Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
20. März 2022

Judas Iskariot

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das katholische Weltbild ist ernst, aber auch beglückend. Gott erschafft Geschöpfe, denen er sich mitteilt, denen er einen Strahl seiner Herrlichkeit schenkt. Da liegt eine große Verantwortung auf den Geistwesen, die Gott geschaffen hat, die Verantwortung, Gott aufzunehmen, sich ihm ähnlich zu machen, soweit das Geschöpfen möglich ist. Doch in diesem Weltbild fehlen nicht die tiefen Schatten, die Finsternisse, die Widersprüche. Nicht alle Geschöpfe werden von Gott erfüllt. Manche stürzen in ewige Gottesferne. Gerade die höchstgeschaffenen Geschöpfe, die Geistwesen, haben solche in ihren Reihen, die von Gott weggehen in die ewige Unseligkeit. Es gibt das Böse in der Welt, die Sünde. Wir können es verstehen, dass man alles versucht, die Existenz der Sünde einzuschränken oder vielleicht gar aufzuheben. Aber es geht nicht. Die Erfahrung zwingt uns, das Böse anzunehmen, und ebenso der christliche Glaube. Das Christentum enthält die Offenbarung der Existenz der Weltsünde, das Geheimnis der Bosheit. So müssen wir die Finsternisse der Welt zur Kenntnis nehmen.

Wir wollen eine geschichtliche Sünde betrachten, ein Böses, das sich unbezweifelbar zugetragen hat. Eine Sünde, die als Schulbeispiel für die Entwicklung des Bösen dienen kann. Wie wächst das Böse aus der Menschenseele heraus? Welche Wurzeln hat diese furchtbare Saat? Wir betrachten die Sünde eines Menschen, der sehr hoch stand, der sehr begabt war: außerordentlicher Verstand, starker Wille, gewaltige Schwungkraft seiner Seele und eine große Leidenschaft; etwas Glühendes, allerdings auch etwas Dämonisches; die Sünde eines Menschen, den Gott sehr hoch begnadet hatte, den er berufen hatte zum Höchsten; die Sünde eines Menschen, den Jesus „Freund“ nannte, die Sünde eines Apostels, des Verräters Judas Iskariot. Wir können diese Sünde nach den Andeutungen des Evangeliums deutlich verfolgen. Wir betrachten den Weg dieses Menschen, seinen Fall und seinen Untergang.

I. Der Weg des Menschen

Wir können fragen: Warum hat Jesus den Judas überhaupt in seine Gemeinschaft berufen? Er hat doch gewusst, was das für ein Mensch ist und was aus ihm werden wird. Aber Jesus sagt, er habe alle angenommen, die „der Vater ihm gab“, und der Vater hat ihm auch den Judas gegeben. Er ist ja auch nicht der einzige dieser Art geblieben. Es sind viele solche, die das Heiligste verraten haben. Aber Jesus nimmt sie alle an, wie der Vater sie ihm gibt. Warum sollte er nicht auch ihn nehmen?

Judas war damals, als er zu Christus kam, nicht schlechter als die übrigen Apostel, vielleicht auch nicht besser. Es könnte sogar sein, dass er sich in manchem von den übrigen auszeichnete. Jedenfalls war nichts Besonderes an ihm zu sehen, was besonders anstößig war. Er hatte sicher eine weltliche Auffassung vom Reich des Messias. Im Wesentlichen dachte er sich das so: Eines Tages wird der Messias zum Aufstand aufrufen, die Revolution verkünden, er wird die Fremdherrschaft beseitigen und das Volk Israel wird herrschen vom Zweistromland bis Gibraltar. Dann werden die Cäsaren kommen und den Staub vom Messiaskönig lecken. Und zu den Seiten des Messiaskönigs werden seine ersten Würdenträger sitzen, Judas und die übrigen Apostel. So dachten sie alle. Wir brauchen es ihnen nicht vorzuwerfen; denn eine weltliche Auffassung vom Gottesreich erhält sich durch die Jahrtausende.

Nun war allerdings in der Seele des Judas eine gewisse Anlage, die sich schlimm auswachsen konnte. Nichts gerade Abnormes, etwas, was vielleicht in allen Menschen mehr oder weniger das gleiche ist. Zuerst ein gewisser Mangel an Liebesfähigkeit. Er kann nicht eigentlich lieben, d.h. er kann sich nicht ausgeben. Er kann nicht aus Liebe sich verschwenden. Es war ihm schon unverständlich, wenn andere das taten. Das tat ihm weh, das war gegen seinen gesunden Menschenverstand, es war „überspannt, übertrieben, verschwenderisch“. Alles Große, schwunghaft Begeisterte schien ihm nicht ökonomisch, nicht rationell, nicht angemessen. Da war diese Frau in Betanien, die mit ihrem kostbaren Alabastergefäß hereinkam und den ganzen kostbaren Inhalt über das Haupt des Meisters ausgoss. Das ärgert Judas maßlos. Wir können fragen: Warum ärgert ihn das? Es geht ihn doch gar nichts an, es ist nicht sein Öl, das hier ausgeschüttet wird, er hat keinen Verlust. Aber er gehört zu den Menschen, die den anderen die Freiheit nicht lassen können. Und dann ärgert ihn das auch, weil es ihm so nutzlos erschien, weil es ihm überschwänglich vorkam; er kann sich da nicht hineindenken. Bei anderen Menschen ärgert es ihn, und für ihn selbst ist es völlig undenkbar, dass er sich je so ausgibt. Denn sein Mangel an Liebesfähigkeit hat etwas Kleinliches und Engherziges. Er ist ein Vertreter des Pfennig-Egoismus, der jeden Heller in der Hand zehnmal umdreht, bis er ihn ausgibt; der überall schaut, wo er etwas erraffen kann; der nichts umsonst tut und nirgendwo zu kurz kommen will. Judas war vom Meister und von den Mitaposteln zum Kassenwart bestellt worden. Nun war ja nicht gerade sehr viel zu verwalten. Es waren kleine Summen in der Kasse. Immerhin, Judas eignete sich für den Posten, vermutlich verstand er etwas von Geld, Einkauf und Rechnungen. Deshalb war er wohl dazu bestimmt worden. Vielleicht hatte er sich selbst gemeldet.

Judas hatte sich wohl gedacht, das Reich des Messias werde sehr bald kommen; es werde eine Sache von Tagen oder Wochen sein. Aber Jesus tat nichts dergleichen. Übers Jahr ist schon vergangen, dass er wartet, und es sieht nicht danach aus, dass er in nächster Zeit den Aufruf zur Erhebung ergehen lassen wird. Die Maßgebenden in Jerusalem ignorieren Jesus vollständig; die Sache sieht nicht hoffnungsvoll aus. Indessen verliert Judas Zeit. Vielleicht hat er daheim einen Kramladen. Da kann man doch nicht verlangen, dass er umsonst seine Zeit opfert. So hält er sich schadlos an seiner kleinen Kasse; er stiehlt daraus heimlich die paar Pfennige, die man dem Herrn und seinen Jüngern gegeben hat. Das Schlimmste ist, dass er sein Tun und Verhalten noch rechtfertigt. Er ist ein Mensch, der vor seinen Augen alles rechtfertigen kann. Seine hässliche Gesinnung gegen die Frau von Betanien ist für ihn nicht hässlich; das ist für ihn der gesunde Menschenverstand, das ist die Sorge für das Armenwesen, das nennt er soziale Gesinnung; das rechnet er sich hoch an. Er ist ein Mensch, der niemals an sich irre geworden ist, der niemals an sich gezweifelt hat. Er ist der Korrekte, der Loyale, der weiß, dass er gerecht ist. Sonst will er nichts: gerecht muss man sein! Nun sind das alles nicht Sünden. Das ist eben sein Charakter. Er ist nicht großartig und erhebend, aber so sind halt die Menschen im Durchschnitt alle. Das ist das durchschnittliche Menschenmaß. Etwas davon steckt in jedem Menschen: dieser Egoismus, diese Neigung zur Selbstbeschönigung.

Nun wollte der Herr die Jünger erziehen, dass sie weiter vorankämen, brauchbar würden für seine Zwecke. Es sieht so aus, als hätte er seine Pädagogik vor allem auf Judas berechnet. Auf ihn scheint sie zugeschnitten. Er wollte die Apostel zu einem großzügigen Denken über zeitliche Dinge erziehen. Sie legten zu viel Gewicht auf irdische Dinge wie Geld und Gut, Nahrung und Auskommen. Wenn er sie aussandte, sagte er: „Habt nicht so viel Sorge und Angst um Essen und Trinken. Man gibt euch schon das Nötige. Und was man euch gibt, das dürft ihr nehmen. Aber seid anspruchslos; der himmlische Vater ernährt euch schon.“ Das fand Judas ziemlich verstiegen und auch riskant. Sich so auf die Güte der Menschen verlassen – das kann schief gehen. Er hat noch nie erlebt, dass ihm jemand etwas gegeben hätte. So hat er sich bei dieser apostolischen Reise eingedeckt und gut versehen; auch seinen Beutel hat er mitgenommen und gedacht: „Ich will klug sein; wollen wir mal sehen, ob mir jemand etwas schenkt; im Notfall bin ich versorgt.“

Dann suchte der Herr die Jünger zu dem Gedanken zu erziehen, dass sie für andere da seien. Der Naturmensch, der gesunde Naturmensch, wie er aus der Erde herauswächst, ist für sich da. Vielleicht noch für seine Frau, für sein Kind, für einen Kumpel, aber dann hat es ein Ende. Die übrigen Menschen sind ihm schnuppe, man muss sie umgehen oder aus dem Weg drängen. Der Herr Jesus Christus schuf einen neuen Beruf: den Beruf für andere Menschen. Diesen Beruf braucht das Reich Gottes. Und so berief er Menschen, die zu allererst und wesentlich für andere da sind; die selbst erst in zweiter und letzter Linie kommen, deren eigene Interessen nur dadurch erfüllt werden, dass sie anderen dienen. Sie sollten für die anderen zur Verfügung stehen, hinausgehen, Kranke besuchen, heilen, die Volksmenge mit Nahrung versorgen, die Kinder zulassen, auch wenn sie noch so müde sind. Judas war dies alles unsympathisch. Dass Jesus sich mit den Kranken abgab; dafür sind Ärzte zuständig. Dass er die Kinder annahm; die sollen daheim bleiben. Was man braucht, das sind seiner Meinung nach Männer, Krieger, Soldaten. So hat ihm die vom Herrn auferlegte Tätigkeit der Apostel sehr missfallen. Wenn er je Kranke besuchte, wird er ihnen kaum besonders herzlich zugeredet haben. Es ist schwer vorstellbar, dass viel Trost von ihm ausgegangen ist.

Jesus suchte die Apostel zu erziehen zu einer Einkehr in sich selbst. Sie sollten innewerden, dass da noch manches Allzumenschliches in ihnen war. Sie sollten die innere, letzte Demut lernen, die sich der eigenen Schwäche bewusst wird, aber in Überwindung dieser Schwäche zum Großen und Starken geht. So hat er sie bei Gelegenheiten aufmerksam gemacht, dass manche unlauteren Regungen in ihnen waren, die er wohl bemerkte. Wenn sie so leidenschaftlich miteinander zankten, wer den ersten Platz bekomme, wer Ministerpräsident werde, lässt er sie zunächst ruhig werden; später aber macht er sie aufmerksam und stellt ein Kind in ihre Mitte: „Seht, wie arglos, wie harmlos es ist! Keine Streberei ist im Kind, aber es ist dem Himmelreich näher als die anderen Menschen.“ Judas hat das alles ohne Zustimmung aufgenommen. Er blieb in seinen Augen schon der rechte Mensch. „Wer kann mir etwas nachweisen! Niemand.“ So entstand da allmählich eine Kluft. Da er bei seiner Art blieb und die übrigen Apostel sich dem Meister anpassten, entstand eine Entfremdung, eine Trennung. Judas verstand die Gemeinschaft nicht mehr recht. Er fühlte sich fremd, unbehaglich. So entsteht eine Enttäuschung, dann eine gewisse Abneigung.

Nun hätte er ja gehen können. Ein aufrichtiger Mensch hätte gesagt: „Meister, wir verstehen uns nicht mehr. Ich glaube, es ist besser, wenn wir getrennte Wege gehen. Mach du es nach deiner Art, ich nach meiner. Leb wohl!“ So hätte ein aufrichtiger Mann gesprochen. Aber daran hinderte ihn sein Streben nach Gewinn und Sicherheit. Er sagte sich: „Wenn ich jetzt fortgehe und morgen kommt das Reich Gottes doch durch Jesus, bin ich der Gelackmeierte. Nein, Judas, sei schlau. Warte lieber noch eine Weile. Lieber mehr Eisen als keines im Feuer haben.“ So wartete er, aber er ärgerte sich jeden Tag mehr. Aus dem Ärger entstand eine gewisse Wut, ein Ingrimm. Er musste heucheln. Judas spürte, dass er zu weit gegangen war, so dass man es merken konnte. Er musste diesen Eindruck verwischen. Wenn er fortgewesen war und zurückkam, fiel er den Jüngern um den Hals, küsste den Meister, war er die Herzlichkeit und Überschwänglichkeit selbst. Aber das war Heuchelei. Und die tut auf die Dauer weh. Aus diesem schmerzlichen Gefühl entstand ein großer Hass, ein glühender Hass gegen den Herrn und die anderen Apostel. Es entstand in Judas der Wunsch, bei passender Gelegenheit loszukommen. Die Gegenpartei gefiel ihm jetzt immer besser. Er fand, das sind auch keine üblen Leute. Man sollte nicht gegen sie so reden, wie Jesus es tat. Er ging immer häufiger zu ihnen und berichtete ihnen. Er fand sich drüben immer wohler. Nun ist er reif geworden zu seiner Sünde. Die Idee ist da: Ich will ihn den Feinden ausliefern. Wie sie zum ersten Mal entstand, wissen wir nicht. Vielleicht hatte er auch hierfür eine Rechtfertigung, dass er meinte, er handele aus einem rechten Motiv. Vielleicht sagte er sich: Ich will ihn zwingen, aus sich herauszugehen. Oder er legte sich zurecht, dass er der Sache des Volkes, der Priester, einen Dienst erweisen müsse. Er besann sich auf seine Loyalität, auf seine Gesetzestreue, auf die Pflichten eines guten Untertans: Eigentlich muss ich ihn anzeigen. Ich kann mir das kaum verzeihen, dass ich ihn nicht schon längst angezeigt habe. Jesus ist der Mann, der das Volk auf falsche Wege bringt. Ich muss ihn anzeigen; das ist meine Pflicht, es tut mir leid, aber ich muss es tun. Wir sehen in seinem Verrat die Wurzeln seines Charakters, aber in einem enormen Maße ausgewachsen.

II. Sein Fall

Zuerst war da ein Mangel an Liebesfähigkeit. Das bedeutet, dass er sich nicht lieben lassen konnte. Wer anderen nicht Liebe geben kann, kann sie auch nicht empfangen. Das zeigt sich bei dem Letzten Abendmahl. Der Heiland ist gedrückt, tieftraurig. „Einer von euch wird mich verraten.“ Judas zuckt zusammen: „Aha, er weiß es! Wenn er mich nur nicht nennt!“ Es kommt zu der Fußwaschung. Auch vor Judas kniet Jesus nieder. Vielleicht hat er ihm da auch einen Blick geschenkt wie hernach dem Petrus, einen Blick der Güte und Liebe, des Wohlwollens, der Freundschaft. Den Judas hat es nicht berührt. Es gibt keine Liebe mehr, die ihn warm anspricht, die an sein Innerstes dringt. Diese Zeremonie der Fußwaschung ist ihm nur lästig, ein Zeitverlust. Er hat Wichtigeres vor. Und Jesus gibt ihm noch eine Auszeichnung, die damals der Gastgeber besonders lieben Gästen und Freunden zu geben pflegte: Er tunkt einen Bissen in die Schüssel und gibt ihn dem Judas, zu seiner besonderen Auszeichnung. Judas fühlt: Er wirbt um mich; er weiß, dass ich ein Verräter bin, er möchte mich gewinnen, er will mich nicht aufgeben. Aber das ärgert ihn, das erzeugt noch größere Wut, noch größeren Hass. Als er den Bissen genommen hatte, „da fuhr Satan in ihn“. Es war, als ob das böse Prinzip vollkommen über ihn Herr geworden wäre. Ein unbändiger Hass flammte in ihm auf. Je mehr er fühlt, dass Jesus ihm nachgeht, um so stärker bäumt er sich dagegen auf. Er will nicht, er will nicht! So stürzt er hinaus. Es war Nacht. In diesem Augenblick waren alle Lichter in seiner Seele erloschen. Es war keine gute Regung mehr in ihm. Kein guter Wille, nichts Gütiges, nichts Herzliches, nichts Verzeihendes, nur Härte und Hass. Es war Nacht in seiner Seele geworden. Und einmal war es doch auch hell gewesen in seiner Seele. In seiner Jugend hatte er doch einen Idealismus gehabt und einen Glauben; hatte etwas von Liebe wenigstens für das Volk, wenn es auch eine missverstandene Liebe war. Er hatte doch einmal etwas Gutes gewollt. Er war auch einmal ein entzückendes Kind gewesen, voll von Vertrauen, Aufgeschlossenheit und Empfänglichkeit. Jetzt ist er wie zugemauert. Kein Lichtschein mehr erhellt diese Seele. Das ist der Mangel an Liebesfähigkeit. Aber auch sein kleinlicher Egoismus zeigt sich da. Er will nicht einmal den Verrat umsonst begehen. Er fragt: „Was gebt ihr mir? Dann will ich ihn euch ausliefern.“ Er tut auch das nicht umsonst. So geben sie ihm dreißig Silberlinge. Er ist sehr böse und schimpft, nimmt sie aber doch an. Und sie schauen ihm verächtlich nach und denken: So ein Lump! Dann sehen wir in seinem Verrat die Unehrlichkeit seiner Gesinnung, die jetzt den Höhepunkt der Heuchelei ersteigt. Er weiß, wo sich der Meister aufhält und führt das Verhaftungskommando auf den Ölberg. Dort verrät er mit einem Kuss den Menschensohn. Er hätte den Feinden Jesu sagen können: „So sieht er aus.“ Er hätte mit der Hand auf ihn zeigen können. Aber nein, mit dem Zeichen der Freundschaft, der Liebe muss er es tun. Das ist das furchtbarste Gesetz der Heuchelei, dass sie ganz unnütz Heuchelei begeht, aus innerer Verworfenheit. Das ist sein Fall, sein Verrat.

III. Sein Untergang

Nun sehen wir den Untergang des Judas. Im 111. Psalm heißt es am Schluss: „Der Sünder wird schon sehen. Dann wird er ergrimmen, dann wird er mit den Zähnen knirschen. Er wird vergehen vor Verlassenheit, und die Sehnsucht des Sünders wird zuletzt umsonst sein.“ Das ist die letzte Psychologie der Sünde: „Er wird es sehen.“ Eines Tages fährt ein Blitz vom Himmel und erleuchtet die dunkle Seele, so lange hatte sie in Selbsttäuschung und Selbstbeschönigung dahingelebt; jetzt wird ihr die letzte Maske vom Gesicht gerissen. So ist es auch Judas ergangen. Vielleicht als Jesus hinaufwankte auf den Kalvarienberg; oder als Jesus am Kreuze starb. Plötzlich packte es ihn, wie ein Blitz: So bist du, so einer bist du! Das ist dein Werk. Du hast ihn ausgeliefert. Die erste Regung, die bei solchen Naturen kommt, ist die Regung einer unheimlichen Wut, eines Ingrimms gegen sich selbst und gegen die Menschen, gegen die Welt, gegen Gott, gegen den Beruf, gegen das Geld. Sogar das geliebte Geld, er kann es nicht mehr ansehen, er mag es nicht mehr spüren, es brennt und ärgert ihn. Wie er es manchmal von den römischen Tyrannen gesehen, dass sie alles ärgerte, was ihnen begegnete, so geht er in den Tempel und schleudert die dreißig Silberlinge vor die Priester hin: „Ich habe unschuldig Blut verraten!“

Wenn ein stolzer Mensch sich blamiert hat, dann ärgert ihn das maßlos. Und wenn er dann an die Blamage denkt, macht er unwillkürlich Ausdrucksbewegungen: Er malmt mit den Kiefern, er ballt die Fäuste. Das ist die Psychologie der inneren Scham des eingebildeten Menschen. Das tut nun auch Judas: „Ich habe unschuldig Blut verraten!“ Ich, Judas. Und was habe ich auf mich gehalten! Und dann fühlt er sich verlassen. Er vergeht vor Verlassenheit. Er ist endlich allein mit sich selbst und merkt es. Er hat das Geld, aber es gibt nichts, was ihn jetzt irgendwie trösten könnte. Von den Aposteln hat er sich ausgeschlossen, von den Priestern wird er weggejagt. Kaltherzig sagen sie: „Was geht das uns an? Da sieh du zu!“ Sie wollen nicht einmal mehr mit ihm reden. Wohin soll er gehen? Er hat niemand mehr, an den er sich halten könnte. So kommt der letzte Akt der Verzweiflung. Die furchtbarste Psychologie, zu der eine Seele fähig ist. Wir erleben manchmal in dieser Welt Ausbrüche der Verzweiflung; aber sie sind eigentlich mehr Krankheit als Verzweiflung. Wenn wirklich ein Mensch verzweifelt, ist das ganz unausdenkbar furchtbar. Wenn er alles, alles aufgibt für immer. Und das tat Judas. Er läuft hin und erhängt sich. Er gibt alles auf – und hat es zu früh aufgegeben. Noch zu früh! Der alles bis in die letzten Augenblicke behalten und erraffen wollte, der sein ganzes Leben lang gerechnet hat, jetzt hat er alles auf einmal aufgegeben, und es war zu früh. So geht es solchen Naturen immer. Zu früh! Es wäre noch nichts verloren gewesen. Wenn er hinausgelaufen wäre auf den Kalvarienberg und hätte sich niedergeworfen neben Maria Magdalena, neben der Mutter des Herrn, hätte das Kreuz umklammert und hinaufgerufen: „Heiland, Meister, Vater im Himmel“ – er wäre wieder in Gnaden aufgenommen worden. Er wäre ein Apostel geblieben, er wäre noch ein Heiliger geworden. Es wäre nichts verloren gewesen. Noch stand ihm alles offen. Und wenn er so hinüberging in die Ewigkeit, flieht er jetzt in alle Ewigkeit von Gott weg. Er türmt einem Abgrund von Verzweiflung um den anderen auf zwischen Gott und sich. Und seine ganze Ewigkeit ist nur wachsende Gottesferne, wachsende Gottesleere, wachsender Gotteshass und wachsender Hass gegen sich, gegen alle Menschen, gegen alles Gute, gegen alle Liebe. Das ist der Untergang eines Menschen. Und er war einmal ein Mensch, zu dem Jesus gesagt hatte: „Freund“! Ein Mensch, den Gott begnadet hatte, den Gott erwählt hatte. Es war einmal eine Morgenstunde gewesen, in der Jesus zwölf Jünger auswählte und sie mit ihrem Namen rief, und diese Namen klingen durch alle Ewigkeit. Die Namen dieser Zwölf. Und da war auch Judas Iskariot darunter gewesen – und nun ist es so geworden.

Amen.

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