Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Rechtfertigung aus Gnade (Teil 14)

25. Juni 2000

Die sittlichen Tugenden

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Sie erinnern sich, daß wir uns vor vielen Monaten vorgenommen hatten, über die Rechtfertigung nachzudenken. Rechtfertigung ist jener geheimnisvolle Vorgang, in dem aus dem Stande des Sünders der Stand der Gerechtigkeit wird. Rechtfertigung ist die Begabung mit der heiligmachenden Gnade und mit allem, was dazugehört. Dazu gehört, wie wir gesehen haben, die Eingießung der göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Niemand kann glauben, hoffen und lieben, wie Gott es will, wenn er nicht in der Gnade diese Tugenden geschenkt erhält.

Aber nicht genug damit: Die Gnade hat noch eine andere Begleitschaft, nämlich die sittlichen Tugenden. Auch die sittlichen Tugenden werden dem Menschen mit der heiligmachenden Gnade eingegossen. Da könnte jemand fragen: Ja, wie geht das zu? Muß man nicht die sittlichen Tugenden erwerben durch ständige Übung, durch Anstrengung, durch Mühe? Gewiß! Gewiß muß man die sittlichen Tugenden erwerben, aber neben und über den erworbenen sittlichen Tugenden gibt es eingegossene, geschenkte sittliche Tugenden, die eben eine Begleitschaft der heiligmachenden Gnade sind.

Wie unterscheiden sich dann die beiden Arten, die erworbenen und die eingegossenen Tugenden? Sie unterscheiden sich dadurch, daß durch die eingegossenen Tugenden das Tugendleben christusförmig wird. Der rein natürliche Mensch kann mit seinen natürlichen Kräften natürliche Tugenden erwerben, aber sie haben nichts von der Farbe an sich, die Christus den Tugenden verleiht. Sie werden nicht gelebt und ausgewirkt in der Gemeinschaft mit Christus. Erst die heiligmachende Gnade bewirkt, daß unsere Tugenden aus der Christusgemeinschaft ihre Kraft gewinnen, daß die Neigung, das Gute zu tun, das in den Tugenden enthalten ist, von Gott gedeckt oder gestärkt wird. Das ist der Sinn der eingegossenen sittlichen Tugenden.

Nun gibt es eine Vielfalt von Tugenden. Aber schon die Stoiker, also die heidnischen Philosophen, haben es verstanden, die Tugenden zusammenzufassen, zu gliedern und sind so zur Aufstellung von vier Haupt- oder Grundtugenden, auch Kardinaltugenden genannt, gekommen. Diese vier Grundtugenden sind Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Mäßigung. Diese vier Grundtugenden werden nun durch die Ankunft der heiligmachenden Gnade in uns christusförmig verwandelt.

Die Klugheit ist die erste und oberste Tugend, denn sie ist jene Tugend, die uns lehrt, das ewige Ziel zu erkennen und alles auf dieses Ziel hinzurichten. Die Klugheit lehrt uns, die geeigneten Mittel zu finden, die nötig sind, um das ewige Ziel zu erreichen. Klugheit ist also nicht Taktik, Klugheit ist nicht List, Klugheit ist nicht schlaues Sich-Durchschlängeln, sondern Klugheit ist die Hinrichtung auf das ewige Ziel und das Finden der geeigneten Mittel, um es zu erreichen. Insofern ist sie auriga virtutum, der Wagenlenker der Tugenden. Durch die Klugheit wissen wir durch die irdischen Güter so hindurchzugehen, daß wir die ewigen nicht verlieren. Die Klugheit wird im Alten wie im Neuen Testament empfohlen. Unser Herr sagt: „Seid klug wie die Schlangen!“ Er will, daß wir uns nicht der Torheit überlassen, sondern daß wir in Weisheit dem Gesetze Gottes nachfolgen. Im Buche Sirach ist die Klugheit einleuchtend beschrieben. Da heißt es: „Wer das Gesetz bewahrt, beherrscht seine Gedanken. Die Vollendung der Furcht des Herrn ist Weisheit. Wer nicht klug ist, nimmt keine Zucht an. Hört der Einsichtige ein weises Wort, so lobt er es und fügt noch eins hinzu. Auf den Lippen der Weisen findet sich Anmut, der Mund des Klugen ist begehrt in der Versammlung, und man überlegt sich seine Worte. Der Kluge lächelt kaum vernehmbar. Für den Klugen ist die Zucht wie ein Goldgeschmeide, wie ein Armband am rechten Arm. Der Tor stürmt ins Haus hinein, doch der Erfahrene scheut davor zurück. Der Tor schaut von der Tür ins Haus hinein, der Gebildete bleibt draußen stehen. Es zeugt von Ungezogenheit, an der Tür zu lauschen. Der Verständige ist taub für Schimpfliches.“ Das ist Weisheit des Alten Testamentes für den, der Klugheit erwerben will.

Die zweite Kardinaltugend ist die Tapferkeit. Sie lehrt uns, dem Furchtbaren standzuhalten. Der Tapfere ist nicht ohne Furcht. Er weiß, daß es Furchtbares auf Erden gibt, Furchtbares für den Leib und Furchtbares für die Seele. Er sieht dem Grauen ins Gesicht, aber er läßt sich von ihm nicht abhalten, das Rechte zu tun. Der Tapfere widersteht der Furcht und überwindet sie. Tapferkeit ist jene Haltung, in der wir geneigt sind, Spott, Verfolgung, Nachteile zu erleiden um des rechten Zieles willen. Alle Heiligen, meine lieben Freunde, sind tapfer gewesen. Es gibt keinen feigen Heiligen. Und die Tapferkeit muß sich mit der Klugheit vermählen, weil eben sich dem klugen Handeln oft Hindernisse entgegenstellen, die durch die Tapferkeit überwunden werden müssen. Im Neuen Testament ist oft von dem Kampf die Rede, der uns Christen aufgetragen ist, und zum Kampf gehört eben die Tapferkeit im Kämpfen. Im Epheserbrief mahnt der Apostel: „Meine Brüder, werdet stark im Herrn! Zieht an die Waffenrüstung Gottes, daß ihr standhalten könnt gegen die Nachstellungen des Teufels, denn wir haben nicht bloß zu kämpfen mit Fleisch und Blut, sondern mit Mächten und Gewalten, mit den finsteren Weltbeherrschern, mit den bösen Geistern in den Höhen. Leget darum an die volle Waffenrüstung Gottes, damit ihr am bösen Tage widerstehen und in allem unerschütterlich aushalten könnt.“ Dann schildert der Apostel die Waffen, die wir anlegen sollen: „Ziehet an den Panzer der Gerechtigkeit, beschuhet die Füße mit der Bereitschaft für die Frohbotschaft des Friedens. Ergreifet den Schild des Glaubens, mit dem ihr die feurigen Geschosse des Bösen auslöschen könnt. Setzt auf den Helm des Heiles, und das geistige Schwert nehmt in die Hand, das ist das Wort Gottes.“ Hier wird also geschildert, wie der Tapfere ausgerüstet sein muß, damit er bestehen kann im Leidenskampfe.

Vom Kaiser Konstantius Florus, dem Vater des Konstantin, wird erzählt, daß er, ein Heide, viele Christen in seiner Umgebung hatte. Er wollte sie eines Tages auf die Probe stellen und sagte: „Ihr habt die Wahl, entweder euren Glauben abzulegen und in meinem Dienste zu bleiben, oder bei eurem Glauben zu verharren, aus meinem Dienst entfernt zu werden und streng bestraft zu werden.“ Viele Christen gaben den Dienst auf und waren gewärtig der Strafe. Andere fielen um und glaubten so, ihre Stellung beim Kaiser gesichert zu haben. Aber dann trat etwas ein, was keiner erwartet hatte. Der Kaiser lobte nämlich die Christen, die ihrem Glauben treugeblieben waren, und sagte: „Wenn ihr dem Glauben treu bleibt, werdet ihr auch mir treu bleiben, und wer seinem Glauben nicht treu bleibt, der wird auch dem irdischen Herrn nicht die Treue wahren.“ Das war Tapferkeit, wie sie uns aus der frühen christlichen Zeit berichtet wird.

Die dritte Grundtugend ist die Gerechtigkeit. Sie ist jene Tugend, die uns geneigt macht, jedem das Geschuldete zu geben. Wir schulden dem Staat Gehorsam in allem, wo er recht gebietet. Diese Gerechtigkeit nennt man die Gesetzesgerechtigkeit; sie richtet sich eben auf die Gesetze. Wir schulden dem Nächsten den gerechten Ausgleich für das, was er uns gibt. Forderung und Leistung müssen in einem rechten Verhältnis stehen. Diese Gerechtigkeit nennt man die ausgleichende Gerechtigkeit. Aber auch der Staat hat eine Pflicht der Gerechtigkeit. Er muß nämlich seine Güter und seine Strafen gerecht austeilen, nach Würde und Verdienst. Diese Gerechtigkeit nennt man die austeilende Gerechtigkeit. Sie sehen, daß die Gerechtigkeit eine grundlegende Tugend ist, die das Leben der Menschen beherrschen muß, wenn immer Friede unter ihnen sein soll. Und es besteht gar kein Gegensatz zwischen Gerechtigkeit und Liebe. Die Liebe schafft die Atmosphäre, in der die Gerechtigkeit gedeihen kann. Die Liebe lehrt uns die Entschlußkraft, um gerecht zu sein in allen Lagen unseres Lebens. Liebe und Gerechtigkeit vermählen sich und dienen einander. Die Gerechtigkeit ist nicht leicht zu verwirklichen, weil uns manchmal der Maßstab abhanden kommt, nach dem wir gerecht sein müssen. Dieser Maßstab kann nur das Sein der Dinge für uns bedeuten. Wie die Dinge von Gott geordnet sind, wie sie von Gott kommen, so geben sie den Maßstab ab für das, was uns an Gerechtigkeit abverlangt wird. Wir müssen seinsgerecht sein, wir müssen maßgerecht sein, dann erfüllen wir die Forderungen der Gerechtigkeit.

Die vierte Grundtugend ist die Mäßigung. Die Mäßigung ist jene Tugend, die uns lehrt, die Dinge in dem Umfang und zu dem Zweck zu gebrauchen, nach dem sie nach Gottes Willen verwendet werden sollen. Die Dinge haben ein Maß, und dieses Maß ist für uns maßgebend. Die Mäßigung lehrt uns vor allem, das Triebleben zu beherrschen. Es sind vornehmlich zwei Triebe, die den Menschen immer wieder gefährden, nämlich die Gaumenlust und die Geschlechtslust. Es sind das Triebe, die wir mit dem Tier gemeinsam haben. Um so dringender und um so notwendiger ist es, daß diese Triebe durch die Tugend der Mäßigung beherrscht werden. „Ich liebe nur weniges auf Erden, und dieses Wenige nur wenig“, sagt ein so weiser Mann wie der heilige Franz von Sales. „Ich liebe nur weniges auf Erden, und dieses Wenige nur wenig.“ Das ist die rechte Haltung, das ist die Bewährung der Tugend der Mäßigung. Allzu leicht gleitet der Mensch aus ins Unmäßige. Neben den beiden genannten Gefahren, die durch die Mäßigung kontrolliert werden sollen, gibt es noch andere, geistige, etwa den Ehrgeiz, die Geltungssucht. Diese geistigen Triebe müssen ebenfalls durch die Mäßigung gezügelt werden. Die Zügel sind die Bescheidenheit, die Demut. Sie vermögen diese beiden genannten geistigen Triebe im Zaume zu halten.

Der Apostel Paulus schreibt einmal im Korintherbrief: „Ich züchtige meinen Leib und mache ihn mir untertan, um nicht, während ich anderen Herold war, selber dazustehen wie einer, der die Prüfung nicht bestand.“ Er züchtigt seinen Leib, d. h. er beherrscht seinen Leib, er hat einen Wächter über die Triebe seines Leibes, und das ist die Tugend der Mäßigung. Sie vermag es, als Kontrollinstanz für das Triebleben des Menschen zu wirken.

 Vier Haupttugenden sind es, die dem Menschen mit der heiligmachenden Gnade eingegossen werden, die Klugheit, die Tapferkeit, die Gerechtigkeit und die Mäßigung. Diese Tugenden können aber nur dann in uns ihre Kraft entfalten, wenn sie begleitet werden von dem Bemühen, die entsprechenden erworbenen Tugenden tatsächlich zu erwerben oder zu bewahren. Die Gnade von oben muß kommen, damit unsere Tugenden christusförmig werden, aber das Bemühen von unten darf nicht aufhören, damit wir fähig werden und würdig werden, einzugehen in die geschenkten Gaben unseres Gottes und Heilandes.

Amen.

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