21. Juli 2024
Bethaus oder Räuberhöhle
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Er hatte ihnen sonst stets gewehrt. Sie sollten es niemand sagen, damit seine Messianität nicht missverstanden würde. Er lehnt die politische Führerschaft ab. Er will nicht mit den Kohorten seines Volkes auf Jerusalem marschieren. Aber einmal sollte die Königsproklamation doch erfolgen. Dies war die Stunde. Die Tore Jerusalems stehen im Flaggenschmuck des Nazareners, der auf einem Esel reinreitet. Die persischen Teppiche sind aus den Gemächern auf die Straße gelegt. Die duftenden Palmen aus den höchsten Kronen gerissen. Schwellend steigen die Lieder die Gassen Jerusalems entlang und rufen die letzten schläfrigen Bewohner an die Rampe. Übereifrig dieser Pharisäer, der die Jünger hindern will, die laute Proklamation in Szene zu setzen. Der Herr antwortet: „Wenn die schweigen, werden die Steine reden.“ Auf dieses jubelnde Bild fällt der nächtliche Schatten furchtbarer Tragik. Vom Kidronbach her kommt er aufgezogen. Die Welle des Volkes steigt mit ihm über Brücke und Steg. Nun wendet sich der Blick in die weite Ebene, in der Sion liegt, um den davidischen Hügel die marmorglänzende Stadt. Auf den Stufen der Weinbergstreppe fasst der Herr das Geländer. Er beugt sich über das Tor und weint. Jesus weint, sobald er die Stadt vor sich sieht, inmitten des Jubels der ihn begleitenden Festpilger. Über dem Nebelduft der Ebene steht das schmerzliche Bild des Untergangs der jüdischen Stadt. Er sieht die Tage kommen. Die Feinde werden zum Angriff blasen. Sie werden den Wall aufbauen. Sie werden die Bewohner einengen und von allen Seiten bedrängen. Sie werden die Steine und die Kinder dieser Stadt zu Boden schmettern. „Ach, Jerusalem, königliche Stadt, um die ich seit dem ersten Auftakt meiner Lehrtätigkeit wie um keine andere in der Welt gerungen habe, warum hast du deine Heimsuchung nicht erkannt, warum bist du blind geblieben und hast die Krone der Führerschaft, welche die Tradition Israels auf dein Haupt drückt, unwirsch von dir geworfen?“ Ist jetzt, heute, dieser Einmarsch vielleicht die letzte Chance? „Wenn doch du an diesem deinem Tage erkannt hättest, was dir zum Heile dient!“ Das Wort Jesu spricht einen unerfüllbaren Wunsch aus. Jerusalem müsste an diesem Tage, da er es zum letzten Mal betritt, erkennen, was Gott von ihm fordert, und Jesus als seinen Messias gläubig anerkennen. Dann würde es die Bedingung für die Erlangung des Heils erfüllen. Doch dies ist unmöglich, weil ihm diese Erkenntnis durch ein göttliches Strafverhängnis verschlossen ist. Jerusalem hat Jesus nicht als Messias erkennen wollen, und darum ist es jetzt mit geistiger Blindheit geschlagen, die Jesu Wunsch unerfüllbar macht.
Das ist der erste Tag; er neigt sich über die Halde, im Dämmerlicht des Frühjahrs sinkt er nieder, beim letzten Amselschlag. Der Nazarener bezieht mit den Seinen die Quartiere von Bethanien und rückt beim Hahnenschrei des folgenden Morgens wieder zum Tempel. Schon früh betritt er ihn. Der Orient ist früh laut und durchgellt mit dem Geschrei der Verkäufer und Käufer die mildaufleuchtende Morgenstunde. Es quirlt von Menschen aus den nächsten Gassen über die Marmortreppe bis in den Tempel. Sie stoßen sich und schreien und bieten Getreide, Obst, Wein und Opfertiere laut zum Verkauf an. Die zahlreichen Opfer, die Tag für Tag im Tempel dargebracht wurden, hatten einen großen Bedarf an Opfergaben nötig: Bündel von Getreide, Feigen, Weintrauben, Käfige mit den Tauben, blökende Opferlämmer, dazwischen ein Gespann von Stieren, denen sie mit Faust und Ellenbogen den Weg in den Vorhof bahnen. Bis über die Kolonnade hinaus drängt das Volk der Wechsler. Kleine Tischchen, vorgehalten und vorgebunden, darauf die Geldsorten, die der Ausländer, die der Jude, die der Römer braucht, um für den Tempel heiliges Geld zu haben. Dagegen tauscht er die Heimatmünze, dagegen tauscht er den Denar mit dem Bilde des Cäsaren ein. Der 20 Jahre alte Israelit hatte jedes Jahr die Tempelsteuer zu entrichten. Sie musste in der heiligen althebräischen Halbschekelmünze bezahlt werden, während im Übrigen die römische Währung Geltung hatte. Musste das alles so sein? Solcher Lärm, die Unheiligkeit dieses Geschreies, der stiere Blick auf Opfertiere und Menschen, diese ganze Geschäftigkeit, die nur an den Gewinn denkt und an das Feilschen der kaufmännischen Gilde?
Aus praktischen Gründen erlaubte es die Tempelverwaltung, dass die beteiligten Händler und Geldwechsler ihre Geschäfte mit den Tempelbesuchern im äußersten Vorhof des Tempels, den auch Heiden betreten durften, abwickelten. Diese Einrichtung war einerseits ein Entgegenkommen gegenüber den Tempelbesuchern und sollte ihnen die Erfüllung ihrer kultischen Pflichten erleichtern. Anderseits brachte sie den Inhabern dieser Konzession, unter ihnen die Familie des Hohenpriesters Annas, reichen Gewinn ein. In diesem wohlorganisierten Frömmigkeitsbetrieb, der freilich eine allzu enge örtliche Verbindung und Verquickung von Religion und Geschäft bedingte und bei dem sich das Geschäft offen in den Vordergrund drängte, erblickt Jesus eine Entweihung des Tempels selbst. Deshalb schreitet er in heiligem Eifer für die Ehre seines Vaters (Joh 2,17) dagegen ein. Das Eingreifen Jesu richtet sich nicht in erster Linie gegen die anwesenden Viehhändler und Geldwechsler, sondern gegen die verantwortliche Tempelbehörde, die diese Einrichtung geschaffen hat. Indem er sich über diese hinwegsetzt und kraft eigener Vollmacht handelt, offenbart er sich als den Messias. So passt sein Vorgehen gut in die letzte Zeit seines öffentlichen Auftretens, da ihm an der Wahrung seines Messiasgeheimnisses vor den Juden nicht mehr gelegen war. So ist dieses Haus kein „Bethaus“, wie Isaias ausruft, so degradieren sie es zu einer „Räuberhöhle“. Da fasst ihn göttlicher Zorn. Er wirft die Wechseltische um, dass die Münzen klirrend in die Straße hüpfen, und er gibt den Opfertieren ihre Freiheit, indem er ihre Käfige öffnet und sie losbindet, so dass die Opfertiere bis in die Vorhöfe auseinanderstieben. Auch den Missbrauch duldet Jesus nicht, dass jemand zur Wegabkürzung den Tempelvorhof durchschreitet und dabei dem profanen Gebrauch dienende Gegenstände durch die Gott geweihte Stätte trägt. Jesus begründet und erläutert sein Verhalten durch ein Wort, das zwei alttestamentliche Prophetenworte (Is 56,7; Jer 7,11) miteinander verbindet. Wenn Jesus gerade für die Heiligkeit des Vorhofs der Heiden eifert, so einfach deswegen, weil dieser für ihn auch zum Heiligtum gehört. Und erstaunlich: Niemand hindert ihn. So voll göttlicher Kraft steht er da, leuchtenden Auges. Alles wittert und fühlt, dass das der tempelmächtige Herr ist, vor dem sich Israel beugt. Er reinigt den Tempel, und dann lehrt er in ihm täglich die ganze Karwoche hindurch bis zur dunklen Nacht, in der sich über alle Lehren das Geheimnis des Leidens und des Todes dicht vor diesem Tempel vollendet.
Die Tempelreinigung ist keine Affekthandlung, nicht der Ausbruch eines in seinen heiligsten Gefühlen verletzten frommen Gemüts. Sie ist eine Tat von grundsätzlicher Bedeutung und ein Handeln „in Vollmacht“ (Mk 1,22). Dass Jesus in den Kult und die Tätigkeit der Priester eingegriffen habe, davon wird nichts gesagt. Der ganze Vorgang spielt sich ja im Vorhof der Heiden ab. Jesus ist nur einmal in dieser Weise gegen die Entweihung des Tempels eingeschritten. Eine Wiederholung dieser Handlung musste ihr die grundsätzliche Bedeutung nehmen. Jesus sagt den baldigen Untergang des Tempels voraus. Er betont gegenüber der Samariterin die Vorläufigkeit des hier gepflegten Kultes. Aber solange seine Zeit nicht um ist, bleibt er die von Gott, seinem Vater, gewollte Äußerung der Gottesverehrung. Deshalb schreitet Jesus gegen Missbräuche und mechanisierte Entartung ein. Die vorhergesagte Zerstörung des Tempels ist nicht als göttliches Strafgericht gegen den Tempel als Kultort selbst zu verstehen, sondern als Strafgericht über das Judentum. Die „Tempelreinigung“ als solche beweist, dass der Tempel als Stätte der besonderen Verehrung des einen wahren Gottes, seines Vaters, für Jesus Gegenstand der höchsten Ehrfurcht ist (Lk 2,49). So staunenswert sein augenblicklicher Erfolg, der von keiner Seite gehemmt wird, auch erscheinen mag, ist doch eine anhaltende Wirkung weder gesagt noch anzunehmen. Mit keinem Wort deutet einer der Evangelisten an, dass Jesus dabei von seinen Jüngern unterstützt wurde. Joh 2,17 nennt sie nur als Zuschauer.
Der Angriff Jesu gegen eine durch langjährige Praxis und das praktische Bedürfnis geheiligte Einrichtung musste bei den davon Betroffenen die heftigste Empörung auslösen und sie zu schärfster Reaktion reizen. Man möchte erwarten, dass die jüdischen Behörden augenblicklich einschreiten würden. Doch das Attentat auf die bestehende Tempelordnung hat nicht die entscheidende Wende im Leben Jesu, die Katastrophe, herbeigeführt. Der Hohe Rat, der selbstverständlich von dem Eingriff in seine Rechte und Verantwortlichkeiten erfährt, überlegt erst, wie man Jesus beseitigen kann. Man will ihn aus dem Weg räumen, aber Gewaltanwendung vermeiden, und zwar aus Furcht vor dem Volk, das unter dem mächtigen Eindruck seiner Persönlichkeit steht. Jerusalems Verblendung ist bereits der Anfang des göttlichen Strafgerichts. Es wird mit seinem schrecklichen Untergang enden. Der Grund des Untergangs ist der Unglaube Jerusalems. Zur Strafe dafür, dass es seine Gnadenstunde verkannt hat und Jesus nicht als Messias anerkennen will, wird es umso leidenschaftlicher nach dem Messias seiner eigenen Vorstellung und Sehnsucht verlangen, sich deshalb gegen Rom empören und dadurch sein Verderben herbeiführen. „Was geschrieben steht, das ist zu unserer Warnung geschrieben. Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.“
Amen.