Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
6. April 2014

Das siebente Kreuzeswort

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In der letzten Stunde seines Lebens wandte sich unser Heiland noch einmal an den himmlischen Vater: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.“ Es ist das letzte, das siebente Kreuzeswort. Es stammt aus dem Psalm 30 und war das Gebet des jüdischen Volkes. Der Unglaube verwirft auch dieses Wort. Der evangelische Theologe Bertram schreibt, das Wort sei eine „legendarische Ausschmückung nach dem bekannten Motiv der letzten Worte“. Und der evangelische Theologe Bultmann sagt, das Wort sei ein „Ersatz für den anstößigen Eli-Ruf“. Der Beweis für diese Behauptungen fehlt. Die Anrede „Vater“ ist eine Parallele zum ersten Kreuzeswort und ein Ausdruck der kindlichen Liebe zum himmlischen Vater. Beim ersten Kreuzeswort stand diese Anrede als Einleitung zur liebevollen Verzeihungsbitte, hier steht sie als Einleitung zur liebevollen Übergabe der Seele Christi in die Obhut des Vaters. Mit der Liebesanrede spricht Jesus nochmals die Wahrheit seiner Gottessohnschaft, seines Gehorsams und seiner liebevollen Verbundenheit mit dem Vater aus. Sie zeigt, dass Jesus sich auch im Sterben als den vielgeliebten Sohn des Vaters weiß. Sein Vertrauen zum Vater ist auch im bitteren Tode nicht zusammengebrochen; es ist ungetrübt und unerschüttert. Die Anrede ist ein unumstößlicher Beweis, dass das Sterben Jesu in der Liebe des Vaters erfolgt, ohne Verbitterung und ohne Enttäuschung. In seinem ganzen Leben war ja Christus mit dem himmlischen Vater verbunden. Immer hat er getan, was der Vater ihm aufgetragen hat. „Es ist meine Speise, das zu tun, was der Vater mir anschafft.“ Alle Zeit hat er nur geredet, was er den Vater hat reden hören. Der Vater hat ihm ein überaus schweres Leben zugemutet, aber das Zutrauen zum Vater ist deswegen nicht zusammengebrochen. Jesus nimmt am Kreuze nichts zurück von dem, was er einst im Gespräch dem Nikodemus gesagt hatte: „Der Vater liebt den Sohn und hat alles in seine Hand gelegt.“

Die Liebesanrede lässt einen Liebesakt erwarten. Dieser Liebesakt besteht in der Übergabe des Geistes oder der Seele an den Vater. Der Ausspruch erinnert an das Wort Jesu, dass ihm alles vom Vater übergeben sei; jetzt erfolgt die Rückgabe. Jesus übergibt die Geistseele in die Hände des Vaters. Sie sind geöffnet, um die Seele des Sohnes entgegenzunehmen. Jesus weiß: In den Händen des Vaters ist seine Seele geborgen, dort kann ihr niemand schaden. Die Rede von den „Händen Gottes“ ist selbstverständlich eine anthropomorphe Redeweise, also man spricht von etwas, was bei den Menschen gilt, nur in übertragenem Sinne von Gott. Wir haben ja keine anderen Begriffe als die aus unserer Umgebung, aus unserem Leben. Wir können nicht mit anderen Begriffen das radikale Anderssein Gottes ausdrücken, als indem wir menschliche Begriffe auf ihn anwenden. Die „Hände Gottes“ sind der Ausdruck der Macht Gottes. Der Gegenstand der vertrauensvollen Übergabe ist der Lebensgeist oder die Seele, die von Gott dem Menschen eingehaucht worden ist als Lebenskraft, der Lebensträger, die „forma corporis“, die substantielle Form des Leibes, der innere substantielle Lebensgrund des Menschen. Der Beweis, dass unter „Geist“ die menschliche Seele Christi gemeint ist, liegt in dem Ausspruch Christi: „Der Vater liebt mich, weil ich meine Seele (psychē – griechisch), weil ich meine Seele hingebe, um sie wieder zu gewinnen.“ Das siebente Kreuzeswort ist die Einlösung dieser Ankündigung. Die Gründe für die Übergabe der Seele in die Macht, in die Allmacht Gottes, sind zwei. Erstens: Die Seele ist ja ein Werk Gottes. Und deswegen gehört sie Gott. Sie ist dem Schöpfer zugewiesen. Der Mensch ist Treuhänder. Die Seele ist dem Menschen als kostbares Pfand anvertraut, er soll damit sorgfältig und verantwortungsbewusst umgehen. Zweitens: In der Allmacht Gottes ist die Seele in sicherer Hut. Niemand kann ihr schaden, niemand kann sie Gott entreißen. Wer seine Seele in Gottes Hände übergibt, der weiß sie gerettet und geborgen. Das heißt, anders ausgedrückt: Mit der Übergabe der Seele an den Vater ist deren Unsterblichkeit ausgedrückt. Der sterbende Herr weiß: Im Tode werden Leib und Seele getrennt. Der Leib wird in das Grab gelegt, die Seele aber geht zu Gott. Der Mensch stürzt nicht in einen Abgrund, er wird auch nicht ausgelöscht. Das Lebendigste, Geistige, Herrscherliche im Menschen, die Seele, lebt fort.

Das Wort „Ich empfehle“ ist ein typischer Rechtsausdruck. Er ist nämlich genommen von den Pfandgeschäften. „Empfehlen“ heißt in der Rechtssprache: in Verwahrung geben – Geld oder eine Sache in Verwahrung geben. Und der Verwahrer hat die Pflicht, das anvertraute Gut aufzubewahren und zurückzugeben. Im jüdischen Abendgebet – und das war ja diese Formel, in die Hände Gottes sich zu empfehlen –, im jüdischen Abendgebet wird der Geist für die Zeit des Schlafens in Gottes Hand gelegt. Bei Jesus ist der Psalmenvers das Sterbegebet nach einem grausamen Leiden und nach furchtbaren Qualen. Jesus spricht dieses Wort vor der wirklichen Trennung der Seele vom Leibe, er übergibt sie in die Hände des Vaters. Dieses Wort ist einzigartig und einsam. Der sterbende Christus, mit seinem letzten Kreuzeswort, hat keine Parallele in der Religionsgeschichte. Jesus vertraut dem Vater sein kostbarstes Gut an, damit es im Paradiese wohl verwahrt sei und er es wiedererhalte, wenn Gott ihn wieder in die Welt einführt.

Anfang und Ende des öffentlichen Wirkens des Herrn zeigen dieselbe grundlegende Haltung der Liebe. Auf dem Berge der Versuchung und auf dem Kalvarienberg versuchten die Teufel und böse Menschen, ihn zu verleiten. Alle Herrlichkeit der Erde überblickend, sprach der Teufel prahlend: „Alle diese Königreiche gehören dir.“ Und er bot sie dem Herrn an, wenn er vor ihm niederfallen würde. Jesus hätte die Welt haben können, wenn er den Himmel aufgegeben hätte. Auf dem anderen Berge sind es Menschen, die rufen: „Steige herab, und wir wollen an dich glauben.“ Steige herab von deinem Glauben an den himmlischen Vater, steige herab von dem Bewusstsein deines göttlichen Wesens, und dann wollen wir glauben. Jesus hätte Anhänger finden können, wenn er das Kreuz aufgegeben hätte. Aber ohne das Kreuz wäre er nicht der Erlöser geworden. Wie er vor dem Teufel nicht niedergefallen ist, so stieg er auch nicht vom Kreuze herab. Denn göttliche Liebe muss vollkommen sein. Er zog die Ergebung in den Willen des Vaters dem Reichtum und dem körperlichen Wohlergehen vor, „denn größere Liebe hat kein Mensch, als dass er sein Leben hingibt für seine Freunde.“ Und er hat seine Liebe nicht nur mit Worten dargetan, er hat sie durch die Tat bewiesen. Er konnte deswegen auch die Frucht seiner vollkommenen Liebe empfangen: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.“

Andere Menschen flüstern ihre letzten Worte; Jesus sprach sie mit lauter Stimme. Das ist ein Zeichen der freiwilligen Hingabe des Lebens bei vollem Bewusstsein. Niemand nimmt mein Leben, sondern ich gebe es freiwillig hin. Der Tod kam nicht über ihn, er ging in den Tod. Niemand nahm ihm das Leben, er legte es selbst ab. Er war stark genug zu leben, aber er starb durch einen Akt seines Willens. Diese Übergabe der Seele in die Hände des Vaters ist der Vollzug der Erlösung der Menschen. Denn freiwillige Übergabe ist Lebensopfer, da die Seele Lebensträger ist. Das Lebensopfer Christi ist sein Todesopfer. So ist das letzte Kreuzeswort, mit der Übergabe der Seele an den Vater, die Vollendung des Lebens- und Todesopfer Jesu, das letzte heilsmittlerische Handeln, das Opfer des göttlichen Hohenpriesters, Jesu Sühn- und Erlösungsopfer zur Heiligung des Menschen. Das Friedopfer ist vollbracht. Nun kann der Opferer und Geopferte in den Frieden der Ewigkeit zum Vater eingehen. Auf dieses siebente Kreuzeswort folgt der Tod. „Nach diesen Worten“, schreibt der Evangelist Lukas, „gab Jesus seinen Geist auf.“ Es ist das Sterbewort. Der Tod erfolgte um die neunte Stunde – das ist etwa um 15 Uhr nach unserer Zeitrechnung. Um diese Stunde stauen sich vier Kreuzesworte: Das vierte Wort als Eli-Ruf, das fünfte als Durstruf, das sechste als Vollendungsruf und das siebente als Empfehlungsruf. Diese Worte sind vermutlich nur in geringen Zeitabständen gesprochen worden.

Unter jenen, die sich um das Kreuz sammelten, war ein Centurio. Ein Centurio war er ein Offizier der römischen Armee, etwa im Range eines Hauptmanns. Centurio hieß er, weil er hundert Mann unter sich hatte. Er war vermutlich mit dem Tod oft in Berührung gekommen. Bei dieser Gelegenheit hatte er den Herrn ans Kreuz genagelt, sich hingesetzt und gewürfelt und zugeschaut, wie er starb. Aber es schien ihm, dass etwas Besonderes an dem in der Mitte der drei Gekreuzigten war. Oft musste man Gekreuzigten die Zunge ausschneiden, damit sie nicht Gott lästerten. Dieser Gekreuzigte war einer, der denen vergab, die ihn in den Tod schickten. Dann bemerkte der Soldat auch, wie dieser Gekreuzigte immer stärker wurde, je näher das Ende kam. Es war, als näherte sich nicht der Tod ihm, sondern als ginge er auf den Tod zu. Er starb nicht am Kreuze wie andere Menschen im Bett sterben. In der Todesstunde sprach er mit lauter, starker Stimme. Nicht, als nähmen ihm die Menschen das Leben, sondern als gäbe er es selber: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.“ Das waren nicht Worte des Todes, sondern des Lebens. Das gab dem Centurio zu denken: Sind wir nur Tiere, die essen und schlafen und sich dann hinlegen und sterben und verfaulen? Oder gibt es etwas nach dem Tode, einen Gott, in dessen Hände wir Rechenschaft legen müssen? Er schüttelte womöglich den Gedanken für einen Augenblick ab, aber er erwachte von neuem, als die Erde bebte und der Himmel sich verfinsterte und Tote aus den Gräbern aufstanden. Er dachte weiter nach über Tod und Leben, dieser Centurio, als er den beiden Schächern die Gebeine zerbrach, aber zu Jesus kam und ihn schon tot fand. Er stieß die Lanze in die Seite und Blut und Wasser strömten heraus. Die Legende will wissen, dass er durch diese Tropfen von einer Krankheit geheilt wurde. In jedem Falle wurde er geheilt von seinem Unglauben, denn er sprach: „Wahrhaftig, dieser Mann war Gottes Sohn.“

Das Sterbewort Jesu, meine lieben Freunde, ist das Vorbild für unser Sterben. Sterben ist immer opfern. Unser Sterben soll unser letztes Opfer, unser letzter Opfergottesdienst sein. Wer dem Gekreuzigten dessen Sterbegebet nachspricht, der gibt Gott auch noch im Sterben die Ehre. „Selig die Toten, die im Herrn sterben, denn ihre Werke folgen ihnen nach.“ Seitdem Christus so gestorben ist, sind viele mit dem gleichen Wort in den Tod gegangen. Der Diakon Stephanus, der erste Blutzeuge der jungen Kirche, wurde mit Steinen zu Tode gebracht. Als er blutüberströmt zusammensank, betete er: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ Er wandte sich also nicht wie Jesus an den himmlischen Vater, sondern an dessen eingeborenen Sohn. Er rief ihn an als den Kyrios, als den Herrn: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ Als die schottische Königin Maria Stuart zur Hinrichtung geführt wurde, sprach sie die sicher überlieferten Worte: „Mein Glaube ist der alte katholische Glaube. Für ihn gebe ich mein Leben hin. Auf dich, Herr, vertraue ich. In deine Hände empfehle ich meinen Geist.“ Als der frühere Erzbischof von Köln, Kardinal Joseph Höffner, erfuhr, dass er einen inoperablen Tumor im Kopf habe, erklärte er: „Ich empfehle mich in Gottes Hände, und das sind gütige Hände.“ In heiliger Ehrfurcht legt die Kirche im Rituale das siebente Kreuzeswort als Sterbegebet in den Mund aller Sterbenden. Und wir Priester beten in unserem Abendgebet jeden Abend: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Die Kirche empfiehlt dieses Gebet als Schlussgebet des Tages auch anderen Gläubigen. Sie erinnert daran, die Aufgaben des Tages im Gehorsam gegen Gott zu verrichten, und den Tag in Gott enden zu lassen, sowie sich auf den Tod vorzubereiten. Damit ist dem gut vorbereiteten Gläubigen der Schrecken genommen. Der Tod erscheint als Tor der Heimkehr zum himmlischen Vater. Mein akademischer Lehrer, Klaus Mörsdorf in München, sagte einmal zu mir: „Sterben ist nicht schwer; man muss nur vorbereitet sein.“ Wer gottergeben gelebt hat, der vermag auch gottergeben zu sterben. Wer im Leben mit dem seligen Berliner Martyrer Bernhard Lichtenberg gesprochen hat: „Wie Gott will, ich halte still!“, der ist auch imstande, in der Todesstunde zu sprechen: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt