22. Dezember 2013
Geschichte und Mythos
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In den Jahren 1835/36 veröffentlichte der evangelische Theologe David Friedrich Strauß ein Buch mit dem Titel: „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“. In diesen beiden Bänden – ich habe sie gelesen –, in diesen beiden Bänden wird das gesamte Christusereignis als mythisch ausgegeben, nicht geschichtlich, sondern mythisch, also erfunden aus der Fantasie, „aus der freischaffenden Sage hervorgehend“, wie Strauß schreibt. Ich müsste nicht von David Friedrich Strauß sprechen, wenn er vergessen wäre, aber er ist nicht vergessen. Seine Thesen haben bis heute eine Stelle bei nicht wenigen evangelischen Theologen. Es scheint mir, als hätte Lukas, der Evangelist, eine Vorahnung gehabt, was einmal aus dem Christusereignis gemacht werden würde. Und dass er deswegen das öffentliche Auftreten des Vorläufers, und damit auch Jesu, mit einer geschichtlichen Einleitung versehen hat. Sechsfach gibt er an, wann sich die Geschehnisse zugetragen haben, von denen er in seinem Evangelium berichtet.
An erster Stelle nennt er den Kaiser Tiberius. Tiberius Julius Caesar Augustus war von 14 bis 37 nach Christus römischer Kaiser. Er war ein tüchtiger Kaiser, ein bedeutender Feldherr. Er hat in Armenien gekämpft und in Germanien. Er hatte mit seinem Bruder Rätien und Videlizien unterworfen, d.h. also die Gegend von der Donau bis zum Lago Maggiore. Im Jahre 4 hatte ihn der Kaiser Augustus adoptiert, und im Jahre 13 übertrug er ihm die Mitregentschaft. Augustus starb am 19. August 14 nach Christus. Deswegen fällt das 15. Jahr des Tiberius – also seines Nachfolgers – zwischen den 19. August 28 und den 18. August 29. Das ist also eine ganz genaue chronologische Angabe. Tiberius kommt bei den Geschichtsschreibern schlecht weg. Er war misstrauisch, er hat sich kein „X für ein U“ machen lassen, er war auch genau in der Finanzwirtschaft, aber er muss ein bedeutender Herrscher gewesen sein.
An zweiter Stelle nennt Lukas den Statthalter des Kaisers: Pontius Pilatus. Im Jahre 6 n. Christus wurden Judäa und Samaria in unmittelbare römische Verwaltung genommen. Und über sie wurde ein Prokurator, also ein Landpfleger, gesetzt. Der fünfte dieser Landpfleger war Pontius Pilatus. Bei den Geschichtsschreibern kommt er schlecht weg. Er sei von Charakter unbeugsam und rücksichtslos hart gewesen. Es werden ihm Bestechlichkeit, Gewalttaten, Räubereien, Kränkungen, fortwährende Hinrichtungen ohne Urteilsspruch, endlose und unerträgliche Grausamkeiten vorgeworfen. Er ist ja auch tatsächlich abgesetzt worden und soll, nach einer christlichen Überlieferung, Selbstmord begangen haben. Aber an seiner geschichtlichen Persönlichkeit besteht nicht der geringste Zweifel. In den Evangelien kommt er ganz gut weg, und in der Koptischen Kirche wird er sogar verehrt.
Nun folgen die drei Landesfürsten der übrigen Teile Palästinas: an erster Stelle Herodes Antipas. Sein Vater war Herodes der Große, der zur Zeit der Geburt Jesu lebte. Dieser Herodes Antipas wurde 4 vor Christus – also nach dem Tode des Herodes des Großen – zum Tetrarchen von Galiläa und Peräa eingesetzt. Er heiratete eine Tochter des Königs Aretas IV., aber er verließ sie. Er verstieß die Königstochter und heiratete seine Schwägerin und Nichte Herodias. Herodias hatte eine Ehe mit ihm geschlossen, die nach jüdischem Recht nicht gültig war. Und deswegen geißelte Johannes der Täufer diese Verbindung. Und deswegen wurde er enthauptet. Herodes Antipas wurde 40 n. Christus abgesetzt und verbannt. Er war ein begabter, aber ein leichtfertiger und religiös uninteressierter Fürst. Dem Heiland wurde einmal die Nachricht hinterbracht: „Herodes (Herodes Antipas) will dich töten.“ Da gab er zur Antwort: „Sagt diesem Fuchs“ – sagt diesem Fuchs! – „ich muss heute und morgen noch wandern, und erst am dritten Tage werde ich vollendet.“ Sein Stiefbruder Philippus war ebenfalls ein Sohn Herodes des Großen und trat deswegen auch erst 4 vor Christus die Herrschaft an, in mehreren Landschaften im Norden von Palästina, bis 34. Philippus war ein milder und friedfertiger Fürst. Er baute eine neue Stadt, nämlich Caesarea, nach ihm benannt: Philippi. Sie erinnern sich: das ist das Caesarea Philippi, wo Petrus das Messiasbekenntnis ablegte. Das ist dieser Philippus. Er ging die Ehe ein mit Salome, der Tochter der Herodias, aber die Ehe blieb kinderlos. Dann wird noch ein letzter Herrscher erwähnt: Lysanias. Er war nicht verwandt mit Herodes und hatte eine Landschaft unter sich, die im Norden – eigentlich über Palästina hinaus – lag, bei Damaskus. Diese Landschaft hieß Abilene, nach der Stadt Abila. Auch er ist eine historische Persönlichkeit, wie wir aus aufgefundenen Inschriften wissen.
Nach den weltlichen Herrschern erwähnt Lukas zwei geistliche Persönlichkeiten: Annas und Kaiphas, beide waren Hohepriester. Annas von 6 bis 15 nach Christus. Er hatte 5 Söhne, und alle Söhne wurden Hohepriester und auch sein Schwiegersohn, Kaiphas. Als er abgesetzt war, behielt er eine einflussreiche Stellung in Jerusalem. Das zeigt sich schon daran, dass man Jesus, nach der Gefangennahme, zuerst zu Annas führte. Kaiphas war Hohepriester von 18 bis 36 nach Christus. Er wurde von dem Prokurator Valerius Gratus eingesetzt und abgesetzt vom Legaten Vitellius von Syrien. Er ist es, der den Tod Jesu verlangte. Er war der Präsident des Gerichtshofes, der Jesus verurteilte. Er war auch beteiligt am Predigtverbot für die Apostel.
Alle diese Angaben sind nachprüfbar, sind nachgeprüft worden und für richtig befunden worden. Mit den gemachten Angaben wird unmittelbar auf das Auftreten des Johannes des Täufers Bezug genommen, mittelbar auf die öffentliche Wirksamkeit Jesu. Johannes war ja der Herold, der Zeuge, der Vorläufer Jesu, und deswegen muss zuerst von seinem Auftreten gesprochen werden, bevor von der öffentlichen Wirksamkeit Jesu die Rede sein kann. Mit diesen Angaben wird bezeugt: das Christusgeschehen, das mit der Ankündigung des Messias durch Johannes den Täufer seinen Anfang nimmt, hat sich zu geschichtlicher Stunde zugetragen. Es verliert sich nicht in unbestimmter Vorzeit, es liegt nach Jahr und Tag fest. Von diesen Angaben kann man das ganze Leben Jesu berechnen. Es gibt eine Chronologie des Leben Jesu.
Ganz anders steht es um den Mythos. Mythos ist die Erzählung von Göttern, Heroen und anderen Gestalten und von Geschehnissen aus vorgeschichtlicher Zeit. Der Mythos dichtet, die Geschichte berichtet. Als Götter- und Geistergeschichte wächst der Mythos auf dem Boden des Polytheismus (der Vielgötterei) und des Polydämonismus (der Vieldämonenlehre). Im Mythos unterscheidet sich das Verhalten der Götter nur graduell von dem der Menschen. Die Götter werden wie Menschen dargestellt. Der Mythos ist eine bildhafte Darstellung von Geschehnissen, die außerhalb der Welt unserer Erfahrung liegen, aber auf das Weltgeschehen, auf die Natur und auf Menschen bezogen sind. Solche Mythen gibt es von der Weltentstehung, solche Mythen gibt es von dem angeblichen „goldenen Zeitalter“, solche Mythen haben vor allem in Babylonien ihre Stelle gefunden. Man kann sie nachlesen; es gibt gute Ausgaben dieser Mythologien. Eine mythische Betrachtungsweise ist nur möglich, solange die innerweltlichen, empirischen Kausalitäten nicht erkannt sind und der Mensch den elementaren Kräften der Natur ohnmächtig ausgeliefert ist. Schon die griechische Antike hat dem Mythos den LOGOS entgegengesetzt. Mythos als erfundene Erzählung – LOGOS als Ausdruck der Wahrheit. Der Mythos ist ein Erzeugnis des Volkes oder wie Strauß sagt „der absichtslos dichtenden Sage“. Er stellt den Versuch dar, sich Erfahrungen des kosmischen und des menschlichen Lebens zu vergegenwärtigen. Und die Offenbarung in Christus trifft auf Mythen, trifft auf Menschen, die von Mythen beeinflusst und umgeben waren. Die Offenbarung ist aber nicht vom Mythos abzuleiten, sondern steht im ausgesprochenen Gegensatz zu ihm. Das griechische Wort „Mythos“ wird im Deutschen mit „Fabel“ wiedergegeben. Und dreimal setzt sich die Heilige Schrift von den Fabeln – also von den Mythen – ab. Das erste Mal im ersten Brief des Paulus an Timotheus. Da lässt er gewissen Leuten einschärfen, sie sollten sich nicht mit „Fabeln“ abgeben. Im zweiten Brief an Timotheus sagt er voraus, dass manche sich von der Wahrheit abwenden und „Fabeln“ zuwenden werden. Das schönste Zeugnis hat der zweite Petrusbrief aufbewahrt. Da heißt es: „Wir folgten nicht ausgeklügelten Fabeln, als wir euch die Macht und Ankunft unseres Herrn Jesus Christus verkündeten, sondern wir waren Augenzeugen seiner erhabenen Größe.“
Der Mythos beruht auf menschliche Erfindung, die Geschichte ist erfahrene Wirklichkeit. Die geschichtliche Offenbarung erreicht ihre Spitze in der Menschwerdung des Gottessohnes Jesus Christus. Sie überwindet und überbietet das im Mythos geahnte Ineinander von Gottheit und Welt, von göttlichem und menschlichem Handeln. Was im Mythos – aus der Fantasie der Menschen – anschaulich und bildhaft dargestellt wird, das wird eingeholt von der geschichtlichen Erscheinung Jesu Christi. In ihn sind alle die Ahnungen und Erwartungen erfüllt, deren Ausdruck der Mythos ist. Die Offenbarung ist die Negation des Mythos. Der Mythos hat als Zeitprädikat: Es ist immer geschehen und doch niemals – denn es ist eben eine freie Erfindung. Als Modell hat der Mythos den Zyklus der immerwährenden Wiederkehr. Die Offenbarung dagegen verkündet die mit der Einmaligkeit, Unumkehrbarkeit und Unwiederholbarkeit ausgezeichnete Geschichte, Geschichtlichkeit und Zeit. Sie verkündet das Christusgeschehen als „ein für allemal“ geschehen – „ephapax“ ist das griechische Wort – ein für allemal geschehen. Die Offenbarung ist das Gericht über den Mythos. Sie ist die Absage an die undifferenzierte Verhältnisbestimmung des Göttlichen und des Menschlichen. Im Bekenntnis zum dreifaltigen Gott spricht die Offenbarung von der „absoluten Transzendenz“: Überweltlichkeit, Übererfahrbarkeit, Souveränität und Freiheit Gottes gegenüber der Welt. Die Offenbarung bestimmt das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz als ganz unmythisch, wenn sie davon spricht, dass Gott die Welt geschaffen hat. Der Mythos hat viele Götter, Göttergeschichten und Göttergestalten. Er erklärt kein einziges Konkretum für verbindlich oder gar für exklusiv. Er mischt und variiert die Mythen. Die Offenbarung dagegen beansprucht verbindliche Exklusivität. Sie lässt außer sich nichts gelten. Sie ist die konkrete Entschiedenheit Gottes: in Jesus von Nazareth, in jenem Lande, zu jener Zeit, wie es uns Lukas eben vorgeführt hat. Die Offenbarung gestattet nicht die Auswahl zwischen Göttern wie der Mythos. Nein, die Offenbarung verlangt den Glauben und die personale Antwort und existentielle Entscheidung für den einen und einzigen Gottessohn Jesus Christus. Der Mensch ist im Mythos den Schicksalsmächten unterworfen. Er hat über sich eine nicht ihm zur Verfügung stehende Natur. Der Mensch ist dagegen in der Offenbarung Person, in der Geschichte lebendes, sich entscheidendes und sich verantwortendes Wesen.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel vorführen, wie sich Mythos und Geschichte unterscheiden. Im griechischen Mythos wird gesprochen von dem Gott und Heros – also Helden – Herakles. Als Herakles geboren wurde, war die Göttin Hera eifersüchtig auf ihn, und sie schickte dem Herakles, dem neugeborenen Kind, Schlangen an die Wiege. Und das neugeborene Kind erwürgte die Schlangen. So der Mythos. Der Jesus der Geburtsgeschichte ist ein schutz- und hilfsbedürftiges Kind, für das seine Eltern handeln. Das ist die Geschichte. Das ist unmythisch. Bald, meine lieben Freunde, feiern wir die Geburt unseres Herrn und Heilandes. Die Menschwerdung des LOGOS, der zweiten Person in dem einen Gott, wird jetzt den Menschen offenbar. Ereignet hat sie sich ja eigentlich neun Monate vorher, aber jetzt wird sie aller Welt kundgetan, auf den Halden von Bethlehem. Dieses Geschehen ist absolut einmalig, ohne jede Parallele und jede Vorstellung übersteigend. In Bethlehem erfüllt sich das, was religiöse Menschen aller Zeiten geahnt, ersehnt und erfleht haben. Es geschah das zu geschichtlicher Stunde, an einem genau zu fixierenden Ort. Damit ist jeder Mythos überwunden. Der in die Geschichte eingreifende Gott hat den Mythos besiegt.
Amen.