4. Juni 1989
Jesus, der Menschensohn
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Im Februar 1943 verurteilte der Volksgerichtshof unter Roland Freisler in München die beiden Geschwister Scholl zum Tode. Hans und Sophie Scholl mußten innerhalb weniger Stunden den Weg zum Schafott antreten. Die Mutter war im Gerichtssaal anwesend. Das letzte Wort, das sie ihren Kinder zurief, war „Jesus“. Sie wollte ihnen zu verstehen geben, daß sie sich im Tode ebenso wie im Leben auf Jesus verlassen sollen und verlassen können. Die Mutter Scholl hat recht: Es hängt alles daran, daß unsere Zuversicht auf Jesus geht, und daß diese Zuversicht begründet ist. Weil alles an Jesus, an seiner Gestalt, an seinem Wert, an seiner Wirklichkeit hängt, deswegen geben wir uns seit geraumer Zeit Mühe, meine lieben Christen, zu verstehen, wer Jesus ist.
Da könnte jemand sagen: Das wissen wir seit langem. O ja, aber seit kurzem wird die Gestalt Jesu von sogenannten Theologen verzerrt, verunstaltet, ja seiner Königswürde beraubt. Deswegen ist es notwendig, darüber zu reden, wer Jesus ist.
Wir haben am vergangenen Sonntag gesehen: Jesus ist der Gesalbte, der Messias. Das griechische Wort dafür heißt „Christos“, und daraus stammt die lateinische Form „Christus“. Jesus ist der Christus. Jesus ist der Gesalbte. Er ist der Heilbringer, der von den Propheten verkündigt und angekündigt wurde. Er ist der Messias, auf den die Jahrhunderte gewartet haben. Aber er hat sich selbst nicht als den Messias bezeichnet. Er hat den Titel „Messias“ vermieden. Warum denn? Er hat ihn vermieden, um nicht zu Mißdeutungen Anlaß zu geben. Denn die Messiasvorstellung hatte sich im zeitgenössischen Judentum vom religiösen auf das national-irdische Gebiet verschoben, und er wollte kein national-irdischer Messias sein. Er wollte ein religiöser Messias sein, der sein Volk nicht von den Römern, sondern von den Sünden befreien wollte. Deswegen vermied er das Wort Messias.
Ja, aber wie hat er sich denn sonst bezeichnet? Da kommen wir heute zu einer Selbstbezeichnung Jesu, die neunzig Mal in den Evangelien vorkommt, nämlich der Menschensohn. Jesus hat sich als den Menschensohn bezeichnet. Griechisch heißt das „ho hyios tou anthropou“ – der Sohn des Menschen. Aber das ist natürlich nicht die Sprache, in der Jesus geredet hat. Er hat aramäisch gesprochen, und aramäisch bedeutet Menschensohn „Bar naschah“ – Sohn des Menschen, „Bar naschah“. Er hat also von sich als dem Bar naschah, dem Menschensohn, gesprochen.
Sämtliche Aussagen über den Menschensohn im Munde Jesu lassen sich auf zwei große Gruppen aufteilen. Die eine Gruppe umfaßt Hoheitsaussagen, die andere umfaßt Niedrigkeitsaussagen. In der einen Klasse von Selbstbezeichnungen spricht Jesus von dem Menschensohn als dem, der mit den Wolken des Himmels kommt, d.h. in der Nähe Gottes, Wolken sind ja Symbol Gottes, der im Auftrag Gottes erscheint, um das Gericht über die Menschheit zu vollziehen. Das sind Hoheitsaussagen. In einer anderen Klasse von Selbstbezeichnungen spricht er von dem Leiden, das dieser Menschensohn auf sich nehmen muß, von den Qualen, die er erdulden muß, von seinem Tod, aber auch von seiner Auferstehung.
Einige dieser Stellen, meine lieben Freunde, möchte ich Ihnen vorführen. Zunächst einige der Hoheitsaussagen. An einer Stelle spricht Jesus davon, daß nach dieser Drangsal die Sonne verfinstert werden wird, „der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben, die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels erschüttert werden. Dann werden sie den Menschensohn – den Menschensohn! – in den Wolken kommen sehen mit großer Macht und Herrlichkeit. Dann wird er seine Engel aussenden und seine Auserwählten von den vier Winden zusammenbringen von einem Ende des Himmels bis zum anderen.“ Das ist also eine solche Hoheitsaussage, wo der Menschensohn als der Herr der Engel, der Legionen von Engeln, geschildert wird, der kommt, um die Auserwählten zu retten und zu bewahren.
Eine besonders feierliche Aussage machte der Herr vor dem Hohenpriester. Als Gefangener, als Gebundener, als Geschundener stand er vor dem Hohenpriester, und der fragte ihn: „Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?“ Jesus antwortete: „Ich bin es. Ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Kraft Gottes sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen.“ Er weist dem Menschensohn, der er natürlich selber ist, eine Stelle an der Seite Gottes an, und er bezeichnet sich als den, der mit den Wolken des Himmels kommt, um die Menschheit, um alle Menschen und Völker zu richten. Das sind einige Beispiele für Hoheitsaussagen, wo der Menschensohn also als der hoheitliche, von Gott eingesetzte Richter geschildert wird.
Daneben begegnen Niedrigkeitsaussagen. Einmal trifft der Herr einen Mann, der sagt zu ihm: „Meister, ich will dir nachfolgen, wohin du gehst.“ Jesus erwiderte ihm: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen kann.“ Der Menschensohn, der er selbst ist, ist heimatlos auf dieser Erde. Er hat nicht einmal eine Stätte, wohin er sich zur Ruhe begeben kann. Das mußt du bedenken, meint der Herr, wenn du dich mir anschließen willst. An einer anderen Stelle fing er an sie zu belehren, der Menschensohn müsse vieles leiden, von den Ältesten, Oberpriestern und Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Das erschien dem Petrus so ungeheuerlich, daß er sagte, das solle der Herr nicht tun. Aber Jesus wandte sich um, drohte dem Petrus und sagte: „Weg von mir, Satan! Denn du hast nicht Sinn für das, was Gottes, sondern was der Menschen ist.“ Er muß diese Ankündigung machen, denn er mußte den Weg gehen, den der Vater ihm bestimmt hatte, den Weg des stellvertretenden Sühneleidens für die Menschen. Das kommt an einer anderen Stelle mit besonderer Deutlichkeit zum Ausdruck, wo der Herr sagt: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ Um sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele! Das stellvertretende Sühneleiden des Menschensohnes ist hier angesprochen.
Ja, aber wie vereinigen sich diese beiden Reihen von Aussagen, hier die Hoheitsaussagen, der königliche Richter, da die Niedrigkeitsaussagen, der angespuckte, von den Menschen verachtete Wurm, der sich krümmt angesichts des Todes? Sie erklären sich, meine lieben Freunde, wenn man begreift, daß Jesus auf die alttestamentlichen Prophetien zurückgegriffen hat. Er hat Stellen, die beim Propheten Daniel und beim Propheten Isaias sich finden, auf sich angewandt. Er hat diesen Stellen damit messianische Valenz bescheinigt. Er hat damit kundgetan, daß diese Stellen von ihm reden, und daß er es ist, der diese Texte der alttestamentlichen Propheten erfüllt, und zwar jene. die auf die Hoheit des Messias gehen und die anderen, die von seiner Niedrigkeit sprechen.
Von der Hoheit des Messias ist im Buche Daniel die Rede. Da hat der Seher folgendes Gesicht: „Während ich noch die Nachtgesichte hatte, kam plötzlich einer, der aussah wie ein Menschensohn auf den Wolken des Himmels. Als er bei dem Hochbetagten angelangt war, führte man ihn vor denselben. Ihm ward nun Herrschaft, Ehre und Reich verliehen. Ihm müssen alle Völker, Nationen und Zungen dienen. Seine Herrschaft wird ewig dauern und nie vergehen. Niemals wird sein Reich zerstört werden.“ Hier haben wir, meine lieben Freunde, die Stelle, auf die unser Heiland sich bezogen hat. Ja, sagt er, dieser Menschensohn, das bin ich! Was da verheißen wurde, das erfüllt sich in mir. Ich bin der Menschensohn, der mit den Wolken des Himmels – d.h. mit der Macht Gottes – kommen wird, um alle Völker zu richten, mit göttlicher Würde umkleidet, der Menschensohn, der in unvorstellbarer Weise die Verheißung erfüllt, die Gott einst in grauer Vorzeit gegeben hat.
Ähnlich ist es mit den Niedrigkeitsaussagen. Sie finden sich beim Propheten Isaias, vor allem in dem berühmten Gottesknechtslied im 43. Kapitel. Da wird der 'Eben Jahwe', der Knecht Gottes, geschildert. Und was ist das für ein Knecht? „Nicht Gestalt noch Schönheit war an ihm, daß wir ihn ansehen möchten, kein Aussehen, daß wir Gefallen an ihm hätten. Verachtet war er, der letzte der Menschen, ein Schmerzensmann, mit Leiden vertraut. Er aber hat unsere Leiden getragen, unsere Schmerzen auf sich geladen, ob unserer Sünden ward er verwundet, ob unserer Frevel zerschlagen, zu unserem Heil lag Strafe auf ihm. Durch seine Striemen ward uns Heil! Wie Schafe irrten wir alle umher; jeder ging seinen eigenen Weg. Der Herr aber legte auf ihn die Sündenschuld von uns allen. Er wurde mißhandelt, doch er gab sich willig darein, tat seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird. Wie ein Schaf, das vor seinen Scherern verstummt, tat er den Mund nicht auf.“
Das also, meine lieben Freunde, ist die Verheißung anderer Art. Wir alle kennen die Erfüllung in Jesus Christus. Und das ist kein Zufall gewesen, sondern Jesus hat sich als den leidenden Gottesknecht verstanden. Er war überzeugt davon, daß sich in ihm erfüllte, was der Prophet Isaias vorausgesagt hat. Und so hat er auch, wie wir eben gelesen haben, im Markusevangelium gesagt, daß er gekommen sei, um sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben. Jetzt verstehen wir, meine lieben Freunde, warum sich Jesus als Menschensohn bezeichnet hat. Er wollte darin sein Messiasbild, seinen Messiastyp, ausdrücken, und der war anders, als was das jüdische Volk sich ausgedacht hat. Dieser Messias war gewiß eine hoheitliche Gestalt, der Gott das Gericht anvertraut hat. Aber dieser Messias war auch ein leidender, ein mißhandelter Gottesknecht, auf den Gott die Schuld von allen gelegt hatte, damit er sie ans Kreuzesholz trage, damit er den Schuldschein, der wider uns lautete, auslösche.
Jetzt verstehen wir das Geheimnis unseres Heilandes Jesus Christus. Das ist unser Menschensohn, der 'Bar naschah', der 'Hyios tou anthropou', das ist der königliche und der mißhandelte, das ist der in Hoheit kommende und der geschundene, das ist der göttliche Menschensohn, der doch gleichzeitig als Mensch erscheinen mußte, um auf diese Weise aufzuarbeiten, was der Mensch durch seine Schuld verdorben hatte. Das ist der Menschensohn, auf den wir uns verlassen können, wie die Mutter von Sophie und Hans Scholl im Angesichte des Todes gesagt hat „Jesus“. Jesus, der Menschensohn, unser Gott und Heiland, dem wir gehören, tot oder lebendig! Amen.