26. Dezember 1993
Laß den Heiland ein
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Gottes Vorsehung waltet über der Schöpfung. Gottes Vorsehung regiert das einzelne Leben. Gottes Vorsehung waltete auch über den Geschicken unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus. Der Zeitpunkt seiner Geburt, der Ort seines Erscheinens, die Umstände seiner Ankunft sind deswegen keine Zufälligkeiten. Wir müssen sie im Lichte der Vorsehung Gottes betrachten, um aus ihnen Belehrung zu schöpfen.
Der Zeitpunkt der Geburt Jesu ist im Neuen Testament durch Daten aus der Weltgeschichte genau festgelegt. Wie es mit den damaligen Mitteln möglich war, werden Personen, die im hellen Licht der Geschichte stehen, genannt, um zu zeigen: In dieser Zeit ist der Erlöser gekommen. An der Spitze Augustus, den wir als den ersten Kaiser Roms bezeichnen. Nach der Schlacht bei Aktium im Jahre 31 v. Chr. war er Alleinherrscher geworden, und bis zum Jahre 14 n. Chr. hat er regiert, segensreich regiert. Cyrinus, der Statthalter von Syrien, ist uns ebenfalls bekannt. Die Hohenpriester Annas und Kaiphas sind reelle Gestalten der Geschichte.
Für die Geschichtlichkeit Jesu zeugen die Schriften seiner Anhänger und seiner Gegner. Der Mann, der am letzten Tage des irdischen Lebens Jesu an seiner Brust geruht hat, hat das vierte Evangelium verfaßt, und von ihm sagen seine Schüler: „Das ist der Jünger, der dies bezeugt und der dies geschrieben hat, und wir wissen, daß sein Zeugnis wahr ist.“ Und der Arzt Lukas, der Schüler und Begleiter des Paulus, schreibt im Eingang zu seinem ersten Buche, dem Evangelium: „Ich habe allen Ereignissen von den Anfängen an sorgfältig nachgeforscht, und es der Reihe nach niedergeschrieben, damit du der Zuverlässigkeit der Erzählungen, die dir kundgemacht wurden, sicher sein kannst.“ Von Jesus kündet der Talmud, das jüdische Buch der Rechtssammlung, von Jesus zeugen die heidnischen Schriftsteller Tacitus, Sueton und Plinius. Jesus erschien im hellen Licht der Geschichte. Das Christentum ist eine geschichtliche, die einzige geschichtliche Religon. Nicht im Dunkel der Mythen und nicht im Halbdunkel der Legende vollzieht sich dieses Leben, sondern im hellen Licht der Geschichte.
Es war aber nicht nur in geschichtlicher Stunde, sondern zu einer besonderen geschichtlichen Stunde, als Jesus erschien. Es war eine Zeitenwende oder besser, wie wir heute in der Epistel gehört haben: Es war die Fülle der Zeit. Die Zeit war gleichsam zu ihrer Vollendung gekommen. Das hatte ein seherischer Mann in grauer Vorzeit erkannt. Der Patriarch Jakob hatte sterbend seine zwölf Söhne um sich versammelt, ihnen die matten Hände aufs Haupt gelegt und zu Juda gesprochen: „Nicht weichen wird von Juda das Zepter, von seinen Füßen der Herrscherstab, bis der kommt, dem er gebührt und dem die Völker gehorchen.“ Aus dem Stamme Juda sollte der Herrscher kommen. Die Dynastie, die jetzt, als Jesus auf Erden erschien, regierte, war keine jüdische, ihre Angehörigen waren halbe und Dreiviertelheiden, die Hasmonäer. Das Zepter war also tatsächlich von Juda gewichen, als er ankam, und so hat sich diese Verheißung in Jesus erfüllt.
Ähnlich hatte im 2. Jahrhundert v. Chr. ein prophetischer Mann die Zerstörung des Reiches der Seleukiden vorausgesehen. Die Römer haben diesem Reich ein Ende bereitet. Der Boden Vorderasiens zitterte unter den Marschtritten der Legionäre, und das war die Rache Gottes für dieses gotteslästerliche Regime. Vom Reiche der Römer hatte derselbe Seher gesagt: „In der Zeit jener Könige wird der Gott des Himmels ein Reich erstehen lassen, das nicht zerstört wird bis in Ewigkeit. Seine Herrschaft wird nicht übergehen auf ein anderes Volk. Es wird alle jene Reiche zertrümmern und vernichten, selbst aber ewigen Bestand haben.“ Was hier von einem Reiche ausgesagt ist, ist nicht mehr irdisch, denn auf Erden vergeht alles. Das ist ein überiridisches Reich; das ist das Gottesreich, das zu begründen Jesus gekommen ist. Es ist tatsächlich so, daß in die dünnen Ärmchen des Krippenkindes jetzt das Zepter des Reiches, des ewigen Reiches Gottes gelegt wird, daß die Krone dieses Reiches neben seinem armen Bettlein bereitgestellt wird. Wahrhaftig, es erfüllt sich in dieser Zeit, was in grauer Vorzeit gesagt worden war.
Aber auch der Ort des Erscheinens Jesu spricht zu uns. „Du, Bethlehem Ephrata, bist die kleinste unter den Gauen Judas. Aber aus dir wird hervorgehen der Herrscher, der Israel regieren wird.“ So hatte 700 Jahre vor dem Erscheinen Jesu der Prophet Michäas verkündet. Jetzt ist diese Weissagung erfüllt. Um sie zu erfüllen, mußte nach Gottes Willen Cyrinus eine Aufschreibung veranstalten, mußte Josef zum Bräutigam Mariens bestellt werden, trug das Eselchen die hochschwangere Maria 148 Kilometer weit von Nazareth bis Bethlehem. Bethlehem mußte es sein, die Davidsstadt, der Ursprungsort, das Herkunftsgebiet Davids. Ein Davidide mußte es sein; denn, so hatten die Weissagungen vor vielen Jahrhunderten verkündet: „Wahrlich, es kommt die Zeit – Spruch des Herrn –, da einen gerechten Sproß ich dem David erwecke. König wird er sein und herrschen voll Weisheit, Recht und Gerechtigkeit wird er üben im Lande, Heil findet Juda in seinen Tagen und Israel wohnt im Glück. Der Name, mit dem man ihn nennt, wird sein 'Der Herr ist unsere Gerechtigkeit'!“
Und der Prophet Isaias sagt von ihm aus: „Ein Reis wird sprossen aus dem Wurzelstock Jesse.“ Das muß man sich so vorstellen: Wenn ein Baum abgehauen wird, kann man öfters beobachten, daß daneben an irgendwelchen Stellen wieder Triebe hervorsprossen. So ist dieses Bild hier gemeint. „Ein Reis wird sprossen aus dem Wurzelstock Jesse, ein Schößling bricht aus seiner Wurzel hervor.“ Was wird das für ein König sein? Anders als die Könige der Juden aus dem Stamme Davids. Es gab da gewiß machtvolle Herrscher, aber auch Schwächlinge. Es gab dort durchaus treue Landesherren, aber auch Wüstlinge und Verbrechernaturen. Von dem neuen König aber heißt es: „Auf ihm ruht der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. An der Furcht des Herrn hat er sein Wohlgefallen.“
Ja wahrhaftig, das ist der Heilskönig, das ist der Gottkönig, der seit Jahrhunderten durch die Propheten vorherverkündet wurde und der nun im Futtertrog der Tiere liegt.
Auch die Umstände der Geburt Jesu haben uns etwas zu sagen. Er wurde geboren des Nachts! Ja, wie hätte der, meine lieben Freunde, der gekommen ist, die Nacht zu erhellen, bei Tage geboren werden können? Er wurde des Nachts geboren, und diese Nacht ist ein Bild der Finsternis der Herzen, die damals die Menschen erfüllte. In Götzendienst und Gestirnanbetung sang die Menschheit damals die wirre Melodie des Rorate. Würmer und Säugetiere verehrte sie als Götter. Die Einehe war praktisch abgeschafft, die Homosexualität stand in Blüte, und der Sklave galt als eine Sache, eine bloße res, nicht als eine persona.
Wahrhaftig, es war Nacht, als der Erlöser erschien, Nacht, die zu erhellen er gekommen war.
Eine Mutter, die gebiert, hat Schmerzen, sie ist erschöpft, sie kann das Kind nicht lange in den Armen halten, und so sucht sie nach einer Stelle, wo sie es bergen kann. Und da findet Maria die Mulde, in die man das Futter für die Tiere schüttet, und legt ihr Kindlein hinein. In einem Futtertrog der Tiere liegt der, der die Spiralnebel lenkt! Was sagt uns diese Krippe? Durch seine Armut wollte der Herr die Raffgier besiegen, durch seine Demut den Übermut, durch sein Opfer die Leidensscheu, durch seine Güte und Liebe Brutalität und Egoismus.
Und dann kommt noch ein Sätzchen: Weil in der Herberge kein Platz war. Die Schrift klagt nicht an, beschwert sich nicht, sie sagt nur einfach feststellend: Es war in der Herberge kein Platz. Die Davidsstadt hat keinen Platz für ihren Sproß. Die Untertanen haben keinen Platz für ihren König. Die Menschheit hat keinen Platz für ihren Schöpfer und Erlöser. Sie hat für alles Platz! Sie hat Platz für korrupte Politiker, versagende Oberhirten, sie hat Platz für Entertainer und Tennisstars, sie hat Platz für Berufsboxer – aber sie hat keinen Platz für ihren Herrn und Heiland! „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinigen nahmen ihn nicht auf.“ Nein! Noch mehr. „Die Winzer sagten: Das ist der Erbe. Auf, laßt uns ihn töten und sein Erbe gehört uns! Da packten sie ihn, warfen ihn hinaus und brachten ihn um.“
Das ist also die Lehre, meine lieben Freunde, welche Zeit, Ort und Umstände der Geburt Jesu uns vermittelt. Diese Umstände und dieser Zeitpunkt und dieser Ort sind eine Mahnung an uns. Ich höre aus diesen vielen wichtigen Daten die Mahnung: Laßt das Kindlein ein! „Ach, könnte doch dein Herz zu einer Krippe werden, Gott würde noch einmal ein Kind auf dieser Erden,“ hat unser schlesischer Dichter Angelus Silesius gedichtet. Das Kind will eingelassen werden, indem die Menschen sich von seiner Güte und Liebe, von seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit anstecken lassen, indem sie sich seinem Willen unterwerfen, indem sie seine Gesinnungen, Haltungen und Tugenden übernehmen. Ein begnadeter Dichter hat einmal diese Sehnsucht des Heilandes, eingelassen zu werden, in die schönen Verse gefaßt:
„Bethlehem, hörst den Heiland du?
Laß den Heiland ein!
Will ein Bettlein warm zur Ruh,
Laß den Heiland ein!
Will bei dir geborgen sein,
zart und lieb ein Kindelein,
Bethlehem, laß das Christkind ein,
laß den Heiland ein!
Josef geht mit müdem Fuß,
Laß den Heiland ein!
Doch vergebens ist sein Gruß;
Laß den Heiland ein!
Und Maria weint und sinnt:
Wo soll betten ich das Kind,
Wenn ich keine Heimstatt find?
Laß den Heiland ein!
Menschenherz, o hör' das Flehn!
Laß den Heiland ein!
Laß den Herrn nicht draußen stehn,
Laß den Heiland ein!
Birg das liebe Jesulein
warm in deines Herzens Schrein!
Ewig wird dann Weihnacht sein.
Laß den Heiland ein!“
Amen.