Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
17. Mai 2015

Das katholische Milieu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die heutige Epistel stammt aus dem 1. Brief des Apostels Petrus. Ihr Gegenstand ist die christliche Gemeinde. Seitdem wir die Taufe empfangen haben, sind wir ja der Kirche zugehörig und in der Kirche auch einer bestimmten Gemeinde zugewiesen. Die Kirche kennt keine allgemeine und beziehungslose Mitgliedschaft, so wie man heute ein unbedeutendes Glied in einer Massenorganisation sein kann, mit einer Mitgliedsnummer innerhalb der Organisation einen bescheidenen Platz erhält. Nein, die Kirche weist jedem ihrer Angehörigen eine bestimmte Gemeinde zu, eine konkrete Pfarrgemeinde, einen bestimmten Seelsorger, einen Seelenhirten. In dieser Gemeinde soll der Christ von der Wiege bis zur Bahre aufbewahrt sein und tätig werden. Glieder einer konkreten Gemeinde, eigener Seelenhirte, Glied sein in dieser Gemeinde, das sind die wesentlichen Züge der christlichen Gemeinde. Wir, die wir hier versammelt sind, bilden eine besondere Gemeinde. Ich möchte sagen: eine Art Personalgemeinde. Denn wir versammeln uns ja im Ritus des heiligen Papstes Pius V. Unser unvergesslicher Heiliger Vater Benedikt XVI. hat das Tor zur Feier dieser Messe weit aufgemacht. Und wir sind ihm dankbar, dass wir diesen ehrwürdigen Ritus, diese tridentinische Messe feiern dürfen. „Was unseren Vorfahren heilig war“, hat der Papst gesagt, „das muss auch uns heilig sein.“ Und der Beweis dafür ist diese Gemeinde. Nutzen wir die Chance, in diesem Ritus die heilige Messe feiern zu dürfen, halten wir diesem Ritus die Treue und stärken wir uns gegenseitig durch unsere Anwesenheit. Es ist eigentlich betrüblich, wenn Menschen unserer Gemeinde allzu oft sich anderswohin begeben und dann diesen Ritus, diese Gemeinde und diese Opferfeier verlassen. Vor uns sitzt mein lieber Freund, der Herr Wirth, der ungefähr im meinen Alter ist, und seit Jahrzehnten diese heilige Messe besucht. Am vergangenen Sonntag sagte er zu mir: „Ich gehe mit meinen Angehörigen auch in den anderen Gottesdienst, aber das ist keine heilige Messe.“ Ich lasse das einmal stehen, was der Herr Wirth gesagt hat, aber den Unterschied zwischen der Eucharistiefeier Pauls VI. und der Messe Pius’ V. spüren Sie alle.

Wer kein rechtes Verhältnis zu seiner Pfarrei hat, zu seiner Gemeinde, der kann auch kein rechtes Verhältnis zu seiner Kirche haben. Wer seine Gemeinde nicht liebt, der wird auch die Kirche nicht lieben. Das Gemeindeleben bedarf der Mitarbeit und des Mitwirkens aller ihrer Glieder. Die Epistel des heutigen Tages gibt uns Weisungen, wie unser Verhältnis zu unserer Gemeinde sein soll: „Meine Teuren. Seid klug und wachsam im Gebet.“ Übersteigerungen des Gefühls, Schwarmgeisterei, Wundersucht sollten unter uns nichts zu suchen haben. Das rechte Beten ist bei allem Mittun des Herzens wachsam und nüchtern. Es lässt sich vom rechten Geiste leiten und ordnen. Und wie gut ist es, wenn ein solcher Geist in der Gemeinde lebt und sie prägt. Die demütige Bereitschaft, auch im Beten nicht das Seine zu suchen, sondern Gott, diese demütige Bereitschaft muss in uns sein. „Habet Liebe zueinander“, mahnt Petrus, „denn die Liebe deckt eine Menge Sünden zu.“ Liebe ist eine schwere Tugend. Nächstenliebe ist eine schwere Liebe, denn wir kennen den Nächsten; wir kennen ihn nur allzu gut, wir wissen um seine Fehler und Schwächen. Aber die Liebe bejaht den Nächsten, wie er ist, und nicht, wie er sein soll. Ich erinnere immer wieder an das Wort des weisen Konrad Adenauer: „Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind; andere gibt es nicht.“ – wie wahr, wie richtig. Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind, andere gibt es nicht. „Alle Menschen sind gebrechlich“, schreibt das Buch von der „Nachfolge Christi“, „aber halte niemanden für gebrechlicher als dich selbst.“ Alle Menschen sind gebrechlich, aber halte niemanden für gebrechlicher als dich selbst. Wer die Gemeinde liebt, der nimmt sich der irrenden Schwester oder des fehlenden Bruders an und wendet ihnen seine Liebe zu. In der Nächstenliebe trägt der Christ das Versagen seines Bruders und das Fehlen seiner Schwester.

Dann kommt eine Mahnung, die uns heute fremd klingt: „Seid gastfreundlich gegeneinander ohne Murren.“ Nun ja, in einer Zeit, wo die Menschen wenig unterwegs waren und wo es wenige Gasthäuser gab, war es eine Pflicht, den Reisenden, den unterwegs befindlichen Bruder oder die pilgernde Schwester aufzunehmen. Das ist heute nicht mehr das Problem. Ich glaube, dass wir dieses Wort richtig verstehen, wenn wir es auf den zwischenmenschlichen Kontakt zwischen den Gliedern der Gemeinde anwenden. Man könnte die Aufgabe, die sich heute uns hier stellt, als Aufbau und Pflege des Milieus bezeichnen. Milieu oder Umwelt ist die Gesamtheit der Faktoren, die auf den Menschen einwirken und auf die er zurückwirkt. Das Milieu gehört neben der Veranlagung und der Freiheit zu den großen Prägekräften des Einzelnen und der Gesellschaft. In der neuen Diskussion hat der Begriff „Milieu“ eine besondere Bedeutung gewonnen. Man versteht darunter soziale Einheiten, die durch bestimmte Merkmale zusammengehalten werden. Großgruppen weisen Gemeinsamkeiten in drei Bereichen auf:

1.      Gemeinsamkeiten der Sinnkonstruktion, der Werte und der Normen.

2.      Ein gemeinsames Netzwerk von Institutionen, in denen man sich befindet.

3.      Geteilte Ritualisierungen des Alltagslebens und des Festtagslebens.

Das gilt allgemein, aber es trifft auch auf die Religion zu. Das Milieu ist für die Religiosität, für die Kirchlichkeit, für den religiösen Zusammenhalt und die religiöse Praxis von nicht zu überschätzender Bedeutung. Der Durchschnittsmensch bedarf zum personalen Glauben des Haltes an einer christlichen Umwelt. Ohne Milieuseelsorge kann die Kirche ihrer Aufgabe nicht gerecht werden. Die Seelsorge muss sich des Einzelnen annehmen, aber auch der Umwelt. Die Menschen können für uns greifbar vor dem Abgleiten in die Gleichgültigkeit nur bewahrt werden durch die Gemeinschaft, in der sie leben. Milieuseelsorge und Laienelite bedingen sich gegenseitig. Im Milieu muss es lebendige und aktive Christen geben, aber das Milieu muss auch ihnen Unterstützung leihen, denn Milieu macht eine regionale und gemeinschaftliche Seelsorge zur Pflicht. Die religiöse und kirchliche Praxis in der jeweiligen Lebenswelt – z.B. in Budenheim – wird von vorherrschendem Milieu positiv und negativ entscheidend beeinflusst. Wir gläubigen, kirchlich-gesinnten Christen sind überall eine Minderheit. Im katholischen Milieu aber tragen und stärken wir uns gegenseitig. Wenn wir uns nicht miteinander verbinden, dann besteht die Befürchtung, dass wir untergehen. Im katholischen Milieu tauschen sich die Gläubigen gegenseitig aus, belehren sich, stützen sich, helfen einander.

Was Milieu bedeutet, das kann man aus dem 19. Jahrhundert lernen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lag das religiöse Leben in Deutschland darnieder. Nur wenige Bischofsstühle waren noch besetzt; die meisten waren unbesetzt. Mangel an Priestern überall, die Gläubigen waren lau, beeinflusst durch die Aufklärung, die alles Übernatürliche leugnete und den Menschen das schöne, angenehme Leben auf dieser Erde anpries. Aber dann kam eine Wende. Und wie kam sie? Sie ging aus von kleinen aktiven Kreisen: in Mainz, in Münster, in München. In Mainz war es der unvergessliche Bischof Colmar, der das religiöse Leben hier erneut angefacht hat, mit elsässischen Priestern, vor allem mit dem großen Theologen Liebermann. In Münster waren es die Fürstin Gallizin und ihr Kreis, die das religiöse Leben neu entzündeten. In München war es der prophetische Görres, der einen Kreis um sich sammelte und seinen „Athanasius“, diese flammende Buch, in das Volk warf, womit er die Gläubigen aufgerüttelt hat. Von da aus entfaltete sich das religiöse und kirchliche Leben im 19. Jahrhundert zu ungeahnter Blüte. Der Aufschwung des religiösen Lebens in dieser Zeit war zum großen, vielleicht zum größten Teil der Bildung eines katholischen Milieus, einer katholischen Umwelt zu verdanken. Die katholischen Christen standen einig und geschlossen hinter ihren Priestern. Sie waren durch die Sonntagsmesse, Andachten, Prozessionen, Volksmissionen miteinander vertraut und verbunden. Sie schlossen sich Vereinen und Organisationen an, in denen sie Heimat fanden: Vinzenzverein, Elisabethverein, Kolpingsverband. Katholische Christen heirateten katholische Christen. Die Katholiken des 19. Jahrhunderts waren auch politisch geeint. Sie gaben ihre Stimme bei Wahlen der katholischen Zentrumspartei, und diese Partei war die einzige, die für die Katholiken eintrat und die katholische Prinzipien in der Gesellschaft umgesetzt wissen wollte. Die Katholiken der damaligen Zeit lasen eine der Hunderten katholischer Zeitungen – tatsächlich, es gab damals Hunderte katholischer Zeitungen in Deutschland. In ihrer Verbundenheit und in ihrer Zusammenarbeit stützten und trugen sie sich gegenseitig. Zum katholischen Milieu gehörte auch die Kinderfreudigkeit. Wenn Sie einmal die Lebensbeschreibungen von Priestern aus der damaligen Zeit lesen, da finden Sie: Ich war das achte Kind meiner Eltern; ich war das zehnte Kind meiner Eltern; ich war das dreizehnte Kind meiner Eltern. Das ist die Regel gewesen. Aus den kinderreichen Familien spross der Nachwuchs an Priestern und an Ordensleuten. Es gab keinen Priestermangel mehr; die Zahl der Ordensfrauen erreichte einen Höhepunkt. Katholische Kindergärten, katholische Schulen, katholische Krankenhäuser sprossen aus der Erde.

Die Zeiten haben sich geändert, aber die Aufgabe ist geblieben, nämlich katholisches Milieu zu schaffen, in dem der Einzelne beheimatet, geborgen und aufgehoben ist. Die Mittel sind die gleichen wie im 19. Jahrhundert. Das grundlegende Band ist der gemeinsam praktizierte katholische Glauben. Der gemeinsame Kirchgang verbindet, schafft Milieu; man kennt sich und bekennt sich als katholischer Christ. Auch heute sind Vereinigungen, ich meine, ein unentbehrliches Mittel katholischer Sozialisation: die Malteser, der Kirchenchor, die Kolpingsfamilie. Dadurch werden die Menschen miteinander vernetzt. Es kommt zum Gespräch, es kommt zum gegenseitigen Halten. Ein ganz wichtiges Element zur Schaffung eines katholischen Milieus ist die katholische Schule. Der katholische Volksteil hat im 19. und 20. Jahrhundert gegen erbitterten Widerstand, mit äußerster Anstrengung und Zähigkeit für die öffentliche katholische Schule gekämpft. In der Verfassung der Weimarer Republik hat die katholische Zentrumspartei die Erhaltung und Neugründung katholischer Schulen, Bekenntnisschulen, Konfessionsschulen durchgesetzt. Damals haben die Katholiken gesagt: Für diese Schule kündigen wir jede Freundschaft. Für diese Schule schlagen wir jede Schlacht. Die Gemeinsamkeit der Schüler und Lehrer im Glauben, die Ausrichtung auf die katholische Wahrheit im Unterricht, die geübte religiöse Praxis auch in der Schule haben die Kinder verbunden, in den Glauben eingeführt, mit der Kirche vereinigt. Ich selber habe noch bis 1937 eine katholische Bekenntnisschule besucht. Und ich habe die Erfahrung gemacht: Kinder aus abständigen Familien haben erst in der Schule und durch die Schule ihr katholisches Bekenntnis kennen- und praktizieren gelernt. Die öffentliche katholische Schule gehört der Vergangenheit an. In Rheinland-Pfalz wurden sie beerdigt unter Herrn Kohl. Der Einzige, der damals dagegen stimmte – der Einzige! – war der langjährige katholische Ministerpräsident Altmeier. Wir haben heute überall simultane Schulen. Die Simultanität lässt das Katholische nicht zur Auswirkung kommen. Bei aller gesuchten Gemeinsamkeit bleibt der katholische Glaube auf der Strecke, weil er eben anspruchsvoller ist als eine andere Religion. Die religiöse Verwaschenheit und Gleichgültigkeit gegen die katholische Konfession ist die Folge der Simultanschule. Die Franzosen unterhalten mit größten Opfern kirchliche katholische Schulen. Sie wissen warum, denn die Staatsschule in Frankreich ist von der Französischen Revolution geprägt.

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Bildung eines katholischen Milieus ist die Presse. Die katholische Presse berichtet und kommentiert aus katholischer Warte. Sie macht aufmerksam auf religiöse und kirchliche Ereignisse, gibt Belehrung vor Festen und Feiertagen. Es gibt in Deutschland keine katholische Presse mehr. Die einzige „Tagespost“ fristet ein kümmerliches Dasein; der „Spiegel“ verspottet sie als „Katholikenblättchen“. Das Fehlen einer verbreiteten katholischen Presse kann überhaupt nicht überschätzt werden. Von der nichtkatholischen Presse geht die Verbildung der Menschen aus. Sie schafft auch Milieu, aber ein nichtkatholisches. Sie verwischt oder bekämpft jedes katholische Profil, treibt ihre Leser in den Morast von Anschauungen areligiöser und unsittlicher Art. Meine lieben Freunde, ich habe vor mir die letzte Nummer der „Allgemeinen Zeitung“ von Mainz. Das Blatt ist weit verbreitet in Rheinland-Pfalz, in Hessen. Auf dem der ersten Seite wird die Perversion im Geschlechtlichen vorgestellt: „Leben mit zwei Geschlechtern“ – im Inneren noch eine ganze Reihe davon. „Am Sonntag“, so heißt es, „ist der internationale Tag gegen Homophobie und Transphobie. Transidente Menschen – also die halb Mann, halb Frau sind – beschreiben, wie sie ihr körperliches Geschlecht an ihr seelisches angeglichen haben.“ Das ist die Frucht dieser Presse, meine lieben Freunde, wir haben sie soeben erlebt: Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken – angeblich eine Vertretung des katholischen Volkes – fordert die Einsegnung von homosexuellen Partnerschaften. Jetzt musste einmal sogar der Bischof Marx von München dagegen Stellung nehmen.

„Dienet einander, jeder mit der Gnadengabe, die er empfangen hat, als gute Austeiler der mannigfachen Gnade Gottes“, so fährt Petrus in seinem 1. Brief fort, „dienet einander“. Einander dienen, jeder mit seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten, das müsste immer wieder den Menschen eingeprägt werden. Die Kirche ist nicht nur die Sache der Priester. Nein, wir alle gehören zur Kirche, tragen unseren Teil bei zum guten Gedeihen oder auch Dahinsiechen der Kirche. Das Dienen beginnt mit schlichten Dingen; man sollte sie nicht gering schätzen: den Schlüssel zur Wohnung eines anderen verwahren, der in Arbeit ist; die Post aus dem Briefkasten holen, wenn einer verreist ist; einkaufen gehen für den, der nicht mehr laufen kann oder bettlägerig ist. Das Dienen hat also mannigfache Gesichter im Alltag, bei Krankheit und in Not. Auch den geistigen Bedürfnissen des anderen dienen: ihn aufmerksam machen auf gute Lektüre, Zeit sich nehmen zu Gespräch, weitergeben von Zeitungen und Zeitschriften. Das Dienen setzt sich fort im Gebet füreinander. Durch das Gebet, meine lieben Freunde, können wir einander unsichtbare Wohltäter werden. Es ist ein erschreckender Gedanke, dass Menschen verloren gehen könnten, weil für sie nicht oder nicht genug gebetet wurde. Die Gemeinde ist der Raum, in den wir als Christ hineingestellt sind. Die Gemeinde ist das Feld, auf dem wir uns bewähren müssen. In der Gemeinde begegnen wir der Kirche. In der Gemeinde gestalten wir zu unserem Teil auch die Kirche. Die Gemeinde ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Ich bekenne offen, dass Sie, meine lieben Freunde, mich im Glauben oft gestärkt haben und bis heute stärken, dass ich dankbar bin für Ihr Zeugnis, dass Sie mich erbauen und beschämen mit Ihrer Frömmigkeit. Das musste einmal gesagt werden. Vielleicht vermag die Lesung dieses Sonntags den Blick zu schärfen für unsere Aufgabe, um neue Liebe zur Kirche zu wecken. Damit in allen Dingen Gott verherrlicht werde durch Jesus Christus, unseren Herrn.

  Amen.

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