (Mk 15,40). Die Lieblingsjüngerin Jesu musste jeden Augenblick auf ihre Verhaftung gefasst sein. Denn die Frauen hatten im antiken Palästinajudentum zwar nicht die gleichen Rechte wie die Männer, wohl aber die gleiche Verantwortlichkeit vor dem Strafgesetz. Ganz besonders brutal aber ging man mit Frauen um, die an irgendeiner Ketzerei oder Abfallbewegung beteiligt waren. Die Apostelgeschichte berichtet mehrfach, dass der Christenverfolger Paulus Männer und Frauen unterschiedslos verhaftet und auf den Tod verklagt hat (Apg 8,3; 9,2; 22,4). Maria Magdalena musste darum auf das Schlimmste gefasst sein. Aber sie hielt auf Golgotha aus bis zum Todesschrei ihres Herren (Mk 15,40; Lk 23,49). Sie war auch beim Begräbnis Jesu zugegen (Mk 15,47 par.). Und sie war die erste an seinem Grabe. Am Ostermorgen aber war das Grab Jesu leer. Das bezeugt die urchristliche Osterformel, die älter ist als alle Schriften des Neuen Testamentes: „Jesus Christus, begraben und auferweckt“ (1 Kor 15,4). Das Zeitwort auferwecken bezeichnet ganz präzise die Auferweckung des Menschen aus dem Todesschlaf. Der Auferweckte erhebt sich von seinem letzten Lager und verlässt seine Grabkammer, wie man am Morgen seine Schlafkammer verlässt. Genau im gleichen Sinne bezeugen alle vier Evangelien die Tatsache des leeren Grabes (Mk 16,6; Mt 28,6; Lk 24,23; Jo 20,6f.). Aber auch die jüdischen Gegner und Zeitgenossen haben das Faktum des leeren Grabes niemals bestritten. Der Streit ging lediglich um die Deutung dieses Faktums. Das leere Grab am Ostermorgen ist kein Glaubensartikel, sondern eine geschichtliche Tatsache, von Freund und Feind gleichermaßen bezeugt und anerkannt. Maria Magdalena hat sich unerschrocken zu ihrem Herrn bekannt bis zuletzt. Jesus Christus aber bekennt sich zu seiner Lieblingsjüngerin. Treue um Treue. Das Mädchen von Magdala ist der erste Mensch, dem der Auferstandene erscheint. „Mirjam!“ „Rabbuni!“ Die beiden Anrufe verraten und verschweigen uns mehr, als wir in allen Magdalenenlegenden finden können. Die ganze Geschichte dieser beiden Menschen fasst sich in jenen zwei Worten zusammen, alle Not und alle Herrlichkeit, die sie und nur sie miteinander erlebt haben. Aber sie fallen einander nicht um den Hals. „Rühr mich nicht an!“ Oder, wie andere übersetzen: „Halte mich nicht fest!“ Jesus hat andere Pläne mit seiner Lieblingsjüngerin. Er schickt sie als erste Zeugin und Botin des Auferstandenen zu seinen Jüngern (Jo 20,17). Sie ist die Verkünderin, die Lehrerin und die Offenbarungsmittlerin. Sie ist die große Frau der Urkirche.
Amen.