Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
25. März 2012

Das Leiden unseres Herrn Jesus Christus

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das christliche Volk hat sich stets in das Leiden des Herrn versenkt. Aus der mitleidigen Verehrung des leidenden Heilands sind Gebete wie der schmerzhafte Rosenkranz und Lieder wie „O Haupt, voll Blut und Wunden“ entstanden. Vor vielen Kirchen, vor allem in Bayern, haben die Gläubigen Ölberge errichtet, wo man den Herrn sieht, wie er seinen Leidenskampf kämpft. In den Kirchen, in den meisten Kirchen, freilich nicht in allen jüngeren Kirchen, sind Kreuzwegstationen aufgestellt, an denen wir das Leiden des Herrn verfolgen können, von der Verurteilung durch Pilatus bis zur Grablegung durch seine treuen Jünger. In manchen Orten, wiederum in Bayern, gibt es das Heilige Grab. Dort hat man für die ganze Dauer des Jahres eine Stätte geschaffen, wo wir den entseelten Leib des Heilandes im Grab besichtigen können. Die Kirche gedenkt allezeit des heilbringenden Leidens ihres Herrn. In jeder heiligen Messe erinnert sie sich an die Nacht, da er verraten wurde, und dass er durch seinen Tod uns das Leben verschafft hat. In besonderer Weise wird das Leiden Christi verehrt in der Passionszeit, die heute beginnt.

Nach dem letzten Mahle, das Jesus mit seinen Jüngern gehalten hatte, ging er mit ihnen in einen von Ölbäumen bestandenen Garten namens Gethsemane. Acht von ihnen ließ er am Eingang zurück, drei nahm er mit sich, Petrus, Jakobus und Johannes. Und dann entfernte er sich auch noch von diesen drei Aposteln, einen Steinwurf weit, wie Lukas berichtet. Dort findet sein Seelenkampf statt. Die menschliche Natur Jesu bäumt sich auf gegen das vom Vater verhängte Todesschicksal: „Vater, wenn es möglich ist, lass diesen Kelch vorübergehen!“ Aber auf diese flehentliche Bitte folgt sogleich der Ruf der Ergebung: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ Die Klage beweist die Echtheit seines Leidens, das Gebet die Unterwerfung unter den Willen des Vaters. Ein Engel stärkt den leidenden Herrn. Für Judas ist die Zeit gekommen, den schon lange geplanten und genau vorbereiteten Verrat auszuführen. Er hat noch vor dem eucharistischen Mahle den Speisesaal verlassen. Es gibt keine Judaskommunion. Es standen ihm noch zwei volle Stunden zur Verfügung. Mit einem Kuss der Begrüßung verrät er den Meister. Die Verhaftung Jesu ging allein vom Hohen Rat aus, nicht von den Römern. Aber sie bedienten sich auch der Römer, denn die Abteilung, die in den Garten kam, bestand einmal aus Tempeldienern, sodann aus römischen Soldaten, die man sich offenbar ausgebeten hatte, und aus Dienern des Hohen Priesters. Auch Mitglieder des Hohen Rates waren an der Gefangennahme beteiligt. Die Abteilung war schwer bewaffnet, denn man fürchtete, dass die Jünger sich wehren könnten. Und so schien es ja auch zunächst auszusehen. Aber Jesus wehrte ab: „Steck das Schwert in die Scheide!“, so spricht er zu Petrus.“ Und dann zu der bewaffneten Schar: „Das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.“ Von Bangen und Zagen ist nichts mehr zu spüren. Er hat überwunden und geht jetzt dem Tode, den der Vater über ihn verhängt hat, entgegen. Wie würde sonst der Wille Gottes erfüllt werden? Er könnte zwölf Legionen Engel, zweiundsiebzigtausend Mann, zu Hilfe rufen. Aber wie würde dann die Erlösung bewerkstelligt werden können?

Jesus wird gefesselt zu Annas geführt. Annas war amtierender Hoher Priester von 6 bis 15 n. Chr., also vor diesen Geschehnissen, die wir jetzt bedenken. Er wurde abgesetzt, blieb aber auch nach der Absetzung ein maßgebender Mann in Jerusalem. Sein Schwiegersohn war Kaiphas, der amtierende Hohe Priester. Annas eröffnete das Verhör Jesu. Er fragte ihn nach seinen Jüngern und nach seiner Lehre. Es war wohl nicht bloß Neugierde, die ihn bewegte, sondern die Absicht, etwas über Jesus herauszubringen, Material zu sammeln. Danach wird Jesus zu Kaiphas gebracht. Er war Hoher Priester von 18 bis 36 n. Chr. Er war ein guter Bekannter von Pilatus, der genau so lange regierte. Kaiphas war der Vorsitzende des Hohen Rates, des Synedriums, wie sein eigentlicher Name ist. Ihm oblag die Leitung des Prozesses gegen Jesus. Wegen der Befürchtung, die Anhänger Jesu könnten einen Aufruhr machen, hat man noch in der Nacht eine Sitzung abgehalten. Mit größtmöglicher Beschleunigung sollte Jesus beseitigt werden.

Kaiphas rief den Hohen Rat zusammen. Er bestand aus drei Gruppen: Priestern, Ältesten des Volkes und Schriftgelehrten. Den Vorsitz der Verhandlung führte Kaiphas. Wir müssen sie ansetzen etwa zwischen ein Uhr nachts und drei oder vier Uhr morgens. Das Gerichthalten in der Nacht war rechtswidrig. Aber der Hohe Rat setzte sich darüber hinweg. Der ganze Prozess war tendenziös. Das Verfahren gegen Jesus ging nicht darauf aus, die Wahrheit der erhobenen Anklage zu erforschen, sondern Jesus zum Tode zu bringen. Kein Verteidiger stand ihm zur Seite. Entlastungszeugen wurden nicht gehört. Dagegen spielten die Belastungszeugen eine umso größere Rolle. Aber auch ihr Zeugnis drang nicht durch, denn Zeugnisaussagen müssen übereinstimmen. Wenn sie nicht übereinstimmen, sind sie wertlos. Das ergebnislose Verhör der Belastungszeugen und das Schweigen Jesu brachten den Kaiphas in Verlegenheit und Aufregung. Es blieb nur ein einziger Weg offen, nämlich Jesus selbst zu verhören. „Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?“, so fragt er ihn. Jesus antwortet ohne Umschweife: „Ich bin es! Und ihr werdet den Menschensohn sehen, sitzend zur Rechten Gottes und kommend mit den Wolken des Himmels.“ Der jetzt gefesselt vor ihm steht, ist der kommende Richter. Diese Aussage genügt. Der Hohe Priester sieht darin eine Gotteslästerung. Wieso? Da Jesus nach seiner Meinung nicht der Messias ist, hat er sich die Messiaswürde usurpiert, angeeignet. Und darin, so meint er, liegt eine Gotteslästerung. Die Prüfung des Messiasanspruches Jesu kommt für ihn überhaupt nicht in Frage. Der gesamte Hohe Rat fällt den Schuldspruch, einstimmig. In der Nachtsitzung wird Jesus für schuldig befunden. Am Morgen, in einer zweiten Sitzung, wird in aller Form das Todesurteil über ihn gefällt. Der Religionsprozess gegen Jesus ist zu Ende. Dann wird noch beraten und beschlossen, Jesus dem Prokurator Pontius Pilatus zu überliefern, denn er allein hat die Blutgerichtsbarkeit. Die Juden können nur die leichteren Vergehen aburteilen, die schwersten sind Pilatus vorbehalten. Er ist der Beamte, der die Verwaltung im Namen Roms führt. Er heißt Prokurator oder Praefectus.

Frühmorgens, zeitig, wohl bald nach sechs Uhr, wird Jesus ins Prätorium geführt. Das ist der Ort, den Pilatus als Richtstätte ausersehen hat. Vermutlich ist es die Burg Antonia, die in der Nähe des Tempels lag. Pilatus war der fünfte Prokurator der Provinz Judäa. Er führte sein Amt von 26 bis 36. Der König Herodes Agrippa hat einen Brief, einen uns erhaltenen Brief, an Kaiser Caligula geschrieben. In diesem Briefe schreibt er über Pilatus, er sei unbeugsam, rücksichtslos und starrsinnig gewesen, und er wirft ihm Bestechlichkeit, Gewalttätigkeit und Grausamkeit vor. Pilatus verachtete die Juden. Die Evangelien beurteilen ihn günstiger.

Das Verfahren vor Pilatus wird von den Juden umgestellt. Mit dem Religionsprozess können sie vor ihm nichts erreichen, denn die Religion ist Pilatus völlig gleichgültig. Sie müssen Jesus politisch verdächtigen. So wird wird jetzt ein politischer Prozess geführt, der sich von dem Religionsprozess wesentlich unterscheidet. Wegen Gotteslästerung konnte der Hohe Rat Jesus nicht verurteilen lassen. Ein Verstoß gegen die religiösen Überzeugungen der Juden ist strafrechtlich bedeutungslos. Die Hohen Priester müssen also Jesus als politischen Verbrecher hinstellen. Und so wird aus dem religiösen Prozess ein politischer. Die Juden erheben drei Anklagen. Erstens: Jesus rührte das Volk auf. Zweitens: Er halte es ab, Steuern zu zahlen. Drittens: Er nenne sich König und stelle sich dadurch in Widerspruch zum Kaiser in Rom. Eine derart verfasste Anklage musste der Prokurator zur Kenntnis nehmen, wenn er nicht seine eigene Stellung gefährden wollte. Deswegen schreitet er zum Verhör Jesu. Er fragt ihn, ob es stimme, was die Ankläger behaupten, er habe die Königswürde in Anspruch genommen: „Du, du bist der König der Juden?“ Darin liegt Erstaunen und Befremdung. – Jesus bejaht die Frage, erklärt aber den unpolitischen Sinn seines Königtums. „Ja, ich bin ein König. Ich bin ein König der Wahrheit!“ – Damit kann Pilatus nichts anfangen: „Was ist Wahrheit?“ Er ist ein Skeptiker. Pilatus kann von der Schuld Jesu nicht überzeugt werden. Er ist im Gegenteil von seiner Harmlosigkeit überzeugt. Er gedenkt, sich aus der Affäre zu ziehen. Er erfährt, dass Jesus aus Galiläa stammt, und so überstellt er ihn dem Fürsten von Galiläa, nämlich Herodes Antipas. Herodes Antipas ist uns bekannt, weil er Johannes den Täufer hinrichten ließ. Das ist derselbe Herodes, zu dem Jesus jetzt gebracht wird. Kurze Zeit vorher war Jesus von wohlmeinenden Pharisäern gewarnt worden, der Herodes trachte ihm nach dem Leben. Jesus war davon ganz unberührt. „Geht und sagt diesem Fuchs“, Fuchs – das ist der Landesherr – „geht und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Geister aus und vollbringe Heilungen, heute und morgen und erst am dritten Tage bin ich fertig!“ Jetzt steht Jesus diesem Fuchs gegenüber. Herodes Antipas residierte an sich in Tiberias am See Genesareth. Aber zum Osterfest fand er sich immer in Jerusalem ein und wohnte dort im Palast der Hasmonäer. Römische Soldaten brachten ihn zu ihm, und Angehörige des Hohen Rates begleiteten ihn. Herodes befragte Jesus vermutlich über sein Wirken und über die gegen ihn erhobenen Anklagen. Jesus schwieg. Er hatte Herodes nichts zu sagen. Dann fing dieser an, Jesus zu verhöhnen. Er ließ ihm ein Spottgewand anlegen. Dadurch gab er zu erkennen, dass er Jesus als harmlos ansieht, als einen harmlosen Schwärmer. Zu einem prozessualen Vorgehen gegen ihn sah er keinen Anlass. Dann schickte er ihn zu Pilatus zurück. Pilatus musste wohl oder übel den Prozess weiterführen. Er gab zunächst einen kurzen Bericht über den Verlauf und das Ergebnis der bisherigen Untersuchung. Die Anschuldigung, Jesus wiegele das Volk auf, habe sich als völlig unbegründet erwiesen, ebenso habe Herodes geurteilt. Pilatus sucht Jesus zu retten. Er wollte ihn freilassen, aber erst nach einer Züchtigung, das heißt nach einer Auspeitschung. Um das Äußerste von Jesus abzuwenden, wollte er die Gerechtigkeit verletzen, denn die Auspeitschung eines Unschuldigen ist eine Verletzung der Gerechtigkeit. Aber da fiel Pilatus noch ein anderer Ausweg ein: Er erinnerte sich an die Osteramnestie. Es war Brauch, am Osterfest einen Gefangenen freizulassen. Und so stellt er zwei zur Wahl: einen offenkundigen Mörder und den anerkannten Wohltäter der Menschen, Jesus Christus. Er hoffte, das Volk, von dem er wußte, dass es Jesus anhängt, er hoffte, das Volk von Jerusalem gegen seine Führer ausspielen und Jesus dadurch retten zu können. Aber die Führer der Juden setzten alles daran, die Volksmassen gegen Jesus einzunehmen und für Barabbas zu stimmen. Dass ihnen das gelingt, setzt voraus, dass Barabbas, obwohl er einen politischen Mord begangen hatte, ein politischer Held war, so wie der „Schinderhannes“ oder ein anderer von denen, die das Volk trotz ihrer Verbrechen geliebt hat. Das Volk stellt an seine Helden keine großen moralischen Anforderungen. Aber die Juden ließen sich auf nichts ein. Sie bestanden auf der Hinrichtung Jesu. Der Befreiungsversuch des Pilatus für Jesus scheitert. Es war ein schwerer taktischer Fehler des Prokurators, Jesus, den er für schuldlos hält, wie einen wirklichen Verbrecher zur Freilassung auf dem Gnadenweg vorzuschlagen, statt ihm Kraft seiner richterlichen Vollmacht die Freiheit zu gewähren. Ein schwerer taktischer, aber auch ein empfindlicher rechtlicher Fehler. Und dieses Verhalten rächt sich auf der Stelle. Die Gerichtsverhandlung wird zur Volksversammlung. Es wird nicht mehr Recht gesprochen, sondern die Leidenschaften haben das Wort. Der römische Richter verhandelt mit dem Pöbel von Jerusalem über das Schicksal Jesu, doch er dringt nicht durch.

Nachdem alle Rettungsversuche misslungen sind, willigt Pilatus in die Forderung der Juden ein, dass Jesus gekreuzigt werde. Er lässt ihn aber zuvor geißeln. Die Geißelung mit Stricken, an denen Metallstücke befestigt waren, die Geißelung gehört zu den entehrendsten, schmerzlichsten und grausamsten Leibesstrafen. Sie durfte an römischen Bürgern nicht vollzogen werden. Aber Jesus war kein römischer Bürger. Die Geißelung leitet die Kreuzesstrafe ein. Aber damit nicht genug. Die vier Soldaten, welche die Züchtigung Jesu – „castigatio“ im Lateinischen – vornahmen, rufen die dienstfreie Mannschaft der Kohorte zusammen, und dann beginnen sie die Verhöhnung des Königtums Jesu. Sie wissen, dass Könige eine Krone tragen. So flechten sie aus Dornen einen Kranz und setzen ihn auf sein Haupt. Sie wissen, dass Könige einen prächtigen Mantel um sich hüllen. So staffieren sie Jesus mit einem roten Soldatenmantel aus. Sie wissen, dass Könige ein Zepter, das Zeichen ihrer Macht, führen. So geben sie ihm ein Rohr in die Hand. Dann fallen sie vor ihm auf die Füße nieder, sprechen „Heil dir, König der Juden“, spucken ihn an, nehmen das Rohr und schlagen ihn damit aufs Haupt. Das alles geschah in Erfüllung der Weissagungen des Propheten: „Meinen Rücken bot ich den Schlagenden dar, meine Wangen denen, die mich rauften. Ich verbarg mein Angesicht nicht vor denen, die mich schmähten und mich anspuckten.“ Von der Fußsohle bis zum Scheitel ist nichts Gesundes an ihm, nur Wunden, Striemen und Beulen.

Auf die Geißelung und Verspottung Jesu folgt der letzte Rettungsversuch des Pilatus. Er führt den gequälten Jesus vor die Volksmenge, die sich versammelt hat, und sucht noch einmal, ihn frei zu bekommen. Er gedachte, die Gegner milde zu stimmen: „Seht den Menschen!“ – Der gegeißelte Jesus trug eine Dornenkrone auf dem Haupt und einen Soldatenmantel um seine Schultern. Da erfüllte sich das Wort des Propheten: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch! Der Leute Spott und die Verachtung des Volkes. Alle, die mich sehen, spotten meiner, bewegen die Lippen und schütteln das Haupt.“ – Pilatus hat sich verrechnet. Die Anwesenden zeigen nicht das geringste Mitleid mit Jesus. Sie fordern ungestüm seine Kreuzigung „Kreuzige ihn, kreuzige ihn!“ Sie wissen, wie sie Pilatus klein kriegen können. „Wenn du diesen frei läßt, bist du kein Freund des Kaisers.“ Das ist die Anklage der Treulosigkeit gegen den Kaiser, Felonie, verbunden mit der Drohung, eine Klage wegen Majestätsverbrechens anzubringen. Pilatus ist gewarnt, denn Tiberius ist ein argwöhnischer Herrscher. – Pilatus gibt nach. Er besteigt den Richterstuhl und verurteilt Jesus zum Tode. Der Mann, der sonst so brutal und unbeugsam sein konnte, kapituliert vor dem Willen der Menge, um sie zur Ruhe zu bringen. Er ist nicht schuldlos an der Tötung Jesu. Aber die Juden haben die größere Schuld, wie Jesus selber sagt. Denn sie haben ihn überliefert und auf seiner Hinrichtung bestanden.

Jesus wird dann von der Burg Antonia, dem Ort der Verurteilung, nach Golgotha geführt, das etwas außerhalb von Jerusalem lag. Er trug nicht das ganze Kreuz, sondern nur den Querbalken. Der Längsbalken war schon am Ort der Hinrichtung in die Erde eingelassen. Der Verurteilte wurde an den Querbalken angenagelt oder mit Stricken daran gefesselt, und dann samt diesem Querbalken auf den Längsbalken gehoben. Der traurige Zug war vermutlich wie folgt angeordnet: Voran schritt der Zenturio, der Hauptmann, mit einer Abteilung Soldaten oder Vertreter des Hohen Rates. Darauf folgte Jesus. Vor ihm ein Herold, der den Kreuzestitel trug, auf dem die Schuld angegeben war: „König der Juden.“ Nach ihm gingen die zwei Verbrecher, die zugleich mit ihm gekreuzigt wurden. Die vier Soldaten, welche die Kreuzigung dann vornahmen, gingen rechts und links von den Verurteilten. Eine weitere Abteilung folgte als Bedeckung. Erst hinter ihnen kamen die frommen Frauen und wahrscheinlich auch fromme Männer. Jesus wird von den Soldaten unterwegs das Kreuz abgenommen. Schwerlich aus Mitleid, sondern um rascher voran zu kommen. Ein zufällig des Weges Kommender wird damit beladen. Er stammt aus Cyrene, das ist das heutige Tripolis in Libyen. Es werden auch die Namen seiner zwei Söhne genannt: Alexander und Rufus. Das ergibt sich daraus, dass Markus sein Evangelium für die Römer schrieb und Alexander und Rufus Mitglieder der römischen Gemeinde waren.

Die Kreuzigung war die grausamste und schmachvollste Todesstrafe. Sie wurde nur wegen schwerster Verbrechen verhängt. Jesus wird nun mit den Händen an den am Boden liegenden Kreuzquerbalken angenagelt, und dann wird dieser von den Soldaten auf den Längsbalken gehoben. Danach werden beide Balken verbunden, und auch die Füße werden mit Nägeln durchbohrt. Jesus kommt dann auf einen Sitzpflock zu sitzen, auf dem er sich gewissermaßen hocken kann. Er ist in der Mitte des Längstbalkens angebracht. Er dient als Stützpunkt, damit nicht durch die Schwere des Körpers die Hände aus den Nägeln herausgerissen werden, aber er verlängert auch die Qual. Nach der Kreuzigung tritt der Tod nicht sofort ein. Die Gekreuzigten haben manchmal zwei Tage am Kreuze gehangen.

Sie konnten auch zu den Anwesenden sprechen. Zwar spricht Jesus jetzt mehr durch seine Wunden als durch seinen Mund, aber die Umstehenden haben alle die kostbaren Worte, die noch in der letzten Stunde aus seinem Munde kamen, aufbewahrt. Als der Zug zu der Stätte kam, die „Schädel“ heißt, und Jesus gekreuzigt wurde, da sprach Jesus: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Die Beschimpfung und die Schrecken, die in der Kreuzigung liegen, erfüllen die Seele Jesu nicht mit Bitterkeit. Er legt vielmehr Fürbitte ein für seine Peiniger. Gemeint sind damit nicht die römischen Soldaten, die ja nur einen Befehl ausführen, sondern die für die Verurteilung Verantwortlichen. Sie werden damit entschuldigt, dass sie nicht wissen, was sie tun. Damit kann aber nicht ihre volle Unwissenheit gemeint sein, denn sonst bräuchte der Herr keine Fürbitte für sie einzulegen. Es soll nur gesagt sein, sie durchschauen nicht ganz, was sie da anrichten.

In die Sonnenfinsternis, die das Land von der sechsten bis zur neunten Stunde bedeckte, ruft Jesus mit lauter Stimme: „Eloi, Eloi, lama sabakthani?“ das heißt übersetzt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Es ist der Beginn des 22. Psalms. Dieser Psalm ist das Gebet eines Frommen, der sich in höchster Bedrängnis und seelischer Not an seinen Gott wendet. Aber der erste Vers ist nicht ein Schrei der Verzweiflung, sondern ein Gebet der Zuversicht. Einer der gehängten Verbrecher lästert ihn: „Bist du nicht der Messias, dann hilf uns und dir selbst!“ Der andere weist ihn zurecht und spricht: „Fürchtest auch du nicht einmal Gott, da dich doch dasselbe Gericht getroffen hat? Uns allerdings mit Recht. Wir leiden, was wir verdient haben. Aber dieser hat nichts Unrechtes getan!“ Und dann spricht er zu Jesus: „Gedenke meiner, wenn du mit deinem Reiche kommst!“ Er will nichts außer einem Gedenken, er weiß, er muss sterben, er wird in der Hölle begraben. Aber er hofft, dieser Unschuldige wird einmal an ihn denken, und das gibt ihm Trost, das gibt ihm Zuversicht. Ach, wenn Jesus an einen Menschen denkt, dann ist das ein Paradies, dann ist das ein Himmel, dann ist das eine Rettung! „Heute noch, heute noch, wirst du mit mir im Paradiese sein!“

Mehrere Frauen, Anhängerinnen Jesu aus Galiläa, sind bei der Kreuzigung zugegen, auch Männer. Unter den Anwesenden ist seine Mutter, ist sein Lieblingsjünger Johannes. Als Jesus sie stehen sieht, sagt er zur Mutter: „Frau, da ist dein Sohn!“ Und zum Jünger: „Da ist deine Mutter!“ Der zum Vater zurückkehrende Jesus scheidet nicht aus dieser Welt, ohne seine Mutter, die er einsam zurücklassen muss, der Obhut seines Lieblingsjüngers zu übergeben. Der Jünger versteht und achtet den Willen des Herrn. Er nimmt die Mutter unverzüglich zu sich.

Nach dem Urteil der Welt ist Jesu Lebenswerk gescheitert. Nach Gottes Urteil ist es zum siegreichen Ende gebracht. Der Gekreuzigte muss in der Stunde seines Sterbens noch alles erfüllen, was ihm der Vater aufgetragen hat. In diesem Bewußtsein ruft er: „Mich dürstet“, damit auch das Schriftwort aus dem 69. Psalm in Erfüllung gehen würde. Ein Soldat reichte ihm einen Essigtrunk. Mit Wasser verdünnter Essig war ein beliebtes Erfrischungsgetränk der Soldaten und der einfachen Leute. Ich erinnere mich – wenn ich das hinzufügen darf – dass mein Großvater an heißen Tagen noch diesen Essigtrunk für sich selbst bereitet hat, dieser arme Mann. Nachdem Jesus den Essig genommen, spricht er: „Es ist vollbracht!“ Das Werk, das ihm der Vater aufgetragen hat, ist vollendet. Jetzt kann er sein Haupt neigen und sterben. Aber die Natur bäumt sich auf, wenn Gottes Sohn stirbt. Eine dreistündige Sonnenfinsternis tritt ein, der Tempelvorhang zerreißt, ein Erdbeben lässt den Boden erzittern. Und noch einmal betet der Herr: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ Wiederum ein Psalmwort, aus dem 31. Psalm. Der von seinen Feinden Verlassene und Bedrohte befiehlt seine Seele Gott, dem Vater. So stirbt er gelassen, ein Vorbild für alle Frommen. Die einzige Ursache, meine lieben Freunde, des Todes Jesu ist die leibliche und seelische Entkräftung und Erschöpfung. Sie reicht bei allem, was er erduldet hat, zur Erklärung seines verhältnismäßig raschen Todes aus, denn Jesus starb recht schnell.

Pilatus wollte zuerst die Kunde von seinem Tode gar nicht glauben. Er ließ den Hauptmann kommen und fragte, ob er schon tot sei. Der Hauptmann bestätigte den Tod. Jesu Todeskampf war also relativ kurz. Nicht so schnell erfolgte der Tod bei den Schächern. Weil der Ostersabbat am Anbrechen war, baten die Juden den Pilatus, den Tod der Gekreuzigten zu beschleunigen durch das Crurifragium, indem man ihnen mit Keulen die Beine zerbrach. Die Soldaten vollzogen das Crurifragium an den beiden Verbrechern. Bei Jesus sahen sie, dass er schon tot war. Darum unterließen sie das Zerschlagen der Beine. Einer der Soldaten durchstach mit einer Lanze diese Seite Jesu. Das geschah nicht, um den Tod erst festzustellen, das haben die Soldaten ja gesehen, sondern das geschah als eine Vorsichtsmaßregel für den Fall, dass noch etwas Leben in ihm war, denn nur ein wirklich entseelter Leib konnte herabgenommen und den Angehörigen übergeben werden.

Lukas bemerkt, dass in der Nähe des Kreuzes sich alle seine Bekannten befanden. Und jetzt lernen wir zwei dieser Männer kennen, die sich des Begräbnisses Jesu annehmen, nämlich Joseph von Arimathäa und Nikodemus. Es war ein Begräbnis nach jüdischer Sitte, beendet etwa um achtzehn Uhr am Karfreitag. Die Mitglieder des Hohen Rates fordern von Pilatus, er möge eine Wache zur Bewachung des Grabes abstellen, damit nicht etwa die Jünger den Leichnam stehlen und dann unter falscher Vorspiegelung, Jesus sei auferstanden, die Ruhe und Ordnung stören könnten. Dieser letzte Hinweis bewegt den Pilatus, ihren Willen zu erfüllen, obwohl er von seinem Standpunkt aus das Anliegen der Juden für phantastisch hält. Er gibt ihnen eine Wachmannschaft und im übrigen: „Seht ihr selbst zu“, sagt er, und sie tun etwas Zusätzliches: Sie versiegeln das Grab, mit einer Schnur vermutlich. Jesus, der Sohn Gottes, der Heiland der Welt, hat ausgelitten.

Da sieht man, meine lieben Freunde, wie es Gott ergeht, wenn er auf die Erde kommt. Mit Verfolgung begann sein Leben, mit Verfolgung schließt es. Wenn man mir sagt, andere haben auch gelitten, ebenso viel, vielleicht noch mehr, noch länger, dann antworte ich: Niemand, der gelitten hat, war schuldloser als er. Niemand hatte eine feinere und empfindsamere Seele. Niemandem, der gelitten hat, war die Würde Gottes zu eigen. Das Leiden eines Gottes ist der Gipfel aller denkbaren Leiden. Wir wissen, dass sich im Sterben des Heilandes nicht nur ein Prophetenschicksal erfüllt, sondern dass sich darin das Geheimnis unserer Erlösung vollzieht. Christus hat sich am Kreuze als ein wahres und eigentliches Opfer Gott dargebracht. Er hat sein Leben hingegeben als Lösepreis an Stelle vieler, sein Blut vergossen für viele zur Vergebung der Sünden. Christus hat uns durch seinen Opfertod am Kreuze losgekauft und Gott verherrlicht und Gott versöhnt. Er hat durch sein Leiden und Sterben für die Sünden der Menschen stellvertretend Genugtuung geleistet. Wenn wir jetzt das Kreuzbild sehen, meine lieben Freunde, dann wissen wir, was es bedeutet. Wir drücken es aus in den Worten: „Wir beten dich an, Herr Jesus Christus und benedeien dich, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.“ Wenn wir das Kreuzbild sehen, dann wissen wir, was wir empfinden müssen.

Ach, Herr, was du erduldet, ist alles meine Last,

denn ich hab das verschuldet, was du getragen hast.

Schau her, hier stehe ich Armer, der Zorn verdienet hat,

gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad‘.

Amen.

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