Predigtreihe: Die Gnadenlehre (Teil 4)
12. Juni 1988
Die Notwendigkeit der Gnade zum Verharren im Guten
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Vor Ostern und nach Ostern hatten wir an vielen Sonntagen klarzumachen versucht, was es heißt, erlöst zu sein. Wir teilten die Erlösung ein in eine objektive und eine subjektive. Die objektive Erlösung ist das Erlösungswerk Jesu Christi, vollbracht in seinem Leiden und Sterben und Auferstehen. Aber diese objektive Erlösung muß zum Menschen kommen. Der Mensch muß sie sich aneignen. Sie muß zur subjektiven Erlösung werden. Und so hatten wir seit einigen Sonntagen begonnen, uns mit der subjektiven Erlösung zu beschäftigen. Wir sagten: Die subjektive Erlösung ist die Aneignung der Erlösungsfrucht Jesu Christi. Wir können die subjektive Erlösung mit dem Worte Gnade wiedergeben. Die Gnade kann man unter vielfältigen Gesichtspunkten betrachten. Wir hatten uns dafür entschieden, vor allem von der heiligmachenden und von der helfenden Gnade zu sprechen. Die helfende Gnade, auch Beistandsgnade oder aktuelle Gnade genannt, war das Thema unserer Betrachtungen an den letzten Sonntagen. Am vergangenen Sonntag sagten wir: Die Gnade, die helfende Gnade, die aktuelle Gnade ist notwendig, um Heilsnotwendiges, um Heilswirksames tun zu können. Der Anfang des Heiles, der Anfang des Glaubens setzt die Gnade notwendig voraus. Und auch der Gerechte kann nichts wahrhaft heilswirksam Gutes tun ohne die Gnade. Die Gnade ist undbedingt erforderlich, um zum Heil zu gelangen. Wir haben heute noch zwei Gegenstände zu betrachten, welche uns die Notwendigkeit der Gnade beweisen, nämlich
1. Die Gnade ist notwendig, um im Guten bis zum Ende auszuharren.
2. Nur durch ein besonderes Gnadenprivileg ist der Mensch imstande, zeit seines Lebens alle Sünden, auch alle läßlichen Sünden, zu meiden.
Der erste Satz lautet: Die helfende, die aktuelle Gnade ist notwendig, um in der Gnade, im Gnadenstand bis zum Ende auszuharren. Das muß unser aller Ziel sein. Vor einigen Jahren kam einmal ein Reisender aus Deutschland nach Neapel. Dort sprach er mit einem Italiener und fragte ihn, was sein größter Wunsch sei. Da gab dieser bescheidene Mann zur Antwort: „Sterben im Frieden mit Gott.“ Das ist nichts anderes als das Erhoffen der Gnade der Beharrlichkeit bis ans Ende.
Die Notwendigkeit einer besonderen Gnade, um im Guten auszuharren, ist von der Kirche in ihren Lehrurkunden oft ausgesprochen worden. Das II. Konzil von Orange, das so wichtig für die Gnadenlehre ist – aus dem Jahre 529 –, dieses II. Konzil von Orange sagt, daß auch den Gerechtfertigten der Beistand der Gnade notwendig ist, um in der Gnade zu beharren. Und das Konzil von Trient nennt die Gnade der Beharrlichkeit das große Geschenk, das magnum donum, das große Geschenk der Beharrlichkeit bis zum Ende. Es stellt denjenigen unter Exkommunikation, der sagt, der Mensch könne aus eigener Kraft bis zum Ende ausharren. Und ebenso stellt es den unter Exkommunikation, der sagt, der Mensch könne nicht mit dem Beistand der Gnade bis zum Ende ausharren.
Also das Konzil von Trient hat Notwendigkeit, aber auch Kraft der Gnade der Beharrlichkeit eindeutig ausgesprochen. Es befindet sich mit dieser Lehre in bester Gesellschaft, denn es gibt ja damit nur wieder, was in der Heiligen Schrift steht. Im Philipperbrief schreibt der Apostel Paulus: „Der in euch das gute Werk begonnen hat, wird es auch vollenden, vollenden kraft der Gnade der Beharrlichkeit.“ Und immer wieder mahnt die Schrift zum Gebet um diese Gnade. „Man muß allezeit beten,“ heißt es im 18. Kapitel bei Lukas, „und darf nicht aufhören zu beten.“ Der Herr mahnt: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet!“ Die große Versuchung zur Sünde, die große Gefahr des Abfalls, die den Menschen ständig umlauert, sie kann nur bewältigt werden mit der Kraft der Gnade.
Die Gnade kann also erbetet werden, und sie wird von Gott unweigerlich dem gegeben, der beharrlich um sie betet. Kurz vor seinem Tode hat der heilige Augustinus noch ein Büchlein geschrieben: „Vom Gut der Beharrlichkeit“. „Wenn die Gnade der Beharrlichkeit nicht geschenkt wird, warum wird sie dann erbeten?“ schreibt er da und fährt fort: „Warum wird sie erbeten, wenn der Mensch sie selbst sich geben kann, wenn der Mensch selbst beharrlich bis zum Ende ausharren kann?“ Er wendet sich da gegen die Pelagianer, die ja die Hauptirrlehrer zu seiner Zeit waren. Nein, nein, sagt er, die Beharrlichkeit muß durch beharrliches Gebet erfleht werden. Er weiß, daß die Feinde unseres Heiles ständig auf der Lauer sind und daß sie uns zu Fall bringen wollen bis zum letzten Augenblick unseres Lebens, ja noch auf dem Sterbebett. Und darum müssen wir um das große Gut der Beharrlichkeit beten, daß wir die Gnaden erlangen, die Summe aktueller Gnaden, innerer und äußerer Gnaden, die notwendig sind, um in der heiligmachenden Gnade zu verharren.
Der zweite Satz lautet: Niemand kann zeit seines Lebens alle Sünden, auch alle läßlichen Sünden meiden, ohne durch ein besonderes Gnadenprivileg Gottes ausgestattet und geschützt zu sein. Die Menschen sind schwach, das Fleisch ist schwach, und deswegen ist es eine traurige Erfahrung, daß immer wieder Fehler, Nachlässigkeiten, Sünden über den Menschen kommen. Das Konzil von Trient hat diesen Satz, den ich eben zitierte, zum Dogma erhoben. Das ist ein Glaubenssatz der Kirche. Es ist dem Menschen unmöglich, das ganze Leben auch nur alle läßlichen Sünden zu meiden ohne ein besonderes Gnadenprivileg Gottes. Ein einziger Mensch hat dieses Gnadenprivileg, wie wir mit Gewißheit aus der Heiligen Schrift und der Lehre der Kirche wissen, erhalten, nämlich die Muttergottes. Sie hat keine Sünde, keine schwere Sünde, aber auch keine läßliche Sünde begangen. Auf sie hat Gott seine Gnade wahrhaft gehäuft. Von ihr – aber nur von ihr – können wir sagen: „Tota pulchra es, Maria“ – Du bist ganz schön! Sie ist ganz schön, weil sie niemals entstellt wurde durch die Sünde.
Die Heilige Schrift bezeugt das auch. „In vielem fallen wir alle,“ sagt der Jakobusbrief, „in vielem fehlen wir alle.“ Und immer wieder müssen wir beten: Herr, vergib uns unsere Schuld! Das Konzil von Karthago aus dem Jahre 418 hat eine falsche Auslegung dieser Vaterunserbitte abgewiesen. Da traten nämlich Männer auf, die sagten: Ja, die Heiligen, die beten das nur aus Demut, nicht aus Wahrheit. Sie beten das für andere, nicht für sich selbst. Nein, nein, sagt das Konzil von Karthago von 418, auch die Heiligen beten das für sich selbst.
Auf diesem Konzil war ja ein Mann anwesend, der die Gnadenlehre entscheidend entwickelt hatte, nämlich der heilige Augustinus. Und er hat gerade auf diesen Punkt den größten Wert gelegt. Er sagt: „Wenn man alle Heiligen versammeln würde und sie fragen würde, ob sie Sünden haben, dann würden sie einmütig antworten: Wenn wir sagen, daß wir ohne Sünden sind, dann betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“
Also auch die Heiligen kennen die Sünde. Heute gibt es Menschen, die glauben sündlos zu sein. Am vergangenen Sonntag begegnete mir hier in Budenheim ein Herr, der mit vielen Menschen zusammenkommt, und der sagte mir: „Wenn Sie mit den Leuten sprechen, da sagen sie zwei Dinge, erstens, daß sie an Gott glauben, und zweitens, daß sie gute Menschen sind.“ Sind sie sündlos?
Nicht so die katholische Lehre. Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, dann betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Auch hier erklärt die Schwäche der Menschen, daß der Mensch immer wieder fällt. Es ist aber auch vielleicht in der Vorsehung Gottes gelegen, solche „Fälle“ zuzulassen, damit der Mensch nicht übermütig wird, damit er in der Demut verharrt.
Es trifft sich gut, meine lieben Freunde, daß wir über die Notwendigkeit der helfenden Gnade am Sonntag in der Oktav des Herz-Jesu-Festes sprechen, denn am Herz-Jesu-Fest und in der ganzen Oktav beten wir Priester im Brevier in jeder Prim – also in der ersten Stunde des Tages: „Qui corde fundis gratiam“ – Der du aus deinem Herzen die Gnade ausschüttest. Ja, das ist es. Das ist das Herz, reich und angefüllt von Gnaden, das Herz, von dem der Pfarrer von Ars sagt: „Ich habe schon so viel daraus geschöpft, daß es leer sein müßte, wenn es nicht unerschöpflich wäre.“ Ja wahrhaftig, das ist dieses Herz, das wir anrufen müssen: „Gib mir deine Gnade!“ Freilich müssen wir auch darum bitten, uns würdig zu machen, die Gnade zu empfangen. Wir müssen immer zwei Dinge erbitten, nämlich um die Gnade und um die Würdigkeit, die Gnade aufzunehmen, daß die Gnaden nicht verschwendet werden, daß sie nicht nutzlos sind, daß sie nicht vergeblich uns gegeben werden, und deswegen beten wir: „Laß mich würdig werden deiner Verheißungen, o Herr, laß mich würdig werden deiner Gnaden! Laß mich mit deiner Gnade wirken und arbeiten, damit ich mit Paulus sagen kann: Ich habe mehr gearbeitet als sie alle, aber nicht ich, sondern die Gnade Gottes in mir.“
Amen.