Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
29. November 2020

Das Kommen Gottes auf die Erde

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wenige Tätigkeitswörter spielen in der christlichen Religion eine so große Rolle wie das Wort Kommen. Das Kommen wird von Gott ausgesagt und vom Menschen. Das Alte Testament ist angefüllt mit Stellen, an denen vom Kommen Gottes und des Messias die Rede ist. Mit dem Kommen Gottes wird das machtvolle Eingreifen Gottes in die Geschichte seines Volkes, der Völkerwelt und der gesamten Menschheit ausgesagt. Im ersten Buch der Bibel heißt es: „Nicht weichen wird von Juda das Zepter, von seinen Füßen der Herrscherstab, bis der kommt, dem er gebührt und dem die Völker gehorchen“ (Gen 49,10). Der Prophet Balaam sagte vorher: „Kommen wird von Jakob der Herrscher, vertilgen aus den Städten den Rest“ (Num 24,29). Kein Prophet kündigte häufiger Gottes Kommen an als Isaias. „Gott selber wird kommen und euch erretten“ (Is 35,4). „Seht, der Allmächtige kommt als Sieger“ (Is 40,10). „Der Herr, Gott kommt mit Macht“ (Is 40,10). „Er kommt für Sion als Erlöser“ (Is 59,20). „Auf werde licht, Jerusalem, denn es kommt dein Licht“ (Is 60,1). „Saget der Tochter Sion: Siehe, dein Heiland kommt! Sein Lohn kommt mit ihm, und seine Vergeltung geht vor ihm her!“ (Is 62,11). Der Prophet Joel sah den großen und schrecklichen Tag des Herrn kommen (Joel 2,31). Der Prophet Aggäus schaute das Kommen des von allen Völkern Ersehnten (2,8). Der Prophet Zacharias verkündete Jerusalem: „Laut juble, Tochter Sion! Aufjauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir, gerecht und als Heiland, voll Demut. Er sitzt auf einem Esel“ (Zach 9,9). Der Prophet Daniel sieht einen kommen, der aussieht wie ein Menschensohn, auf den Wolken des Himmels. „Ihm ward Herrschaft, Ehre und Reich verliehen. Ihm müssen alle Völker, Nationen und Zungen dienen. Seine Herrschaft wird ewig dauern und nie vergehen“ (7, 13-14). Das von den Propheten angesagte Kommen Gottes und seines Messias ist eingetroffen. Gott hat seine Ankündigung erfüllt und übererfüllt. Das Volk Israel erwartete einen kraftvollen Herrscher, der einen Musterstaat aufrichtet. Es kam ein religiöser Reformer, der erklärte, sein Reich sei nicht von dieser Welt. Die Israeliten rechneten mit dem Kommen eines Menschen. Stattdessen kam ein Gott. Der verheißene Retter ist gekommen. Als die Fülle der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn, geboren aus einer Frau. Ein Engel verkündete der Jungfrau Maria in Nazareth, dass sie der Menschheit den Retter gebären solle. Als Maria unsicher fragte, wie dies geschehen könne, erklärte der Engel, dass der Heilige Geist über sie kommen und Kraft des Allerhöchsten sie überschatten werde. Und er fügte hinzu: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich.“ Auf den Halden von Bethlehem brachte Maria den Retter, Christus, den Herrn zur Welt. Die Engel verkünden, wer hier erscheint: „Heute ist der Heiland geboren, der Messias und Herr.“ Und das gläubige Volk gibt die jubelnde Antwort: „Christ, der Retter, ist da.“

Gott kommt zu den Menschen. Das ist der Inhalt des Glaubenssatzes von der Menschwerdung des Sohnes Gottes. Er blieb, was er war, nämlich der wahre Sohn des ewigen Vaters, und nahm an, was er nicht hatte, nämlich die wahre Natur eines Menschen. Gott ist wirklich und wahrhaft über die Fluren von Palästina gewandelt. Es gibt ein heiliges Land. Der evangelische Theologe Reinhold Seeberg bezeichnete es als „Wahn“, „den Christus des Johannesevangeliums als einen auf Erden wandelnden Gott zu verstehen“. Genau das ist der Inhalt des Kommens Gottes: Er hat sich auf dieser Erde gegenwärtig gesetzt, um das aufzuarbeiten, was der Mensch in seiner Gottvergessenheit angerichtet hat. Er ist segenspendend über die Fluren Palästinas gewandelt. Wir Gläubigen haben uns daran gewöhnt, dieses Geschehen gelehrt und verkündigt zu bekommen. Aber deswegen ist es nicht weniger alle menschlichen Vorstellungen übersteigend. Dass Gott, der unendliche, anfanglose, ewige Gott, es unternahm, auf die Erde zu kommen, in der Gestalt eines Menschen Kindheit, Jugend und Mannesalter zu durchleben, predigend und heilend in einem Land des Nahen Ostens zu wandern, die Begeisterung und den Hass seiner Zeitgenossen auf sich zu ziehen und zu ertragen, das alles ist überraschend, schockierend und unerhört. Aber weil dies wirklich geschehen ist, deswegen gibt es einen Advent, eine Zeit der Erwartung, welche die Jahrtausende der Sehnsucht aufleben lässt. Deswegen gibt es Weihnachten, den heiligen Tag, welcher der Erinnerung an die heilige Nacht gewidmet ist, in der das Wort Fleisch wurde. Darum singt das gläubige Volk: „O komm, o komm, Emanuel, nach dir sehnt sich dein Israel.“ „Komm, der Völker Heiland du, Sohn der Jungfrau, eil herzu.“ „Es kam ein Engel hell und klar, von Gott aufs Feld zur Hirtenschar.“ „Macht hoch die Tür, die Tor’ macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit.“ „Auf, gläubige Seelen, singet Jubellieder, und kommet, kommt alle nach Bethlehem.“ „Morgenstern der finstern Nacht, der die Welt voll Freuden macht, Jesu mein, komm herein, leucht in meines Herzens Schrein.“

Jesus von Nazareth, der Sohn Marias, hat sich selbst unüberhörbar als den „Gekommenen“ bezeichnet. „Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe“ (Joh 12,46). Vor Pilatus bekennt der Herr: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich Zeugnis gebe für die Wahrheit.“ Jesus hat sich wiederholt über den Zweck seines Kommens ausgesprochen. An der Spitze steht die Aussage: „Ich bin gekommen im Namen meines Vaters“ (Joh 5,43). Er ist nicht gekommen in eigener Autorität. Er ist kein Pseudomessias. Er ist gekommen, weil ihn der Vater gesandt hat. Jesus spricht von dem Kampf, den er durch seine Person in der Welt entfesseln wird: „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen, und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entzündet“ (Lk 12,49). Mit seinem Auftreten ist die Zeit der Entscheidung angebrochen, in der es keine Neutralität gibt. „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10,34). „Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit die nicht Sehenden sehen und die Sehenden blind werden“ (Joh 9,39). Er ist der Heiland. „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder“ (Mt 9,13). „Der Menschensohn ist nicht gekommen, Menschenleben zu vernichten, sondern zu retten“ (Lk 9,56). „Meinet nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin gekommen, sie zu erfüllen.“ Den Gipfel erreicht die Aussage Jesu: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösepreis für viele“ (Mt 20,28).

Jesu Herkunft prägt sein Leben. Er ist der einziggeborene Sohn des himmlischen Vaters. In seiner Erdenzeit lebt er daher nach dem Stundenschlag des Vaters. Er handelt nicht eher, als bis die Stunde gekommen ist, die der Vater bestimmt. Wenn seine Mutter ihn auf die Verlegenheit der Hochzeithaltenden aufmerksam macht, muss sie hören: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Die feindseligen Juden suchten Jesus mitten in seiner Lehrtätigkeit festzunehmen. Und doch legte niemand Hand an ihn, weil seine Stunde noch nicht gekommen war. Als Jesus im Tempel lehrte und sich den Juden als das Licht der Welt empfahl und von Gott als seinem Vater sprach, waren die Pharisäer empört. Doch niemand ergriff ihn; denn noch war seine Stunde nicht gekommen. Der Herr wurde von seiner Verhaftung nicht überrascht. Während die Jünger schliefen, wachte und betete er. Dann sprach er zu ihnen: „Es ist genug. Die Stunde ist gekommen. Der Menschensohn wird ausgeliefert werden in die Hände der Sünder. Steht auf! Lasst uns gehen. Seht, mein Verräter naht.“ Den Häschern hält Jesus entgegen: „Das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.“ Die Stunde des Verrats ist gekommen. Aber noch eine andere Stunde. „Es kommt die Stunde, und sie ist schon da, in der die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören, werden leben“ (Joh 5,25). Die eschatologische Stunde, in der nach der alttestamentlich-jüdischen Enderwartung die Toten auferweckt werden, ist bereits gekommen. Die hier genannten Toten sind die Menschen, die das (ewige) Leben nicht besitzen, also die geistlich Toten, und das sind alle Menschen. Die Stimme des Sohnes Gottes, die die Toten zum Leben ruft, ist seine in der Gegenwart erschallende Predigt. Die Hörer werden in solche geschieden, die sie nur (mit den Ohren) vernehmen, und in solche, die sie gläubig aufnehmen. Diese letzteren erhalten das (ewige) Leben. Das Gericht, mit dem die Zuerteilung des (ewigen) Lebens verbunden ist, wird als bereits in der Gegenwart sich vollziehend dargestellt.

Gott ist gekommen in Jesus dem Christus. Jetzt ist es an den Menschen, zu ihm zu finden. Doch siehe da! Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt; die Welt ist sogar durch ihn geworden. Aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinigen nahmen ihn nicht auf. Doch nicht alle versagten sich ihm. Es gab solche, die ihn aufnahmen. Es sind diejenigen, die an ihn glauben. Sie sind aus Gott geboren. Es ist also der Glaube, der den Menschen zu Gott kommen lässt. Der Brief an die Hebräer sagt es uns ausdrücklich: „Wer zu Gott kommen will, muss glauben, dass er ist (existiert) und dass er denen, die ihn suchen, ein Vergelter wird“ (Hebr 11,6). Das Glauben an Gott ist ein Kommen zu Gott. Der Glaube ist ein Weg, der Weg zu Gott und seinem Gesalbten. Durch Glauben tritt man ein in die Jüngerschaft Jesu. Johannes sagt es uns auf seine Weise: „Die den menschgewordenen Gottessohn aufnahmen, d.h. die an seinen Namen glaubten, denen gab er Vollmacht, Kinder Gottes zu werden“ (Joh 1,12). Als Jesus wenige Tage vor seinem Leiden in die Stadt Jerusalem einzog, bereiteten ihm seine Anhänger einen festlichen Empfang. Sie riefen: „Hosanna, dem Sohne Davids; hochgelobt der da kommt im Namen des Herrn; Hosanna in der Höhe“ (Mt 21,9). Jesus ist wahrhaftig gekommen im Namen Gottes. In jeder heiligen Messe nehmen wir den Jubelruf der Anhänger Jesu in Jerusalem auf und rufen: „Hochgelobt (sei), der da kommt im Namen des Herrn!“ Denn wir wissen: Jetzt beginnt die Opfermesse. Darin wird Jesus in einer Weise gegenwärtig, wie er es bis dahin nicht war. In der Wesensverwandlung von Brot und Wein macht er sich wahrhaft, wirklich und wesentlich gegenwärtig. Er kommt. Darum singt das gläubige Volk: „Kommt und lobet ohne End’, lobt das höchste Sakrament, welches Jesus eingesetzet, uns zum Testament.“ Und wieder: „Kommt her, ihr Kreaturen all, kommt, was erschaffen ist. Kommt her und sehet allzumal, wer hier zugegen ist.“ Und noch einmal: „Kommt zum großen Abendmahl, o Erlöste, kommt mit Freuden. Kommt in Jesu Speisesaal. Zum Gedächtnis seiner Leiden gab er uns dies Himmelsbrot.“ Wenn wir unsere Unwürdigkeit bekennen, das Brot des Lebens zu empfangen, sprechen wir vom Eingehen, also vom Kommen des Herrn zu uns unter der Gestalt des Brotes. Er, den wir in der heiligmachenden Gnade, in der Einwohnung des dreieinigen Gottes in unserer Seele schon besitzen, wird durch den Empfang des Herrenleibes in einer neuen Weise gegenwärtig. Auf dieses Kommen richtet sich unsere Sehnsucht, unser Verlangen, unser Heimweh. „Jesus, Jesus, komm zu mir; o wie sehn` ich mich nach dir. Meiner Seele bester Freund, wann werd’ ich mit dir vereint? Tausendmal begehr’ ich dein, Leben ohne dich ist Pein. Tausendmal seufz’ ich zu dir, o mein Jesus komm’ zu mir. Komm’, o Jesus, säume nicht, komm mit deinem Trost und Licht. Meine Seel’ bewahre dir, ewig, ewig bleib’ bei mir.“ Am Schluss der heiligen Messe beten wir den Prolog des Johannes-Evangeliums. Gegen Ende des Textes heißt es: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Damit ist ursprünglich die Menschwerdung der zweiten göttlichen Person gemeint. Die Kirche verwendet diese Aussage hier als Hinweis auf das unerhörte Geschehen der heiligen Messe: Der Sohn Gottes wandelt Brot und Wein in seinen heiligen Leib und sein kostbares Blut. Noch einmal und immer wieder wird das ewige Wort des Vaters gegenwärtig. Noch einmal und immer wieder kommt der Herr wahrhaft, wirklich und wesentlich zu uns. Noch einmal und immer wieder wird das Wort Fleisch, sehen wir, wenn auch verborgen, seine Herrlichkeit voll der Gnade und Wahrheit. O meine Freunde, welche Freude, welches Glück, welche Seligkeit, ein katholischer Christ zu sein. Vor beinahe 70 Jahren wurde ich zum Priester geweiht. Wenn Sie mich fragen, was mich zum Priestertum geführt hat, dann antworte ich: Weil ich das hochheilige Messopfer jeden Tag dem himmlischen Vater darbringen darf, zur Ehre seines Namens und zum Heile seines Volkes, weil ich den Heiland herabrufen darf auf den Altar. Deswegen bin ich Priester geworden, und das ist mein unaussprechliches Glück.

Amen.

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