26. Juni 2005
Der Verlust der übernatürlichen Gottebenbildlichkeit
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir haben erkannt, dass Gott den Menschen schrecklich herrlich ausgestattet hatte. Er hat ihm die Freiheit gegeben, den Verstand und die Unsterblichkeit, und das war seine natürliche Gottebenbildlichkeit. Kraft dieser Wirklichkeiten – Freiheit, Verstand, Unsterblichkeit – war er Gott ähnlich, und zwar seiner Natur nach. Aber Gott begnügte sich nicht damit. Er gab ihm zu der natürlichen eine übernatürliche Gottähnlichkeit. Er wollte, dass der Mensch in sein inneres Leben hineingezogen wird, dass er nicht nur nach seinem Körper und seinem Geist Gott ähnlich ist, sondern dass er auch das göttliche Leben in sich trüge, das göttliche Leben, das wir die heiligmachende Gnade nennen. So hat Gott den ersten Menschen auch verähnlicht in seiner inneren Befindlichkeit. Er hat die geschaffene heiligmachende Gnade in seine Seele eingegossen. Und mit der Gnade kam deren Begleitschaft, die göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, die Anlage, sittliche Tugenden zu erwerben. Es kamen die sieben Gaben des Heiligen Geistes, und so war der Mensch in einer wunderbaren Weise ausgestattet.
Auch seine natürlichen Gaben hatten eine besondere Fertigkeit und eine besondere Fähigkeit empfangen. Der Verstand des ersten Menschen war mit einer besonderen Gottesgabe des Wissens und der Klarheit ausgestattet. Ich halte es für ganz verfehlt, meine lieben Freunde, wenn ich immer von Paläontologen diese Stammbäume aufgestellt sehe, auch mit Bildern sogar, von Menschen, die sie nie gesehen haben. Aber sie wissen offenbar, wie sie ausgesehen haben: immer näher dem Affen, je weiter man zurückgeht, und immer näher dem Menschen, je weiter man zum homo sapiens sapiens kommt. Das sind Phantasien; das sind Illusionen. Ich habe nie diese Reihen, diese Entwicklungsreihen als solide Wissenschaften ansehen können. Nein, ich glaube, dass die Heilige Schrift recht hat, wenn sie sagt, dass der Mensch, der erste Mensch, eine Adelskrone gehabt hat, nämlich er besaß ein besonderes Wissen. Er konnte sofort reden, er wusste jedem Tier den Namen zu geben, und wenn in der Heiligen Schrift davon die Rede ist, dass man den Namen von jemandem kennt, dann heißt das, dass man sein Wesen kennt.
Nicht nur der Verstand besaß eine Adelskrone, auch der menschliche Wille. Im Menschen herrschte Harmonie und Einheit, nicht ein Durcheinander. Es sind nicht die seelischen und körperlichen Triebe aufgestanden gegen die Vernunft, nein, im Menschen herrschte Friede und Ordnung, denn er war frei von der Begierlichkeit. Und schließlich war auch die Natur im Frieden mit ihm. Die Elemente waren seine Helfer, die Tiere waren seine Freunde und dienten ihm; die Arbeit war seine Freude, er lebte im Paradies der Wonne. Auch seine Lebenskraft wurde immer erneuert. Der erste Mensch sollte ohne Tod in einer Art Verwandlung in die Seligkeit des Himmels eingehen. Der Leib war frei von Schwachheit und Krankheit und Ermüdung; er war der Seele ein williges Werkzeug. So war der erste Mensch nicht nur ein Knecht Gottes, sondern ein Kind Gottes. Er sollte hier auf Erden sein Lebenswerk vollbringen, sollte sich im Wachstum der Gnade noch größerer Gaben würdig machen, um einst Gott in der Seligkeit des Himmels zu besitzen.
So lebte der Mensch also in einer großen Seligkeit und ging einer noch größeren entgegen. Einem gefiel das nicht: Es war Satan. Er selbst hatte das Glück verscherzt. Er war aus dem Himmel gestürzt worden, und jetzt sah er, wie andere Wesen, die unter ihm standen, dieses Glück gewinnen sollten. Das ertrug sein Neid nicht. Und so sagt die Schrift mit Recht: „Durch den Neid Satans ist die Sünde in die Welt gekommen.“ Er gönnte den Menschen nicht ihr Glück und ihre Seligkeit. Er wollte sie losreißen von Gott, so wie er selbst war. Das ist ja immer so, meine lieben Freunde, wenn Sie einen besonders giftigen Feind Gottes erleben, dann ist er immer eifrig bemüht, andere zu seiner Position herüberzuziehen. Das habe ich immer erfahren, in der Wehrmacht und bei anderen Gelegenheiten: Diejenigen, die selbst am meisten versumpft sind, suchen die anderen in ihren Sumpf hineinzuziehen; denn dann meinen sie, eine gewisse Ruhe zu finden, wenn alle so sind, wie sie sind.
So ist es auch am Anfang gewesen, als Satan den Menschen versuchte. Und wo setzte er an? Bei dem Prüfungsgebot. Gott hatte den Menschen ein Gebot gegeben, ein Gebot, das sie beachten sollten und an dessen Beachtung sie sich bewähren sollten. „Von allen Bäumen des Gartens dürft ihr essen, nur vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen, denn sobald du davon isst, bist du dem Tod verfallen.“ Das Gebot war nicht schwer. Es waren genügend Bäume vorhanden, von denen der Mensch genießen durfte. Das ganze Paradies stand ihm zur Verfügung. Nur ein Baum war davon ausgenommen, und der stand in der Mitte, war also leicht erkennbar. Gott wollte mit diesem Gebot eines, nämlich der Mensch sollte sein Herrscherrecht anerkennen. Er sollte nicht vergessen, dass er Geschöpf ist und dass er gehorchen muss.
So ist es auch heute noch, meine lieben Freunde. Es ist eine unglaubliche Psychologie in diesem Bericht der Genesis. Der Mensch, der viel besitzt, will alles haben. Der Mensch schätzt wenig, was ihm immer zur Verfügung steht; er will das haben, was er noch nicht besitzt. Er will ausgerechnet das genießen, was ihm versagt ist. Nitimur in vetitum – Wir sind zum Bösen, zum Verbotenen geneigt. Und so kam die Versuchung über den Menschen. Jede Sünde geht heute noch einen ähnlichen Weg wie damals. Die Versuchung beginnt mit einer Lüge, denn der Teufel spricht zur Frau: „Hat Gott wirklich gesagt, ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?“ Eine glatte Lüge. Von allen dürfen sie essen, mit einer Ausnahme. Und doch sagt der Satan: „Hat Gott wirklich gesagt, ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?“ Eva gibt die richtige Antwort: „Wir dürfen von allen Bäumen essen, nur bezüglich des Baumes, der in der Mitte steht, hat Gott befohlen: „Davon dürft ihr nicht essen, ja diesen Baum nicht einmal anrühren, sonst müsst ihr sterben.“ Und jetzt kommt die weitere Lüge der Sünde, wie es noch heute ist, meine lieben Freunde: Die Sünde verspricht immer mehr, als sie halten kann. Jetzt kommt die zweite Lüge: „Keineswegs werdet ihr sterben. Vielmehr weiß Gott, dass euch die Augen aufgehen werden, sobald ihr davon esst, und dass ihr wie Gott werdet, indem ihr erkennt, was gut und böse ist.“
Auch heute noch, meine lieben Freunde, glaubt der Mensch in der Sünde sein Glück zu finden. In dieser Woche ging die Nachricht durch die Presse, eine Befragung habe ergeben, dass nur 3 Prozent aller Ehepaare unbefleckt in die Ehe gehen. 3 Prozent aller Ehepaare gehen nur unbefleckt in die Ehe. Das heißt, 97 Prozent haben sich vorher befleckt. Sie wollten nicht warten, sie fürchteten, dass ihnen etwas entgeht, wenn sie warten. Wir neigen zum Verbotenen. Und dann geschieht das Furchtbare: Eva lässt sich täuschen und glaubt der teuflischen Schlange mehr als dem wahrhaftigen Gott. Die Neugierde lockt sie. „Die Augen werden euch aufgehen.“ Wie ein Feuerfunken ist das Wort in ihre Seele gefallen: „Ihre werdet sein wie Gott!“ So übertritt sie das Gebot und isst die verbotene Frucht, und, von der Schlange verführt, verführt sie selbst ihren Mann. Sie gibt Adam, und er isst. Die erste Sünde auf Erden, die Sünde der Stammeltern, ist geschehen. Das erste Menschenpaar hat sich in der Prüfungsstunde frei gegen Gott entschieden. Gottes Wort und Wille galt ihm nichts, dem Wunsch des Teufels stimmte das Paar zu. Sie begingen eine schwere Sünde, eine Sünde des Ungehorsams, des Unglaubens und des Stolzes. Von Gott, von dem sie abhängig waren, haben sie sich abgewendet zum Satan.
Und dann kommt immer, wie es auch heute noch ist, die Ernüchterung. Dann kommen die Folgen der Sünde, und dann gehen ihnen die Augen auf, aber anders, als sie gemeint hatten. Aus der Gottesnähe sinkt das erste Menschenpaar in die Gottesferne ab. Das göttliche Leben der Gnade ist ihnen entzogen; sie sind nun entgöttlicht. Nicht mehr die Gnade herrscht in ihnen, sondern die Sünde. Verloren ist die Gotteskindschaft und damit das Anrecht, in den Himmel zu kommen. Die ganze übernatürliche Ausstattung ist verloren gegangen. Adam spürt das und fühlt sich des Umgangs mit Gott unwürdig. Darum versteckt er sich vor Gott. So ist es, meine lieben Freunde, auch heute noch: Auf die Sünde folgt die Flucht vor Gott. Der Sünder flieht vor Gott, denn er erträgt seine Gegenwart nicht mehr, die Gegenwart des Allheiligen, des Richters und des Rächers. Er flieht vor Gott. Und so geht auch alles andere verloren, die außerordentlichen Gaben. Der Verstand verliert die Fähigkeit des großen Wissens. Jetzt muss er mühsam forschen. Der Wille verliert die Herrschaft über die Triebe. Auf einmal erwacht die böse Lust im Menschen. Der Leib verliert die Leidensunfähigkeit und das Bewahrtsein vor dem Tode. Ja, auch die natürlichen Gaben des Menschen sind verwundet. Wir sprechen von einer Verwundung der Natur. Der Verstand ist verdunkelt und vielfach dem Irrtum preisgegeben. Der Wille ist geschwächt und wird der Triebe nicht mehr Herr. Die Begierlichkeit erwacht und trägt in das Menschenwesen den Kampf zwischen Fleisch und Geist. Leid und Tod zeichnen nun den Weg der Menschheit.
Und so ist dann auch die Erde feindselig gegen den Menschen. „Verflucht sei der Erdboden um deinetwillen. Dornen und Disteln wird er dir tragen. Im Schweiße deiner Angesichtes wirst du dein Brot essen.“ Die Mannesarbeit, der Mannesstolz, die Mannesfreude, die Mannesarbeit wird jetzt zur Last. Und die Frauenfreude, das Frauenglück, das Mutterglück, das wird der Frau zum Leide. Im Schmerz muss sie ihren Mutterdienst tun. Wie ist die Erde jetzt anders geworden, meine lieben Freunde! Sie ist nicht mehr die gottfrohe Heimat des Paradieses. Die Menschen sehen, wie die Tiere scheu geworden sind und wie der frohe Friede innen und außen gewichen ist. In der eigenen Brust entbrennt der Kampf, erhebt sich die Leidenschaft, wirkt sich der Aufstand gegen Gott aus. In der Natur sind die Tiere und die Elemente die Feinde des Menschen. Der Mensch, der von Gott nicht abhängig sein wollte, ist jetzt von ihnen abhängig. Die Schönheit des Leibes wird dem Menschen zur Versuchung, die Arbeit nimmt ihn gefangen und macht ihn zum Sklaven. Die äußeren Güter fesseln ihn an die Erde, so dass er nicht mehr zum Himmel aufschaut. Und das ist „lost paradise“, wie es der englische Dichter formuliert hat, das ist das verlorene Paradies.
Aber nicht nur für sich haben die ersten Menschen das Paradies verloren, sondern auch für ihre Nachkommen. Sie können ihren Nachkommen nur das vermachen, was sie haben. Und was haben sie jetzt? Eine gefallene Natur, das haben sie jetzt. Sie können nur eine gefallene Natur weitergeben. So erbt der Mensch bei seinem Eintritt in die Welt als Nachkomme Adams eine durch die Sünde beraubte und geschwächte Natur. Er erbt einen sündigen Zustand. Darin besteht die Erbsünde. Es gibt eine doppelte Art der Sünde, die Sünde als Tat und die Sünde als Zustand. Wenn ich vom Glauben abfalle, ist das eine sündige Tat. Aber wenn ich dann in dem Abfall verharre, ist das ein sündiger Zustand. Und so ist es auch mit der Erbsünde. Für Adam war die erste Sünde die Ursünde, und er blieb dann in diesem sündigen Zustand, und er hat diesen Zustand, diesen unrechten Zustand, seinen Nachkommen vermacht. Die Schuld liegt auf den ersten Eltern, aber was sie durch ihre Schuld versäumt haben, das fällt auf ihre Nachkommen. Eine Schuld liegt auf uns als Erbe: der verdunkelte Verstand, der geschwächte Wille, die Leidenschaftlichkeit, das Leiden und der Tod.
Als ich meine Prüfungsarbeit in München schrieb im Jahre 1950, da hatte ich das Thema Römer 5,12. Was ist Römer 5,12 zu lesen? „Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen und durch die Sünde der Tod und ist auf alle Menschen übergegangen, weil alle in dem einen gesündigt haben.“ Hier haben Sie die ganze Lehre von der Erbsünde in einem einzigen Satz von Paulus ausgedrückt: „Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen und durch die Sünde der Tod und ist auf alle Menschen übergegangen, weil alle in dem einen gesündigt haben.“ Die Erfahrung zeigt uns die Wirklichkeit der Erbsünde; das viele Elend der Welt lehrt uns, dass die Erde kein Paradies mehr ist. Weil der Verstand geschwächt ist, verstehen die Menschen einander nicht und streiten miteinander im eigenen Haus. Die Völker wollen die Rechte der anderen nicht einsehen und stehen gegeneinander in Kampf und Krieg. Die Gelehrten forschen und streben und gehen doch immer wieder Irrwege. Kommende stürzen um, was Vorhergehende aufgefunden haben. Weil der Wille geschwächt ist, tritt die Leidenschaft die Herrschaft an und triumphiert mit ihrer Gewalt über das Recht und über die Freiheit, Sklaverei im Menschen, so dass er oft dem Tiere gleicht. Erst das Dogma von der Erbsünde gibt uns den Blick frei auf die wirkliche Lage des Menschen. Und dann die Krankheiten und der Tod, die Naturkatastrophen und die aus menschlicher Bosheit stammenden Zusammenbrüche. Die Krankenhäuser, die Irrenanstalten und die Zuchthäuser, die Gräber der Friedhöfe verkünden es mit lauter Sprache: Das Paradies ist verloren, und die Sünde herrscht in der Welt.
Einer der Großen im Reiche des Geistes, der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal, hat einen der schönsten Kommentare zu dieser Wirklichkeit geschrieben. Da heißt es: „Ich für meine Person muss gestehen. Sobald die christliche Religion mir die Lehre vom Sündenfall erklärte, gingen mit die Augen auf, und ich sah überall die Merkmale dieser Wahrheit. Denn die ganze Welt predigt von einem verlorenen Gott und von einer gefallenen Natur innerhalb und außerhalb des Menschen.“ Wahrhaftig, meine lieben Freunde: Es geht ein allgemeines Weinen, soweit die stillen Sterne scheinen, durch alle Fasern der Natur. Adam, was hast du getan! Eva, was hast du angerichtet!
Amen.