Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
10. Dezember 2023

Die Frage des Täufers

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Jesus hat seine messianische Tätigkeit in Galiläa erst begonnen, als sein Vorläufer von Herodes eingekerkert worden war. Das Gefängnis lag an der Ostseite des Jordans, an dessen schmalen Ufern, zwischen Schilf und Geröll, der große Prophet predigte. Wie alle Großen der jüdischen Geschichte hatte auch er erst in der Einsamkeit der Wüste seine Berufung erlauscht und sein Wirken vorbereitet. Dort hatte Jahwe zu ihm gesprochen; aus seinem Atem wagte er den Weg über die Furten des silbernen Stromes. Nun hatte er zwei Jahre die Herzen erschüttert und vor aller Welt die Wahrheit gesagt. Er fürchtete auch die Fürsten nicht, bis Herodes, der Beherrscher der Nordprovinz, den lästigen Mahner festnehmen ließ. Man bezeichnet den Aufenthalt des Johannes in Machärus wohl am besten als „Festungshaft“; er hatte günstige Haftbedingungen. So blieb er mit dem diesseitigen Palästina in Verbindung. Seine Jünger und Freunde durften kommen und gehen. Er las die Gazetten Jerusalems und Jerichos. Er erhielt Besuch aus dem In- und Ausland. Vor allem blieb er auf dem laufenden über das Wirken des Nazareners selbst. Matthäus nennt das „die Werke“. Er meint damit seine Gesamthaltung, seine Art, seine Worte, seine Taten, seinen Gestus. Das ging so einige Monate fort. Was mochten diese Nachrichten an Melancholie über den Jordan tragen? Jede neue Nachricht stimmte nachdenklicher. Das Bild des Messias, das vor seiner Seele stand und das er an wolkendunklen Tagen und in blutroten Nächten zwischen Schilf und Geröll des Jordans gezeichnet hatte, das endgeschichtliche Bild des Richters, der im Posaunenstoß vor die Welt tritt, der die Tenne fegt und den Sturm des Weltenbrandes über die Fluren Israels jagt, duckte sich immer scheuer und verblasste immer mehr vor dem neuen Messiasbild, das drüben an den Hügeln Galiläas aufleuchtete. Monatelang durch Tage und Nächte spaltete sich die Seele des Täufers und rang sein Geist zwischen diesen beiden Bildern. Er begann an sich selber und an seiner Predigt zu zweifeln, ob er den Messias, dessen Wegbereiter er war, wesentlich verstanden und richtig ausgerufen, oder ob er einen „Anderen“ verkündigt habe, der dem Gegenwärtigen nicht gleiche. Johannes ist gläubig genug, diesen Konflikt vor den Nazarener zu tragen. Er sendet zwei seiner Jünger zu ihm. Jesus nimmt sie freundlich auf. Er bittet die Abgesandten voraussetzungslos Menschen und Dinge persönlich zu prüfen. Sie sollen sein Verhalten ganz in der Nähe erleben, er will sie in ihrem Urteil nicht beeinflussen. So sind sie Zeugen seiner Werke, Zeugen der Wunder, Zeugen der Krankenheilungen, Zeugen seines Verkehrs mit Personen aller Stände und seiner Güte vor allem gegen Menschen, die im Schatten des Lebens stehen.

Nach ein paar Tagen fragt der Herr die Johannesjünger, ob sie nun genug gesehen haben, ob man ihnen alle Türen geöffnet und ob man ihnen ungeschminkt alle Fragen beantwortet hat. Die Jünger des Täufers bejahen, und er entlässt sie mit einem Stichwort, das sie dem Johannes mitteilen sollen, und dieses Stichwort reiche aus. Sie sollen ihm sagen, das Bild des Nazareners, das sie nun erlebt hatten, entspreche den Farben des Propheten Isaias, der den Messias male als den, durch den Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige rein werden, Taube hören, Tote aufstehen und (was für die jüdische, für die römische, für die griechische Oberschicht unfasslich war) der die Armen um seine Kanzel schare. Jesus antwortet also auf die klar formulierte Frage des Täufers ebensowenig mit einem runden Ja, wie er dem Volk gegenüber je in aller Form erklärt hat: Ich bin der Messias. Das Messiasgeheimnis bleibt selbst dem Täufer gegenüber gewahrt. Der Täufer wird auf den gleichen Weg zur gläubigen Erkenntnis der Messiaswürde Jesu verwiesen, den auch die Jünger gehen mussten und den das Volk gehen sollte: er soll aus den Taten Jesu und der Erkenntnis ihres messianischen Charakters Jesu Messianität erkennen. In seinen Wundern an Kranken und Toten und der Verkündigung des Evangeliums an die „Armen“ erklärt Jesus die Weissagung des Isaias erfüllt. Damit ist klar, dass die Worte „blind, lahm, taub, tot“ im eigentlichen Sinne und nicht übertragen zu verstehen sind. Jesus verweist den Täufer lediglich auf seine Werke, die dieser bereits kannte und die gerade die Anfrage veranlassten. Indem Jesus aber diesen Hinweis auf seine Werke deutlich in Worte des Isaias kleidet, gibt er dem Täufer eine Andeutung für ihr rechtes Verständnis. Die Seligpreisung, mit der die Antwort Jesu schließt, ist an den Täufer selbst gerichtet. Der verdient selig gepriesen zu werden, der sich im Glauben an Jesus nicht irre machen lässt, auch wenn die Art von dessen Wirksamkeit seiner persönlichen Vorstellung vom Messias nicht entspricht. Darin liegt ein in schonender Form ausgesprochener Tadel, eine Warnung an jeden, der anders denkt. Es wird nicht erzählt, wie sich der Täufer zu dieser Antwort Jesu gestellt hat.

Diese Szene entbehrt nicht der Tragik. Johannes erfährt nur mehr vom Kerker aus vom Auftreten des Messias, auf dessen nahes Kommen hinzuweisen er gesandt war. Er erlebt daher selbst eine Krise seines Glaubens an den, dem er Israel – wie der Brautführer die Braut – zuführen sollte; die geschichtliche Wirklichkeit des Wirkens Jesu entsprach nicht seinem eigenen Bild vom „Stärkeren“. Er stand noch auf der Ansicht des Alten Testaments, das nicht das erste Kommen des Messias vom zweiten unterschied. Er beurteilte darum folgerichtig Jesus nach dem fertigen Bild, das er selbst vom Kommenden hatte, und darum geriet er in Zweifel, ob Jesus diesem Bild entsprach. Er vermisste an der Person und Wirksamkeit Jesu gerade jenen Zug, den er am stärksten betont hatte, die Feuertaufe des strafenden Richters. Er vermisste an ihm aber auch den durchschlagenden Erfolg beim Volk und das klare und offene Bekenntnis, dass er wirklich der Messias sei. Der Jesus von seinem Vater bestimmte Weg war auch für Johannes ein Ärgernis. Wie die Botschaft der Jünger in Machärus aufgenommen wurde, wissen wir nicht. Aber aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass der große Schüler des großen Meisters die Korrektur hinnahm und in die letzten Tage seines Lebensabends den milden Glanz der neuen Messiasvision einbettete.

Der Meister selbst ließ ihn nicht fallen. Er umriss das geschichtliche Bild des Vorläufers. Zu den Aposteln, zu den Pharisäern, zu Gläubigen und Ungläubigen gewandt, fragte er: Erinnere ich mich recht? Auch ihr wart im vorigen Herbst draußen an den Gestaden des Jordans, seine Predigten zu hören. Das war damals die große Mode in Israel. Was seid ihr gegangen, am Wüstenrand zu schauen? Das war keine Vergnügungsreise, denn die Landschaft am Jordan ist monoton und ladet nicht zum Wochenende wie die Riviera drüben am blauen Mittelmeer. Ihr seid also um dieses Johannes willen dahin gepilgert. Was lockte euch an ihm? Die beiden ersten rhetorischen Fragen Jesu haben einen stark ironischen Klang. Sie nennen den stärksten Gegensatz zu dem, was der Täufer wirklich war. Er war weder ein bieg- und schmiegsamer Hof-Beichtvater noch ein Genussmensch, wie man sie vor allem in den Palästen der Könige antrifft. Der Täufer war ein furchtlos-unbeugsamer Mahner auch einem Herodes Antipas gegenüber und ein strenger Asket. Er ist wahrhaftig kein Weltmann. Ein richtiges Gefühl hat euch gesagt, dass da draußen zwischen Schilf und Geröll ein ganz Großer steht, zu dem es lohnt, hinauszupilgern. Ihr nennt ihn einen Propheten. Ja, das ist kein Duodezprophet. Er ist ein Planet, der um die Sonne geht, aber ein Prophet mit eigenem Mond; denn ein früherer Prophet hat ihn vorhergesagt. Darin gibt Jesus dem Urteil des Volkes recht, dass Johannes wirklich ein Prophet ist; aber noch mehr, nämlich der von Malachias vorausverkündete unmittelbare Wegbereiter des Messias. Bei Malachias steht das Wort, das sich auf Johannes bezieht: Ich sende vor deinem Angesicht, o Messias, meinen Boten voraus, dass er dir den Weg bereite. Er nimmt infolgedessen eine einzigartige heilsgeschichtliche Stellung ein, und diese gibt ihm eine einmalige Größe. Unter den bisher in der Geschichte aufgetretenen Menschen ist Johannes der Größte. Jesus legt Zeugnis ab über seinen Vorläufer und offenbart dem Volke seine persönliche und heilsgeschichtliche Größe.

Dieses große Wort über den Täufer aus dem Munde Jesu erfährt nun sogleich eine wichtige Einschränkung. Inzwischen ist eine neue Heilsordnung angebrochen, welcher der Täufer nicht mehr angehört. Es ist die Heilsordnung des Reiches Gottes. Das Reich Gottes ist seinem Wesen nach eschatologisch, endzeitlich, doch es reicht mit seinen Kräften und Wirkungen schon in den gegenwärtigen Äon herein. Der Täufer gehört dieser mit dem Auftreten Jesu gekommenen Zeit nicht mehr an; er bleibt, obgleich er ihr unmittelbarer Herold ist, im Vorhof, im Bereich der alten Ordnung. Darum steht er trotz seiner überragenden heilsgeschichtlichen Stellung selbst hinter dem Geringsten, welcher der neuen Ordnung angehört, zurück. Der Evangelist Matthäus schließt an das eben angedeutete Wort Jesu ein anderes Wort des Herrn an, das ebenfalls von dem Platz spricht, den der Täufer in der Heilsgeschichte einnimmt. „Von den Tagen Johannes des Täufers an bis heute bricht das Himmelreich mit Gewalt sich Bahn, und Gewalttäter reißen es an sich.“ Seit den Tagen des Täufers ist eine neue Epoche der Heilsgeschichte angebrochen. Mit dem Täufer schließen „Gesetz und Propheten“. Das heißt: der Alte Bund geht zu Ende. Nach dem Propheten Malachias muss der wiederkommende Elias dem Messias als Vorläufer vorangehen. Wenn Jesus der Messias ist, dann muss auch Elias bereits gekommen sein. Dass dies wirklich geschehen ist, hat Jesus eindeutig ausgesprochen. Der Täufer ist der wiedergekommene Elias. Er war nicht in der Person des Elias, sondern in der Rolle, in der Funktion.

Was sich zwischen Jesus und dem Täufer zutrug, ist beispielhaft für die Gegenwart. Die gläubige Christenheit hofft mit dem Apostel Paulus, dass das jüdische Volk noch zur Erkenntnis kommen wird, dass sein Messias nicht mehr zu erwarten ist, sondern dass er bereits erschienen ist. Sie hofft auf Gottes Erbarmen über das einstens auserwählte Volk. Das heutige Judentum muss auf dieselbe Weise in Jesus von Nazareth den Messias entdecken wie dessen Zeitgenossen und auch der Täufer. Das geschichtliche Wirken Jesu, seine Worte und seine Taten, ist auch heute noch der Weg, auf dem das jüdische Volk seinen Messias finden soll, freilich verstärkt durch die geschichtliche Auferstehung und Himmelfahrt des Herrn, und das als Erfüllung der Verheißungen des Propheten Isaias. Heil dem, der sich an ihm nicht ärgert!

Amen.

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