Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Januar 2020

Das neue Jahr

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Kirche feiert heute das Fest der Beschneidung des Herrn. Die Beschneidung ist ein jüdischer Brauch; es wird die Vorhaut des Knaben entfernt. Er ist das Bundeszeichen, das Gott seinem Volke Israel gegeben hat. Und da Jesus ein Angehöriger dieses Volkes war, musste er sich, nach Gottes Willen, auch dieser Prozedur unterwerfen. Freilich, der 1. Januar ist bei uns der Beginn des neuen bürgerlichen Jahres. Und das ist ja nicht unbedeutsam. Wir leben in dieser Welt und wir müssen uns in dieser Welt zurechtfinden und mit ihren Bedingungen uns vertraut machen. Allerdings ist jedes Jahr, auch das neue Jahr, ein Jahr Gottes – Annus Domini, ein Jahr des Herrn, d.h. es gehört ihm, und er übergibt es uns als treue Verwalter. Er wird darüber richten, was wir mit diesem Jahre angerichtet haben. Jeder wird fragen: Was wird es bringen, das neue Jahr? Worauf haben wir uns einzustellen? Womit müssen wir rechnen? Die Gabe der sicheren Zukunftsschau ist uns verwehrt. Aber es gibt Haltepunkte und Richtungsweisen, die unser Leben einigermaßen erklären können. Wir haben Gewissheiten und Ungewissheiten. Wir wissen, was Gott von uns erwartet: dass wir ihn anerkennen, achten und ehren, dass wir ihn lieben und ihm dienen, dass wir seine Gebote halten. Wir wissen, dass die uns geschenkte Lebenszeit einmalig ist; es gibt keine Wiederholung. Entweder gelingt unser Leben oder es scheitert. Wir wissen, dass wir die Zeit auskaufen müssen, d.h. wir müssen sie zur Ehre Gottes verbringen. Hier ist kein Ort der Ruhe. Hier auf Erden ist der Ort des Kampfes, der Arbeit und der Mühe; ausruhen werden wir uns in der Ewigkeit. Wir wissen, dass wir nicht beides haben können: hier auf der Erde die törichten Freuden der Weltkinder genießen und dort mit Christus herrschen, nein, das können wir nicht. Wir wissen, dass wir aushalten müssen auf dieser Erde, in diesem Lande. Das Deutschland der Abtreiber und der Geschlechtsumwandler wird uns immer mehr zur Fremde. Auch die Flucht aus den Verhältnissen ist uns verwehrt.

Wir wissen, dass Gott jedem Menschen die Gnade schenkt, die notwendig ist, um im Leben zu bestehen und in den Himmel zu gelangen. Möchte seine Gnade keinem Unwürdigen gegeben werden. „Von der Vernachlässigung der Einsprechungen erlöse mich, o Herr!“, so beten wir in der Litanei vom Namen Jesu. Wir wissen, dass uns jeder Tag unseres Erdenlebens dem Ende näherbringt. „Sterblicher, denk ans Sterben!“ Wir wissen, dass die Verheißungen Christi uns im neuen Jahr begleiten. „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ „Alles, was ihr den Vater in meinem Namen – in meinem Namen! – bitten werdet, wird er euch geben.“ Die Sorge um die Kirche hat uns im vergangenen Jahr unablässig begleitet. Wir wissen, dass sie uns im neuen Jahr nicht verlassen wird. Wir müssen auf weitere unangenehme Überraschungen aus Rom gefasst sein. Wir wissen, dass Gott seine Kirche nicht verlassen wird. Er prüft uns. Er lässt Schweres über uns kommen. Aber wenn wir aushalten und wenn das Maß unserer Leiden voll sein wird, dann wird er herabsteigen und die Wende herbeiführen. Wir wissen, dass die Wahrheit wahr bleibt, dass es keine legitime Veränderung der Wahrheit geben kann. Wir wissen, dass scheitern muss, wer die Hand an die verbindliche Lehre der Kirche über die geschlechtliche Sittlichkeit legt. Das können sich die Herren Marx und seine Gefolgschaft überlegen. Die Kirche kann nicht wie ein Unternehmer sich verhalten, der sein Angebot ändert, wenn die Nachfrage nachlässt. Das sind einige Gewissheiten, die uns in das Jahr 2020 begleiten.

Ihnen stehen Ungewissheiten gegenüber. Wir kennen nicht die Pläne Gottes über seiner Schöpfung, über unserem Volk, über jedem einzelnen von uns in ihren Einzelheiten. Wir wissen nicht, welche Erfolge und Freuden der Vater im Himmel im soeben begonnenen Jahr für uns bereithält. Vielleicht gelingt es uns, brauchbar und nützlich für Gottes Ehre zu sein. Vielleicht dürfen wir ein Segen für die Menschen sein, die uns anvertraut sind. Wir wissen nicht, welche Belastungen und welche Beschwerden uns im neuen Jahr treffen werden. Wir wissen nicht, welches Leid im neuen Jahr über uns hereinbrechen wird, welche Unfälle, welche Verluste. Wir wissen nicht, ob das soeben begonnene Jahr vielleicht das letzte unseres Lebens sein wird. Wir wissen nicht, welche Schrecken die Naturgewalten uns in diesem Jahre bereiten werden: Trockenheit, Dürre, Stürme, Orkane, Erdbeben, Vulkanausbrüche; die Erde wehrt sich gegen ihren Missbrauch. Wir wissen nicht, wie sich die politische Lage gestalten wird. Werden die Supermächte: Amerika, Russland, China zur Verständigung, zum Ausgleich finden? Oder wird es einen neuen Kalten Krieg geben? Oder – Gott bewahre uns – möglicherweise einen Heißen Krieg? Wir wissen nicht, wie sich die Wirtschaft entwickeln wird. Der Yale-Ökonom und Nobelpreisträger Robert Shiller warnt vor einer weltweiten Rezession. Der Wirtschaftsfachmann Markus Krall erklärt: „Ich schätze, der große Finanz- und Wirtschaftskrach kommt im dritten und vierten Quartal 2020. Ich garantiere es nicht, aber ich schätze es.“ Nach Marc Friedrich und Matthias Weik steht der größte Crash aller Zeiten bevor: Vermögen wird vernichtet, Sparguthaben werden entwertet, der Euro in den Abgrund gerissen.

Wir wissen nicht, wie es in unserer Kirche weitergehen wird. Wird die Selbstzerstörung anhalten? Wird der Papst endlich begreifen, dass der Kirche nicht mit Verbilligung zu helfen ist, sondern mit Umkehr? Werden die Bischöfe endlich verstehen, dass nur die Bekehrung die Kirche retten kann und nicht die Mätzchen eines synodalen Weges? Eine fromme Ordensfrau hat mir zu Weihnachten die Frage gestellt: „Ist die Kirche in Deutschland noch zu retten?“ Wir wissen nicht, ob das Jahr 2020 die Wiederkunft des Herrn bringen wird. Der Herr ist nahe, sagt uns die Kirche, und das ist kein Irrtum und keine Täuschung. Denn was jederzeit eintreten kann, das ist immer nahe.

Die Zukunft ist uns grundsätzlich verschlossen, aber Erfahrung und Beobachtung gestatten Vermutungen; man nennt sie Prognosen, Voraussagen aufgrund von bestimmten Fakten. Die Meteorologen geben eine Prognose über das Wetter ab; die Ärzte stellen Diagnosen für den Verlauf einer Krankheit; die Politiker versuchen das Ergebnis der Wahl vorherzusagen; die Fachleute der Wirtschaft veröffentlichen Aussichten über die Entwicklung des Arbeitsmarktes. Das alles ist richtig und zulässig. Manche Menschen besitzen die Fähigkeit, in Visionen von räumlich und zeitlich bevorstehenden Ereignissen Kenntnis zu erhalten. Es hat im Jahre 1914 einen Mann in Österreich gegeben, der die Ermordung des Thronfolgers Franz-Ferdinand am 28. Juni 1914 mit allen Einzelheiten vorausgesehen hat. Es gibt eben das Phänomen der Präkognition. Manchen Menschen ist es gegeben, für die zukünftigen Vorgänge eine Erkenntnis zu haben, die anderen verschlossen ist. Im griechischen Altertum war es die Trojanerin Kassandra, die die Gabe hatte, die Zukunft vorauszusehen. Aber sie wurde nicht nur mit dieser Gabe beschenkt, sie wurde auch mit dem Fluch geschlagen, dass niemand ihr glauben wird. Die Kassandrarufe verhallten ungehört. Friedrich Schiller hat ihr Schicksal beschrieben: „Warum gabst du mir zu sehen, was ich doch nicht wenden kann?“, hält Kassandra Gott entgegen, „Das Verhängte muss geschehen, das Gefürchtete muss nahen. Schrecklich ist es, deiner Wahrheit sterbliches Gefäß zu sein.“ Ein dunkler Vorhang bedeckt das neue Jahr. Gott wird ihn heben Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat.

Wie sollen wir uns verhalten angesichts dieser Gewissheiten und Ungewissheiten? Erstens: gefasst sein. Gefasst ist, wer sich nicht aus der Fassung bringen lässt, wenn Unerwartetes über ihn hereinbricht, nicht den Kopf verlieren, nicht meint, es sei alles gleich verloren. Es ist klug und christlich zugleich, sich nicht allzu sicher zu fühlen auf dieser Erde. Es empfiehlt sich, auch mit Rückschlägen und Unfällen zu rechnen. Es ist nicht falsch, auch den schlimmsten Fall einzukalkulieren – worst case, wie die Amerikaner sagen. Zweitens: bereit sein, bereit sein für das, was nach Gottes Willen über uns kommt. Wir können ihm nicht entgehen. Wir müssen auf uns nehmen, was der Herr verfügt. Wir werden es vermögen, wenn wir uns darauf eingestellt haben, dass Schweres unser Los sein kann. Am Schluss seiner Rede über die Zukunft erklärt unser Heiland: „Was ich euch sage, dass sage ich allen: Wachet!“ Drittens: bemüht sein, den Willen Gottes zu erfüllen. Dafür sind wir auf Erden: Gott zu lieben, Gott zu dienen, sein Gebot zu halten. Wir wollen weiter arbeiten, uns anstrengen, aus unserem Geist und aus unserem Körper herausholen, was möglich ist. Wir wollen unsere Sinne im Zaume halten und nüchtern, gerecht und fromm in dieser Welt leben. Wir wollen nicht uns leben, sondern denen, die unser bedürfen, die auf uns bauen; wir wollen sie nicht enttäuschen. Wir wollen uns bemühen mit unseren Kräften, in unserer Zeit, mit unseren finanziellen Mitteln den Bedürftigen, Kranken und Misshandelten Hilfe zu leisten. Viertens: ergeben sein. Wenn Gott verfügt hat, dass ein schweres Schicksal unser Los sein soll, ist keine irdische Macht imstande, dieses Schicksal abzuwenden. Es ist klug, nein, es ist die einzig mögliche und richtige Haltung, sich unter die mächtige Hand Gottes zu beugen. Fünftens: getrost sein. Unser Gott ist der Vater der Erbarmungen und der Gott allen Trostes. Gott ist es, der die Demütigen tröstet. Christus hat die Trauernden seliggepriesen, denn sie werden getröstet werden. Der einzige Mann auf einem Schiff, der einzige unter der Besatzung, der auch seine Familie an Bord nehmen kann, nehmen darf, ist der Kapitän. Auf einem solchen Schiff geschah folgendes: Ein Seesturm kam, der Orkan tobte, die Wellen gingen hoch. Das Kind des Kapitäns schlief. Als es erwachte und das Toben der Elemente gewahr wurde, fragte es die Mutter: „Ist der Vater auf der Brücke?“ Die Mutter bejahte es. Da sagte das Kind: „Dann ist es gut“, und es schlief wieder ein. Meine lieben Freunde, der Kapitän, der das Schiff dieser Welt lenkt, ist auf der Brücke. Sein Auge wacht, seine Hand lenkt, er zittert nicht. Darum ist es gut.

Amen.

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