Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Das hohe Gut des wahren Glaubens (Teil 6)

12. Dezember 2004

Die Scheidung der Geister

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Einen Glauben muss jeder Mensch haben.“ So hört man manche Leute sprechen. „Einen Glauben muss jeder Mensch haben.“ Damit ist gemeint: irgendeinen Glauben. Es kommt also gar nicht darauf an, was einer glaubt, sondern nur, dass er etwas glaubt. Einen Glauben muss jeder Mensch haben. Das Wort klingt tolerant und harmlos, aber es ist gefährlich, denn es besteht die Gefahr, dass aus dieser Haltung die Ansicht entsteht, es komme auf den Inhalt des Glaubens überhaupt nicht an. Wenn man sich nur irgendwie gebunden fühle an Gott, an ein höheres Wesen, dann reiche das aus.

Die Ansicht, die sich in dem Worte ausspricht „Einen Glauben muss jeder Mensch haben“, kann man als Relativismus und Indifferentismus bezeichnen. Relativismus ist jene weltanschauliche Haltung, nach der es keine absolute Wahrheit gibt, sondern wonach sich die Erkenntnisse je nach dem Stand, nach der Situation, nach der geschichtlichen Lage richten. Alles ist relativ, d.h. bezogen auf eine bestimmte Rasse, auf ein bestimmtes Volk, auf eine bestimmte geschichtliche Situation. Der Indifferentismus geht noch weiter, indem er sagt, es ist überhaupt nicht möglich, irgendeine Wahrheit im religiösen Bereich zu erkennen. Man legt sich überhaupt nicht auf eine bestimmte Haltung fest, sondern ist der Meinung, man müsse unentschieden sein und auf jede Stellungnahme verzichten.

Wenn diese Ansicht richtig wäre, einen, irgendeinen Glauben muss jeder Mensch haben, dann wären die Religionsbekenntnisse alle auf einer Ebene; dann wäre es gleichgültig, ob man in Gott den transzendenten, persönlichen Herrn Himmels und der Erde sieht, oder ob man Gott in der Natur findet, wie Richard Strauß es beispielsweise getan hat. Wenn diese Ansicht, die ich eben vortrug, richtig wäre, dann wäre es gleichgültig, ob man in Jesus den menschgewordenen Gottessohn sieht oder eine mythische Gestalt, die die Sage erfunden und verklärt hat. Wenn diese Ansicht zuträfe, dann wäre es gleichgültig, ob man im Papst den Stellvertreter Christi sieht oder einen Medizinmann. Wenn die angegebene Meinung sich durchsetzen sollte, dann wäre es auch gleichgültig, ob man in der Hostie den Herrn und Heiland anbetet, oder ob man darin ein bloßes Stück Brot erblickt. Nein, meine Freunde, die Wahrheitsfrage ist nicht nur in der Religion, sondern für das ganze Leben entscheidend. An der Wahrheit hängt buchstäblich alles. Die Wahrheit macht uns frei, und der Irrtum versklavt uns. Deswegen muss uns alles an der Wahrheit liegen.

Wenn es keine absolute Wahrheit gäbe, dann könnte der Siemens-Konzern nicht 180 Lokomotiven nach China verkaufen, wenn dort eine andere Mathematik und Physik gelten würde als in Europa. Es kommt alles darauf an, dass die Gesetze gelten und dass sie überall gelten und dass sie ausnahmslos gelten und dass man sich nach ihnen richten kann, nein, dass man sich nach ihnen richten muss, wenn man nicht Schaden nehmen will. Wer die Gesetze der Physik, die absolut gelten, nicht beachtet, der verbrennt sich oder verbrüht sich oder verletzt sich oder stürzt hin.

Es ist in der Religion nicht anders. Auch in der Religion kommt alles auf die Wahrheit an. Gewiß, es gibt in allen Religionen Spuren der Wahrheit, aber es gibt nur eine Religion mit der Fülle der Wahrheit. Das ist jene Religion, die von Gott selbst gestiftet ist. Die anderen sind Gemächte von Menschen, manchmal beachtenswerte Gemächte von Menschen, aber immerhin Gemächte von Menschen. Nur eine Religion stammt von oben, vom Himmel. Es ist jene, die uns der Herr und Heiland selbst gebracht hat. Alle anderen Religionen kann man von ihrem Stifter trennen. Nicht die Person Buddhas, Mohammeds oder des Moses ist der eigentliche Inhalt der jeweiligen Religion und des Kultes, sondern vielmehr ihre Lehre. Bei diesen Religionen Islam, Judentum, Buddhismus kommt es auf die Lehre an, nicht auf die Person des Stifters. Man kann die Lehre völlig von der Person des Stifters lösen, und die Religion bleibt erhalten. Ganz anders im Christentum. Das Christentum ist Jesus Christus. Das Christentum beruht auf Jesus Christus, nein, es ist identisch mit Jesus Christus. Die christliche Verkündigung lautet deswegen: Jesus ist der Christus, das heißt der Messias, der Heiland, der Erlöser. Die heidnischen Religionen enthalten religiöse Wahrheit, aber verderbt. Das Judentum ist religiöse Wahrheit, aber erstorben. Das Christentum ist die wahre Religion, lebendig und vollkommen. Wer diese Religionen auf eine Ebene aufträgt, der vergeht sich gegen das Gesetz der Wahrheit. Gott ist einer, und er will, dass seine Wahrheit allen Menschen zugänglich gemacht wird. Er will nicht, dass die Menschen eine verschiedene Sittlichkeit haben in Europa und in Amerika, auf Sri Lanka oder auf Haiti. Er will, dass sie alle sich nach der einen, von seiner Religion gebotenen Wahrheit richten im Leben und im Sterben. Wenn alle Religionen gleich gültig sind, wenn es keine Unterschiede zwischen ihnen gibt, dann läuft das schließlich darauf hinaus, dass man sich für keine entscheiden und dass man keine üben will. Eine solche Ansicht unterscheidet sich kaum von der Gottesleugnung. Denn wer von Gottes Dasein überzeugt ist, der muss einsehen, dass die gottesdienstlichen Einrichtungen, so verschieden und so unterschiedlich und so entgegengesetzt sie sind, dass sie unmöglich gleich wahr, gleich gut und gleich gottwohlgefällig sein können.

Woher kommt diese Ansicht: „Eine Religion muss jeder Mensch haben“? Sie stammt aus der Aufklärung, also aus dem 18. Jahrhundert, und sie ist propagiert worden von einem der führenden Protagonisten der Aufklärung, nämlich von Gotthold Ephraim Lessing. Ich habe vor mir, hier, meine lieben Freunde, das dramatische Gedicht von Lessing „Nathan der Weise“. Das ist ein Drama, das Lessing im Jahre 1783 hat aufführen lassen, das alle Eure Kinder im Gymnasium gelesen haben und das eben zur Zeit in Frankfurt im Schauspielhaus aufgeführt wird: „Nathan der Weise“. In diesem Drama wird den Lesern oder Zuschauern suggeriert, dass es keine Religion gibt, die absolut ist, dass unter den Religionen keine einen unbedingten Vorrang hat, dass keine Religion einzigartig ist, sondern dass vielmehr alle Religionen gleichberechtigt sind. Und das trägt Lessing in diesem Drama vor in der sogenannten Ringparabel. Da geht es um folgendes: Ein Vater hatte einen kostbaren Ring. Aber er hatte drei Söhne, die er in gleicher Weise liebte. Welches von den drei Kindern sollte nun einmal das Kleinod erben? Der Vater wollte keinem weh tun, und so ließ er zwei weitere Ringe anfertigen, die dem echten täuschend ähnlich sahen. Dann gab er jedem Sohn einen Ring, und jeder glaubte, im Besitze des echten, wertvollen Ringes zu sein. Diese Ringparabel trägt der Jude Nathan der Weise dem Sultan Saladin vor. Damit will Lessing beweisen, dass eine Religion so gut wie die andere ist. Ist dieser Beweis gelungen?

Gegen diese Ringparabel ist folgendes ins Feld zu führen. Erstens, in Wirklichkeit war ja nur einer der drei Ringe echt, und zwei waren falsch. Es wird also die Einzigartigkeit einer Religion dadurch nicht aufgehoben, sondern bestätigt. Ein Ring war echt, und zwei waren falsch, also waren die drei Ringe nicht alle gleich gut, und die eine Religion ist nicht gleich gut wie die andere. Es gibt eine echte und zwei unechte Religionen. Das wird durch diese Parabel entgegen der Intention von Lessing ausgedrückt. Zweitens heißt es, alle drei Söhne seien zufrieden gewesen. Warum? Weil jeder meinte, er habe den echten Ring. Aber ihre Zufriedenheit beruhte auf Täuschung. Zwei von ihnen waren vom Vater hintergangen. So wäre es auch mit den verschiedenen Religionen. Ihre Anhänger meinen zwar, sie hätten die richtige Religion, tatsächlich haben sie diese nicht. Sie betrügen sich selbst, sie täuschen sich. Drittens, ein Vater kann seinen Söhnen falsche Ringe geben. Gott aber kann den Menschen nicht falsche Religionen geben. Wenn er das täte, würde er die Welt betrügen. Das auch nur zu denken ist eine scheußliche Gotteslästerung. Gott ist der Herr aller Menschen. Er will, dass alle ihn anbeten, und zwar so anbeten, wie er es gebietet. Er will, dass alle seinen Willen tun, nicht irgendeine Sittlichkeit beobachten, sondern die Sittlichkeit, die er verbindlich gemacht hat. Viertens, jener Vater gibt seinen Söhnen mit dem einen echten auch zwei falsche Ringe, weil eben der eine echte Ring nicht ausreicht für alle drei. Ein Ring ist ein körperliches Ding, und das kann nicht zugleich ganz von dreien besessen werden. Anders ist es mit der Religion. Die Religion ist ein geistiges Gut, das Millionen, ja Milliarden zu gleicher Zeit besitzen können, und jeder ganz. Somit liegt auch kein Grund vor, den Menschen falsche Religionen zu geben, damit jeder zu einer Religion kommt. Es genügt eine echte für die ganze Menschheit. Schließlich fünftens, jene Ringe waren einander durch und durch ähnlich, so dass man sie nicht auseinanderkennen konnte, obwohl sie doch nicht dieselben waren. Einer nur war echt. Aber es kann nicht zwei Religionen geben, die durch und durch ähnlich, nicht voneinander zu unterscheiden sind und doch nicht dieselben wären. Das ist unmöglich, das ist denkunmöglich.

Aus diesen Einwänden, meine lieben Freunde, sehen Sie, dass die Parabel von den drei Ringen, die Lessing vorgetragen hat, zwar oberflächliche Geister zu der Ansicht verführen kann, dass alle Religionen gleich viel oder auch gleich wenig wert seien. Bei näherem Zuschauen sieht man, dass die Ringparabel keineswegs die feste Überzeugung aufhebt, dass eine Religion die echte, die wahre, die gottgewollte ist und dass die anderen von Menschen geschaffene Religionen sind.

„Einen Glauben muss jeder Mensch haben.“ So sagt der Zeitgenosse. Aber man muss suchen, bis man den wahren, den einzig gottgewollten Glauben findet. Man muss sich die Mühe geben, zwischen den Religionen zu unterscheiden. Man muss lernen, studieren und sich mit den Religionen befassen, um zu erkennen, dass die Religionen himmelweit unterschieden sind. Aber die meisten Menschen sind träge, müde, geistig indifferent, und deswegen befassen sie sch nicht mit den Unterschieden. Man soll die Geister scheiden statt sie zu verschmieren. „Scheidung der Geister ist die Rettung der Geister“, hat einmal Julius Langbehn geschrieben. Wahrhaftig, das gilt auch und zuerst für die Religion. Man soll die Geister scheiden, nicht sie verschmieren. Scheidung der Geister ist die Rettung der Geister.

Amen.

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