Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
30. März 2014

Das sechste Kreuzeswort

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns vorgenommen, in dieser Bußzeit die sieben letzten Worte unseres Heilandes am Kreuze zu betrachten. Der Evangelist Matthäus berichtet: „Nachdem Jesus den Essigtrank genossen hatte, rief er noch einmal mit lauter Stimme und gab seinen Geist auf.“ Der Evangelist Johannes berichtet, was Jesus gerufen hat, nämlich das sechste Wort am Kreuze: „Es ist vollbracht!“ oder: Es ist erfüllt. Das laute Schreien des Herrn passt gut auf das sechste Kreuzeswort, denn dieses ist seinem Inhalt nach ein Wort des Sieges und des Triumphes: „Es ist vollbracht!“ Der Unglaube spricht auch dieses Wort dem Heiland ab. Der evangelische Theologe Hirsch sagt, Johannes habe den namenlosen Todesschrei des Herrn gedeutet und zurechtgelegt. Der evangelische Theologe Bultmann sagt, es liege hier eine Mysterienformel aus gnostischer Tradition vor. Die Zweifel an der Geschichtlichkeit des Wortes sind unbegründet.

Was bedeutet das Wort „Es ist vollbracht!“? Es ist die Feststellung, dass das aufgetragene Werk vollendet ist. Zweierlei ist vollendet: Einmal die Ausführung des Willens des Vaters. Alle göttlichen Forderungen von der Menschwerdung bis zum Kreuzestod sind im Gehorsam des Sohnes Gottes vollendet. Vollendet ist aber auch die Erfüllung der messianischen Weissagungen. Das Leben Jesu war ja in Lehre und Wirken, im Kämpfen und im Leiden Erfüllung der Schrift. „Alles muss erfüllt werden“, sagt der Herr nach der Auferstehung, „was das Gesetz des Moses, was die Propheten und was die Psalmen über mich geschrieben haben.“ Jetzt sagt er es schon am Kreuze. Diese Bestimmung liegt auf der Linie der dritten Leidensweissagung des Herrn: „Wir ziehen jetzt hinauf nach Jerusalem. Dort wird alles vollendet werden, was die Propheten über den Menschensohn geschrieben haben.“ Danach endet das Lebenswerk Jesu im Leidenswerk. Jetzt ist die letzte Stunde seines Lebens; jetzt kann er sprechen: „Es ist vollbracht!“ Das Lebenswerk, auf das er zurückschaut, die Arbeit, die er verrichtet hat, ist zu Ende. „Ich habe dich auf Erden verherrlicht, indem ich das Werk vollendete, das du mir zu tun gegeben hast.“ Er war nach dem Gesetz angetreten, das er in Worte fasste: „Ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.“ Und wie hat er den Willen des Vaters gesucht?

Erstens: Indem er das redete, was der Vater ihm aufgetragen hat: „Der mich gesandt hat, ist wahr. Und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zur Welt.“ „Ich rede so, wie mich der Vater gelehrt hat. Der mich gesandt hat, ist mit mir.“ „Nicht aus mir selbst habe ich verkündigt, sondern der Vater, der mich gesandt hat, er selbst hat mir den Auftrag gegeben, was ich verkündigen soll.“ „Was ich also rede, rede ich so, wie der Vater mir gesagt hat.“ Jesu Verkündigung ist die Offenbarung Gottes. In ihr teilt der himmlische Vater den Menschen die Wahrheiten des Heiles mit. Zu allererst über Gott. Jesus bezeugt es: „Ich habe den Menschen deinen Namen geoffenbart.“ Seitdem wird der Name des wahren Gottes nie mehr den Menschen unbekannt sein. Es wird keine Zeit mehr kommen, wo sie nicht vom Vater Jesu Christi hören und wissen werden. Er hat den Menschen die Wahrheiten Gottes vorgetragen, auch wenn sie unbequem sind. „Jeder, der seine Frau entlässt und eine andere heiratet, bricht die Ehe. Und wer eine vom Mann Entlassene heiratet, bricht die Ehe.“ Die Menschen haben den göttlichen Ursprung der Worte Jesu gespürt. Als er einmal seine Rede vollendet hatte, da waren die Scharen außer sich über seine Lehre, denn er lehrte wie einer, der Macht hat und nicht wie ihre Schriftgelehrten. Die Hohenpriester sandten Späher aus, um Jesus zu beobachten. Als sie zurückkehrten, sagten sie den Auftraggebern: „Noch nie hat ein Mensch so gesprochen, wie dieser Mensch spricht.“ Die Leute wollten ihn festhalten, weil sie so entzückt und ergriffen waren von seinen Reden. Aber er musste weiterziehen, denn der Auftrag des Vaters trieb ihn: „Auch anderen Städten muss ich das Evangelium verkündigen, denn dazu bin ich gesandt.“

Vollbracht ist zweitens auch das Werk Jesu, sein Handeln. In der Stunde des Abschieds von den Jüngern konnte er sagen: „Ich habe dich verherrlicht, Vater, indem ich das Werk vollbrachte, dass zu vollbringen du mir aufgetragen hast.“ Dieses Werk war mehrschichtig. Eine gewichtige Seite des Werkes Jesu war der Kampf mit dem Satan. Johannes, der ja Jesus besonders nahe stand und ihn besser kannte als seine Gefährten, Johannes schreibt in seinem ersten Brief: „Dazu ist der Sohn Gottes erschienen, dass er die Bollwerke des Satans zerstöre.“ Genau das hat Jesus getan. Er hat die Bollwerke des Satans zerstört. Satan ist nie allein, er hat seine Gefolgsleute: die bösen Geister, die Dämonen, und die müssen zur Zeit Jesu besonders aktiv gewesen sein. Jesus nahm den Kampf mit ihnen auf. Als er einmal im Hause des Petrus übernachtete, brachten die Leute am Abend viele Besessene zu ihm. Er trieb die Geister aus mit einem Wort. Die Leute kamen aus dem Staunen nicht heraus: „Was ist das? Er gebietet mit Macht und Kraft den unreinen Geistern, und sie fahren aus.“ Dieses Werk der Säuberung hat eschatologischen Charakter, d.h. es deutet an, dass die letzte Zeit angebrochen ist. „Wenn ich durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“ Das Reich Gottes ist eine zukünftige Größe, aber es bricht schon an im Wirken Jesu. Die Herrschaft Satans weicht der Macht Gottes. Jesus hat zur Beschleunigung seines Werkes 72 Jünger ausgesandt. Und als sie von ihrem Wirken zurückkamen, da sprachen sie voll Freude: „Herr, die Dämonen sind uns untertan in deinem Namen.“ Und da jubelte Jesus: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.“ Als Jesus am Kreuze hängt, ist das Werk des Kampfes gegen den Satan vollendet. Besiegt ist die Macht der Dämonen, besiegt auch die Macht der feindseligen Menschen über Jesus.

Zu dem messianischen Werk Jesu gehört auch die Überwindung der Krankheiten. So hat es ja der Prophet Isaias angekündigt: „Wenn der Messias kommt, dann werden sich öffnen die Augen der Blinden, sich auftun die Ohren der Tauben. Wie der Hirsch wird der Lahme springen, die Zunge des Stummen wird jauchzen.“ Das alles ist in Jesu Wirken in Erfüllung gegangen. Er hat die Kranken geheilt – nicht einen, sondern viele, nicht nur psychosomatische Krankheiten, sondern auch physische Krankheiten, nicht nur bei leiblicher Gegenwart der Kranken, sondern auch aus der Ferne. Seine Heilkraft versagte nie. Und so strömten ihm die Menschen zu. „Sie kamen zu ihm von allen Seiten“, schreibt der Evangelist Markus. „Alles Volk suchte ihn anzurühren, denn eine Kraft ging von ihm aus, und heilte alle“, schreibt Lukas, der Arzt. Ein Aussätziger kam zu ihm, fiel auf die Knie und bat ihn: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen.“ Jesus streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sprach: „Ich will: Sei rein!“ Da wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. Der Blinde von Jericho hörte, dass Jesus vorbeiging. Er schrie mit lauter Stimme: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Jesus fragte ihn: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ „Herr, dass ich sehe.“ Jesus sprach zu ihm: „Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.“ Auf der Stelle wurde er gesund und folgte ihm nach. Als der Herr einen Taubstummen heilte, da waren die Anwesenden ganz außer sich, denn so etwas hatten sie noch nie erlebt, und sie sagten: „ Er hat alles gut gemacht: Die Tauben macht er hören und die Stummen reden.“ Jetzt am Kreuze ist sein Heilungswerk beendet. Es ist abgeschlossen, und deswegen kann er sagen: „Es ist vollbracht!“

Drittens war Jesus aufgetragen, das neue Gottesvolk zu sammeln. Er war ja der Messias, und der Messias muss notwendig der Schöpfer eines neuen Volkes sein – des messianischen Volkes. Und so hat Jesus Menschen in seine Nachfolge gerufen und um sich geschart. Er hat das neue Gottesvolk um sich versammelt. Er begann mit einzelnen Berufungen. Er berief den Jakobus und dessen Bruder Johannes; er berief den Petrus und dessen Bruder Andreas; ja, er berief sogar den Zolleinnehmer Levi, den Matthäus. Den Petrus klärte er gleich auf, wozu er berufen ist: „Von nun an wirst du Menschenfischer sein.“ Andere fanden von sich aus zu ihm und schlossen sich ihm an. Jesus machte sie auf die Konsequenzen ihres Entschlusses aufmerksam: „Wer zu mir kommt und sich nicht von seinen Angehörigen trennen kann, der kann mein Jünger nicht sein.“ Einer sprach zu ihm: „Herr, ich will dir folgen, aber lass mich zuvor von meinen Angehörigen Abschied nehmen.“ Jesus sprach zu ihm: „Niemand, der seine Hand an den Pflug legt und zurückschaut auf das, was hinter ihm liegt, ist tauglich für das Reich Gottes.“ In dem neuen Gottesvolk hat Jesus besondere Beauftragte geschaffen. Dazu ging er auf einen Berg und betete, betete die ganze Nacht. Als er herunterkam und es Tag wurde, da rief er seine Jünger zu sich und erwählte aus ihnen zwölf, die er Apostel nannte. Die sollten seine Begleiter und seine Sendboten sein, um zu predigen und die Vollmacht zu haben, Dämonen auszutreiben. Warum zwölf? Das alte Gottesvolk Israel bestand aus zwölf Stämmen. Wenn jetzt das neue Gottesvolk geschaffen wird, sollte es symbolisch wieder aus zwölf Stämmen bestehen, und die zwölf Stammväter waren die Apostel – deswegen zwölf. Die von Jesus ausgewählten Mitarbeiter wurden von ihm mit Sendung und Vollmacht ausgestattet.

Jesus hat wiederholt in seinem Leben von „der Stunde“ gesprochen. Er verstand darunter den Zeitpunkt, den der himmlische Vater für sein Tun und sein Leiden bestimmt hat. Bei der Hochzeit zu Kana ging der Wein aus, und die Mutter Maria machte Jesus darauf aufmerksam. Der Herr wies sie ab: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Er muss warten auf den Stundenschlag des Vaters. Jesus hat dieses Wort vor allem gebraucht für die Stunde seines Leidens. Das war seine letzte, aber auch seine gewichtigste Stunde. Jesus lebte gefährlich. Die Schriftgelehrten und Pharisäer setzten ihm scharf zu, horchten ihn aus, lauerten, um etwas aufzufangen, womit sie ihn anzeigen könnten. Sie sanden Spione aus, die sich als Gerechte ausgeben sollten, um ihn zu fangen in einem Worte. Jesus wusste um seine Gefährdung. Aber es war ihm auch klar: Solange es der Vater nicht will, kann ihm nichts passieren. Einmal hoben seine Feinde im Tempel Steine auf, um sie auf ihn zu werfen. Aber er ging hinweg, „denn“, so sagt der Evangelist, „seine Stunde war noch nicht gekommen“. Wiederholt setzten die Feinde an, ihn festzunehmen. Nicht erst auf dem Ölberg, schon vorher wollten sie ihn verhaften, in den letzten Wochen seines irdischen Lebens, aber niemand legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen. In Nazareth predigte er in der Synagoge, und er legte den Zuhörern den Propheten Isaias aus und zeigte ihnen, dass die Schrift in ihm erfüllt ist. Gleichzeitig hielt er ihnen ihre Unbußfertigkeit vor. Da ergrimmten sie gegen ihn und stießen ihn zu der Stadt hinaus und wollten ihn in einen Abgrund hinabstürzen. Aber er schritt durch sie hindurch, denn seine Stunde war noch nicht gekommen. Eines Tages traten zum Herrn einige Pharisäer, die ihm wohlgesinnt waren, und warnten ihn: „Geh weg, entferne dich von hier, denn Herodes, der König Herodes Antipas, will dich töten.“ Jesus sagte seelenruhig: „Geht hin und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen heute und morgen, und erst am dritten Tage werde ich vollendet.“ Aber dann kam die Stunde. Dann kam die Stunde, die der Vater in seiner Weisheit und in seiner Macht vorgesehen hatte. Im Abendmahlsaal sagte Jesus zu seinen Jüngern: „Was mir bestimmt ist, geht in Erfüllung. Die Stunde ist gekommen.“ Das Wirken des ersten Wunders war der Anfang der Stunde. Sein sechstes Wort am Kreuze war das Ende der Stunde. Die Passion war vollbracht. Das Wasser in Wein, der Wein in Blut verwandelt. Es ist vollendet, das Werk ist getan. Das bedeutet nicht: Gott sei Dank, es ist vorbei, nein, es ist vollendet. Die Schuld ist bezahlt, das Werk ist beendet. Einmal erklärte er den Jüngern: „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen, und wie drängt es mich, dass es schon entflammt wäre. Mit einer Taufe muss ich getauft werden, und wie bedrängt es mich, bis sie vollbracht ist.“ Jetzt ist sie vollbracht. Jetzt ist die Bluttaufe, der er zeitlebens entgegenging, vollzogen. Jetzt ist die Verheißung erfüllt: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für die vielen.“ Jetzt ist der Lösepreis bezahlt. Jetzt ist das Erlösungs- und Sühnewerk vollendet. Jetzt ist der Schuldschein gelöscht. Jetzt ist der himmlische Vater verherrlicht. Bald wird der bekehrte Paulus an die Gemeinde in Rom schreiben: „Gott erweist seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns starb, als wir noch Sünder waren. Als Feinde wurden wir mit Gott versöhnt durch den Tod seines Sohnes.“ Und an die Gemeinde in Philippi wird er schreiben: „Er war gehorsam bis zum Tode, ja, bis zum Tode am Kreuze.“ Das Opfer ist vollbracht. Einer der Soldaten stieß mit einer Lanze in die Seite des Herrn, und sogleich kam Blut und Wasser heraus. Es war nichts mehr drin. Alles war ausgegeben bis zum letzten Tropfen.

 „Es ist vollbracht!“, so lautet, meine lieben Freunde, das sechste Wort Jesu am Kreuze. Ob wir ihm dieses Wort nachsprechen können? Werden wir das Werk vollbracht haben, das der himmlische Vater uns aufgetragen hat? Jesus sagte seinen Jüngern in der Abschiedsstunde: „Dadurch wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viele Frucht bringt.“ Werden wir die Frucht gebracht haben? Jesus forderte seine Anhänger auf, Licht der Welt zu sein, ihr Licht vor den Menschen leuchten zu lassen, damit sie die guten Werke sehen und den himmlischen Vater preisen. Werden wir, wenn es mit uns zu Ende geht, Licht gewesen sein? Jesus erklärte klipp und klar: „Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert.“ Werden wir in die Kreuzesnachfolge eingetreten sein? Oder sind wir vor Werken, die Gott von uns forderte, geflohen? Haben wir Ausreden gebraucht, um nicht Hand anlegen zu müssen? Haben wir uns in Nischen zurückgezogen, wo wir Ruhe hatten und nicht zu kämpfen brauchten? Albert Einstein, der große Physiker, sagte zum Abschied seiner Stieftochter: „Ich habe meine Sache hier getan.“ Franz von Assisi betete in seiner letzten Stunde den Psalm: „Führe meine Seele aus dem Kerker, damit ich deinen Namen preise.“ Der große Arzt Hahnemann sprach in einer letzten Stunde: „ Gott schuldet mir nichts. Ich schulde ihm alles.“ Kaiser Karl V. sprach, als er starb: „Das ist die Stunde. Ich komme, Herr, hier bin ich.“ Und Mutter Teresa starb mit den Worten: „Jesus, ich liebe dich.“ „Es ist vollbracht!“ Wenn wir fragen: Werden wir in unserer Todesstunde Jesus das Wort nachsprechen können? So lautet die Antwort: Wir werden es können, wenn wir seinem Leben in unserem Leben nachgelebt haben. In Gott hinein sterben ist ebenso leicht oder schwer, wie in Gott hinein leben. Wenn wir den Mut haben, in Gott hinein zu leben, werden wir auch die Kraft finden, in Gott hinein zu sterben.

Amen.

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