28. Dezember 2014
Gottes Güte und Gottes Zulassung
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Viele Menschen klagen über die schuldlos Geopferten. Und diese Klage wandelt sich im Munde vieler zu einer Anklage gegen Gott. Es wäre vielmehr angebracht, wenn die Menschen die Menschen anklagen würden, wenn sie sich selber anklagen würden, denn sie sind es doch, welche die Unschuldigen aufspüren, quälen, verfolgen, misshandeln, erschießen, strangulieren und vergasen. Der Mensch ist der Mörder, nicht Gott. Aber nein, die Menschen machen Gott verantwortlich: Er lässt das Grausame zu, er ermöglicht es, er protegiert es. Hätte Gott die Welt anders geschaffen, hätte er den Menschen anders gebaut, dann wäre es vergnügter und vernünftiger auf dieser Welt zu leben. Aber so? In der Literatur wird dieses Thema oft und oft behandelt. Ich erwähne vor allem Dostojewski in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“. Da stellt er den Iwan Karamasow vor, den tiefgedachtesten Revolutionär der Weltgeschichte. Und dieser Iwan öffnet das Konto Gottes Punkt für Punkt: die Quälereien unwissender Tiere, die Misshandlung willenlos Unterdrückter, die Bestialitäten der Türken und der Tataren, die Schlächtereien der Soldateska aller Farben und Formen, die Leiden der unschuldigen Kinder, ja, vor allem ihre Leiden, denn Kinder sind sicher unschuldig. Iwans Fazit ist furchtbar. „Ich will keine Harmonie“, sagt er, „ist doch diese Harmonie zu teuer erkauft. Darum beeile ich mich, mein Eintrittsbillet zurückzugeben. Nicht Gott ist es, den ich ablehne, ich gebe ihm nur die Eintrittskarte in seine Welt ergebenst zurück.“ Wir kennen die Melodie; sie wird von vielen anderen nachgesungen: von Léon Bloy in seinem „Blut der Armen“, von Ernst Wiechert in seinen „Jeromin-Kindern“, von Reinhold Schneider in „Winter in Wien“. Tatsächlich: Die Leiden der schuldlos geopferten Kinder schreien zum Himmel. Die gläubigen Menschen haben sich bemüht, die gegen Gott gerichteten Vorwürfe zu entkräften. Sie haben Theodizeen geschaffen, d.h. Versuche einer Rechtfertigung Gottes angesichts des von ihm trotz seiner Allmacht und Güte zugelassenen physischen Übels, moralischen Bösen und des Leidens in der Welt. Viele halten eine solche Rechtfertigung für ausgeschlossen. Furchtbar erheben sie Anklagen gegen Gott.
Aber hat uns nicht vielleicht die Weihnacht etwas über die Theodizee zu sagen? Vor allem das Gedächtnis der Unschuldigen Kinder von Bethlehem? Die Magier kommen aus dem Osten, vom Stern geführt, nach Bethlehem. Aber sie kommen nicht zur Krippe. Seit der Geburt Jesu ist geraume Zeit vergangen – mindestens ein halbes Jahr – und die heilige Familie ist umgezogen vom Ort der Geburt in ein Haus. Ja, es heißt ausdrücklich: „Die Magier traten in das Haus“, und sie finden das Kind und seine Mutter. Sie huldigen ihm, wie es einem König geziemt; sie ehren ihn mit kostbaren Geschenken. Aber noch ein anderer ist an diesem Kind interessiert. Es ist der Herrscher Judäas: König Herodes der Große. Den Beinamen „der Große“ trägt er, weil er tatsächlich ein bedeutender Herrscher war, der viel geleistet hat. Aber er war auch ein grausamer Herrscher. Durch die Magier erfährt Herodes, dass ein König, ein neuer König der Juden geboren sei. Da erschrickt er, und wenn er erschrickt, dann erschrickt ganz Jerusalem mit ihm, denn der Mann ist zu allem fähig – das weiß man in Jerusalem. Die Magier sollen ihm Kunde von dem neugeborenen König bringen. Aber sie verweigern sich ihm. Sie nehmen den Rückweg nicht mehr über Jerusalem, sondern sie kehren auf einem anderen Weg in ihre Heimat zurück. Als Herodes gewahr wird, dass die Magier ihm die gewünschte Kunde nicht bringen, da wird er zornig. Und in seinem Zorn schickt er seine Schergen aus und lässt in Jerusalem und Umgebung alle Knaben töten bis zu 2 Jahren. Warum diese Zeitangabe? Weil sie den Erzählungen der Magier entspricht: seitdem sie den Stern gesehen haben, der die Geburt des Kindes anzeigte – das liegt nämlich schon längere Zeit zurück. Und deswegen: Nicht nur die neugeborenen Knaben, sondern bis zu 2 Jahren ließ er die Knaben töten. Man rechnet mit etwa 20 bis 25 Kindern, die hier umgebracht wurden. Der Tetrarch Herodes will seinen Nebenbuhler, den er fürchtet, beseitigen. Er hat Angst, dass hier ein Konkurrent erstehen könnte, und der muss beseitigt werden. Manche haben Einwände gegen diese Erzählungen, weil Flavius Josephus, der jüdische Geschichtsschreiber, nichts davon berichtet. Aber Herodes hat viel schlimmere Verbrechen begangen als dieses, und deswegen hat auch Flavius Josephus nicht alle Verbrechen aufgezeichnet. Der eine aber, den er treffen wollte, entgeht ihm. Josef, der Nährvater Jesu, flieht noch in der Nacht nach Ägypten. Die anderen Knaben fallen unter den Schwertern der Schergen. Aber dieser eine wird gerettet.
Die Erzählung des Matthäus stellt den bethlehemitischen Kindermord als Erfüllung einer Weissagung dar. Die Weissagung kommt von Gott. Gott hat also gewusst, was sich nach der Geburt seines Sohnes in Bethlehem und Umgebung abspielen würde. Er hat es gewusst und nicht verhindert. Er hat es zugelassen. „Horch, in Rama hört man klagen und bitterlich weien: Rachel beweint ihre Kinder, denn sie sind nicht mehr.“ Wer ist Rachel? Rachel ist eine der Frauen des Patriarchen Jakob. Sie war zunächst kinderlos, während ihre Nebenfrau Lea ein Kind nach dem anderen gebar. Aber Gott hat dann das Gebet Jakobs erhört und auch sie gesegnet. Sie brachte zunächst Josef – den ägyptischen Josef – zur Welt und danach Benjamin. Aber die Geburt Benjamins war schon ihr eigener Tod; sie ist nach der Geburt gestorben. Deswegen gedenkt Jeremias der Schmerzen Rachels. Sie ist die Ahnfrau des Bundesvolkes, und so wiederholt Matthäus die Klage: „Rachel beweint ihre Kinder, denn sie sind nicht mehr.“ Diese Klage Rachels erzählt die Klage aller Mütter innerhalb Israels und außerhalb. Diese Urmutter wächst heran zu einem dunklen Urbild, in dem alle leidenden Mütter vorgebildet sind. Alles Leid der Welt scheint gehäuft auf diesem einsamen Scheitel. „Rachel beweint ihre Kinder und lässt sich nicht trösten; denn sie sind nicht mehr.“
Das Geschehnis von Bethlehem ist ein Bestandteil der Heilsgeschichte. Was hier geschehen ist, das hat seine Bedeutung weit über den äußeren Vorfall hinaus. Es ist Schlüssel und Tor zur Erkenntnis der Menschen und der Welt. Zunächst einmal kann man fragen: Warum wurde das göttliche Kind verschont? Es wurde nur aufbewahrt für einen anderen, viel schrecklicheren Tod. Das göttliche Kind wird nicht um seiner persönlichen Befriedung willen gerettet, sondern um des größeren Opfers willen, das ihm verordnet war, um der heilbringenden Passion willen, die ihm bestimmt war. Pilatus ließ eine Aufschrift schreiben und auf das Kreuz setzen, und zwar war da geschrieben: „Jesus von Nazareth, König der Juden.“ Der gleiche König, der in Bethlehem geboren wurde, schreitet durch die Passion in die Herrlichkeit Gottes. Der Erlöser der Welt sollte nicht als schuldloses Kind fallen. Nein, er sollte im besten Mannesalter bewusst sein Blut vergießen für das Leben der Welt.
Die zwei Dutzend Kinder, die Herodes ermorden ließ, sind die Chorführer einer Prozession, die bis in unsere Tage läuft. Die Kinder von Bethlehem sind gleichnishafte Gestalten. Sie sind gewiss Kinder von Fleisch und Blut, aber zugleich Sinnbilder und Vorläufer für eine ganze Armee geopferter Kinder. Sie sind stellvertretend für die unvergesslichen Kinder, die man geschlachtet hat in allen Schandtaten dieser Erde. Und da sie um des einen und einzigen willen starben, stehen sie in Kommunikation, in Verbindung mit seinem Geheimnis. Sie sind schuldlos geopferte Zeugen, aber das Gewicht ihrer Klage ist buchstäblich unmessbar. Und doch ist der grausame Tod nicht das letzte Wort über dem Schicksal der Unschuldigen Kinder. Wir müssen, meine lieben Freunde, wie es die Liturgie der Kirche tut, beides zusammensehen, das Evangelium nach Matthäus und die Lesung aus der Apokalypse: „Und ich schaute, und siehe, das Lamm stand auf dem Berge und mit ihm Einhundertvierundvierzigtausend, die seinen Namen und den Namen des Vaters auf den Stirnen tragen. Und ich hörte eine Stimme, und sie sangen ein neues Lied, das niemand singen konnte außer ihnen; sie sind freigekauft von der Erde.“ Die Schrecken und die Leiden dieser Zeit werden nur dem begreiflich, der an das ewige Leben glaubt. Wer allein dieses irdische Leben sieht, wer nicht das ewige Leben bedenkt, der kann leicht zur Anklage gegen Gott kommen, der diese Leiden zulässt. Aber das Licht der Ewigkeit lässt uns alles anders sehen. „Die Leiden dieser Zeit“, schreibt Paulus an die Römer, „die Leiden dieser Zeit sind nicht zu vergleichen mit der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.“ In der Apokalypse wird diese Bemerkung weiter ausgeführt: „Denn das Lamm wird sie weiden und führen zu den Quellen lebendigen Wassers. Und Gott wird abwischen jede Träne von ihren Augen.“ Die schuldlos Geopferten, die schuldlos Sterbenden, die unschuldig Zeugenden sind bei Gott. Sie sind Gott auf unergründliche Weise anheimgefallen, eingefügt in das Geheimnis des thronenden Lammes. Sie singen das neue Lied; sie sind es, die sich nicht befleckt haben, jungfräulich sind sie. Sie folgen dem Lamme, wohin es geht. Als Erstlinge sind sie erkauft für Gott und das Lamm. In ihrem Munde war keine Lüge, makellos stehen sie vor Gott. Das sind alles Aussagen, die auf die Unschuldigen Kinder zutreffen. Die Psalmen haben manche Andeutung, die wir auf die Unschuldigen Kinder anwenden und von ihnen verstehen können. An einer Stelle heißt es: „Unsere Seele entkam wie ein Vöglein der Schlinge des Jägers. Das Netz ist zerrissen, und wir sind frei.“ Ich meine, meine lieben Freunde, das ist eine Theodizee. Das ist eine Rechtfertigung Gottes. Wir sind nicht verlegen angesichts der Leiden dieser Erde. Wir haben Argumente, um Gott zu rechtfertigen. Er hat dem Mensch das kostbare, das überaus kostbare Geschenk der Freiheit vermacht. Aber er hat auch dafür gesorgt, dass es einen Ausgleich gibt. Diese Erde ist ein Anfang; das Jenseits ist das beseligende Ende.
Ich möchte noch fragen, meine lieben Freunde: Hat der Tod der Unschuldigen Kinder, hat die Zulassung ihres grausamen Todes durch Gott, hat die Erfüllung der göttlichen Verheißung durch ihr Sterben uns heutigen Christen etwas zu sagen? Erheben sich nicht auch heute Stimmen: Wie kann Gott das zulassen? Wie kann er das anordnen? Wie kann er das verlangen? Gott mutete den Müttern von Bethlehem zu, die Ermordung ihrer Kinder anzusehen. Kann man einer Mutter mehr zumuten? Eines ist gewiss: Gott ist ein anspruchsvoller Herr. Gott mutet den Menschen etwas zu; er mutet ihnen viel zu: den Verlust der Heimat, die Demenz, den Krebs. Die Mehrheit der deutschen Bischöfe scheint das nicht mehr zu verstehen. Sie halten das Zusammenleben ungültig Verheirateter ohne Geschlechtsgemeinschaft für sittlich fragwürdig. Ich wiederhole noch einmal diese unerhörte Äußerung der deutschen Bischöfe. Sie halten das Zusammenleben ungültig Verheirateter ohne Geschlechtsgemeinschaft für sittlich fragwürdig. Ja, kann denn ein Gebot Gottes sittlich fragwürdig sein? Die Bischöfe erklären weiter, der Verzicht auf Sexualität überfordere die Menschen – der Verzicht auf Sexualität überfordere die Menschen – also Gottes Gebot ist nach ihnen unerfüllbar. Wissen die Bischöfe, wessen Geschäfte sie hier besorgen? In wessen Dienst stehen sie: im Dienste Gottes oder im Dienste einer außer Rand und Band geratenen Menschheit? Wir alle wissen, dass Gottes Gebote schwer, unermesslich schwer sein können – daran ist nichts zu deuteln –, aber das ist ja gerade das Zeichen ihrer Herkunft, ihrer Herkunft von Gott. Wie Gebote aussehen, die die Menschen machen, das kann man im Protestantismus sehen. Aber seit wann hören die Gebote Gottes auf, zu verpflichten, wenn sie schwer, auch unerhört schwer werden? Seit wann hören sie auf, zu verpflichten? Den Bischöfen, die dieses Papier verfasst haben, mangelt es offensichtlich nicht nur an Kenntnis der katholischen Sittenlehre; sie haben auch eine falsche Vorstellung von Gott. Sie formen sein Bild nach den Vorstellungen der ausgelassenen Spaßgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Das ist eine Versuchung. Wir kennen diese Versuchung. Als Petrus dem Herrn den Gedanken ausreden wollte, er müsse eines gewaltsamen Todes sterben, da fuhr ihn Jesus an: „Fort, Satan!“ Was sagt der Herr zu den deutschen Bischöfen, die den Menschen Beherrschung und Enthaltsamkeit ersparen wollen?
Amen.