Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
28. November 2010

Anreize zur Sünde und Entwicklung der Sünde

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Einen Feind, den man bekämpfen will, muss man kennen. Wenn man ihn nicht kennt, macht man Luftstreiche, die nicht treffen. Die Zeit des Advents ist eine Zeit des Kampfes, des besonderen Kampfes, des überlegten Kampfes gegen den bösen Feind. Und so wollen wir am heutigen ersten Adventssonntag uns über zwei Dinge Klarheit verschaffen, erstens über die Anreize zur Sünde und zweitens über die Entwicklung der Sünde.

Die Anreize der Sünde sind zweifacher Art. Es sind innere und es sind äußere. Die kirchliche Überlieferung spricht vom Fleisch als der Kraft, die uns von innen angreift. Das Fleisch, damit ist gemeint die ungeordnete Lust, die böse Lust, die Sinnlichkeit, die Begierlichkeit. Jeder wird versucht von der Lust, die ihn hinzieht und verlockt. Tatsächlich, in uns gefallenen Menschen, in uns erbsündigen Menschen wohnt die Sündenmacht, wie der Apostel Paulus im siebenten Kapitel des Römerbriefes auseinandersetzt: „Es haust in uns die Sündenmacht.“ Wir neigen zum Verbotenen. Das Konzil von Trient spricht vom fomes peccati, vom Zunder, vom Brennstoff der Sünde, und das ist die böse Lust. Die böse Lust sucht uns zur Sünde zu verführen.

Dazu kommt eine andere von innen wirkende Fehlerquelle, nämlich die Unwissenheit, die verschuldete Unwissenheit. Die verschuldete Unwissenheit liegt vor, wenn jemand sich der Unwissenheit bewußt ist, aber nichts tut, um sie abzustellen. Er kennt die Pflicht, sich zu informieren, aber er informiert sich nicht. Er unterläßt es, sich Belehrung zu verschaffen. Die einzelne Sünde mag dann unbewußt geschehen, aber die Wurzel dieser Sünde ist sündhaft, nämlich die verschuldete Unwissenheit. Wer aus Nachlässigkeit das Böse nicht kennt, der sündigt immer dann, wenn er das Böse tut, weil er in der Wurzel diese Unwissenheit verschuldet hat.

Dazu kommt die böse Gewohnheit. Bei wiederholten Sünden bleibt eine fühlbare psychologische Nachwirkung bestehen, nämlich die sündhafte Gewohnheit, ein dauernder Hang zur Sünde. Es werden gewissermaßen durch das öftere Sündigen Bahnen ausgeschliffen, und in diese Bahnen tritt man immer wieder leicht zurück. Diese erworbene Neigung zur Sünde kann man auch mit dem deutschen Wort Laster bezeichnen, wenn nämlich dieser Hang zur Sünde sich mit der verkehrten Willensrichtung verbündet.

Das sind die inneren Anreize der Sünde. Dazu kommen die äußeren: die Welt, der Teufel, die böse Gelegenheit. Die Welt ist ja gut geschaffen, wissen wir. Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, aber die Welt ist eben unter die Herrschaft des Teufels und der Sünde geraten. Die gottfeindliche Macht beherrscht sie. Was gut ist von Gott, das wird vom Menschen mißbraucht. Das Fernsehen ist eine wunderbare Einrichtung, aber die Menschen mißbrauchen sie. Sie reizen ihre Sinnlichkeit. Das Reisen ist eine wunderbare Einrichtung, aber die Menschen mißbrauchen es. Sie fahren nach Thailand, um dort mit Kindern Unzucht zu treiben!

Der Teufel ist die Versuchungsquelle Nummer eins. „Er geht umher“, sagt der Apostel, „wie ein brüllender Löwe und sucht, was er verschlingen könne.“ Er versucht die Menschen. Er hat die ersten Menschen versucht, er hat den Heiland versucht, er versucht auch uns.

Die dritte äußere Quelle der Sünde ist die Gelegenheit, die böse Gelegenheit. Darunter versteht man äußere Verhältnisse, die derart sind, daß sie dem Menschen Anlaß zur Sünde werden oder seine ungeordnete Begierlichkeit wecken. Die Gelegenheit zur Sünde ist noch keine Versuchung, aber es kann aus ihr eine Versuchung werden. Wir unterscheiden die nächste Gelegenheit und die entfernte Gelegenheit. Die nächste Gelegenheit ist dann gegeben, wenn sie naturgemäß eine Versuchung bedeutet. Die ferne Gelegenheit ist von der Sünde weiter entfernt. Sie ist nicht so nahe, aber sie ist eben auch nicht ausgeschaltet. Dann unterscheiden wir eine freiwillige Gelegenheit, die wir selbst aufsuchen, und eine notwendige Gelegenheit, die wir nicht aufsuchen. Die freiwillige Gelegenheit aufsuchen heißt sich der Sünde willkürlich aussetzen. Es ist eine unmittelbare Gelegenheit zur Sünde.

Meine lieben Freunde, ich bin viele Jahre in München gewesen. Ich traf dort Mitte der 50er Jahre einen ungarischen Priester. Er erzählte mir, er werde immer wieder von Prostituierten angesprochen. Ich war viele Jahre in München, ich bin niemals von einer Prostituierten angesprochen worden. Man geht eben nicht dahin, wo so etwas passiert. Der erwähnte Priester ist der Versuchung erlegen Wir sind verpflichtet, die freiwillige Gelegenheit zur Sünde zu meiden. Unzüchtige Fernsehsendungen ansehen ist eine solche freiwillige Gelegenheit zur Sünde. Oder wenn ein Trinker sich ins Wirtshaus begibt, dann sucht er eben eine solche Gelegenheit zur Sünde. Oder wer im Internet pornographische Dinge aufsucht, der begibt sich freiwillig in die nächste Gelegenheit zur Sünde.

Es gibt allerdings auch unfreiwillige Gelegenheiten zur Sünde, notwendige Gelegenheiten, gegen die der Mensch ankämpfen muss, aber an denen er selbst nichts ändern kann. Denken Sie etwa an die eine Million katholischer Philippiner, die in Saudi-Arabien arbeiten. In der Heimat finden sie keine Arbeit, keinen Verdienst, keinen Unterhalt, so gehen sie nach Saudi-Arabien. Aber sie haben dort nicht die Gelegenheit, eine heilige Messe zu besuchen. Der Islam ist grausam und kalt gegen die Bedürfnisse der Christen. Eine unfreiwillige Gelegenheit besteht auch, wenn man gezwungen in eine Gemeinschaft von anderen kommt, in der notwendigerweise auch schlechte Menschen sind: bei der Wehrmacht, im Gefängnis. Das sind unfreiwillige Gelegenheiten, die man nicht meiden kann.

Die entfernte Gelegenheit  zur Sünde wird uns begleiten wie ein Schatten. Es ist unmöglich, die entfernte Gelegenheit zur Sünde zu meiden. Denken Sie etwa an einen Materialverwalter, der in einer Firma Schreibzeug oder Baustoffe verwaltet. Der ist – in entfernter Weise – versucht, sich daran zu bedienen. Oder in großen Büros arbeiten Frauen mit Männern nebeneinander. Da kann sich eine unerlaubte Beziehung entwickeln.

Der aktuelle Anreiz zur Sünde ist die Versuchung. Das Wesen der Versuchung besteht darin, dass wir eine anziehende, eine antreibende Macht des Bösen spüren. Sie möchte uns zu einer Sünde verführen. Die Versuchung ist noch keine Sünde, aber sie ist auf dem Weg zur Sünde; sie will uns zur Sünde verführen. Man kann fragen: Warum läßt Gott Versuchungen zu? Aus mehreren Gründen. Er will uns prüfen. Er will unsere Treue zu seinem Gebot erproben. Er will uns in der Tugend stärken. Durch Überwindung wird man ja stärker. Er will uns zum Gebet und zum Gottvertrauen einladen. Und er will uns anleiten, die Kräfte anzuspannen. Die Versuchung hat nach Gottes Willen positive Bedeutung, und deswegen kann der Pfarrer von Ars sagen: „Nicht versucht zu werden ist der Zustand jener, die der Teufel für die Hölle zubereitet.“ Nicht versucht zu werden ist der Zustand jener, die der Teufel für die Hölle zubereitet. Die hat er schon, die braucht er nicht mehr zu gewinnen. Bei der eigentlichen Versuchung ist Ablehnung von seiten des Willens gefordert und, wenn sie nicht gleich weicht, beharrlicher Widerstand. Am besten ist es, die Versuchung sofort abzuwehren. Denken Sie an die Versuchungen zum Zorn. Man sollte sich, wenn man zornig ist, vor einen Spiegel stellen und sich ansehen, wie man da aussieht. Da bekommt man das Grauen vor sich selbst. Der Zorn tut nicht, was Gott will.

Dann ist auch die Ablenkung des Denkens wichtig; die Gedanken ablenken von dem, was uns der Versucher vorstellt. Sich auf bessere, heilige Gedanken besinnen, vor allem auf die Folgen, auf die Folgen der Sünde. Die Folgen der Sünde sind so grauenhaft, dass sie uns abhalten können, sie zu begehen. Das sind die Anreize zur Sünde.

Das zweite Thema unserer heutigen Überlegung ist die innerseelische Entwicklung der Sünde. Die Seele hat ja bei der Versuchung zur Sünde eine bestimmte Entwicklung durchzumachen. Der Anfang besteht in den Vorstellungen und in Gedanken. Das ist der Keim der Sünde, Vorstellungen und Gedanken. Jede Sünde beginnt mit einer Vorstellung, mit Bildern, mit Gedanken. Wir sollen den Geist möglichst sofort davon abwenden durch Gebet, durch Erinnerung an den Tod, an das Gericht, durch die Vorstellung der schlimmen Folgen der Sünde. Stanislaus Kosta, der große Heilige, hatte den Grundsatz, wenn die Versuchung ihn ankam, zu sagen: „Ich bin für Höheres berufen.“ Wenn man die Vorstellung nicht gleich vertreibt, dann kommt es zum Wohlgefallen, zum Gefallen am Bösen, an sündhaften Gedanken. Dieses freiwillige Wohlgefallen ist schon eine Sünde. Das freiwillige Wohlgefallen ist schon eine Sünde, obwohl der Wunsch, die Sünde zu tun, noch nicht dabei ist. Deswegen sollen wir das Wohlgefallen an der Sünde vermeiden. Das gilt übrigens auch für vergangene Sünden. Manche Menschen leiden darunter, dass sie an vergangene Sünden erinnert werden, und dann schleicht sich bei ihnen manchmal die Versuchung ein, dass sie bedauern, dass sie die Sünde damals nicht begangen haben. Das ist ähnlich wie das sündhafte Wohlgefallen an der bösen Vorstellung.

Der dritte Punkt, das dritte Stadium der Sünde ist die böse Begierde. Aus dem Sich-Vorstellen, aus dem Wohlgefallen entsteht der praktische Wunsch nach der Sünde ohne den bestimmten Entschluß der Ausführung. Der praktische Wunsch nach der Sünde ohne den Entschluß zur Ausführung. Wir haben ja zwei Gebote, die uns die Begierde verbieten, nämlich das 9. und das 10. Gebot: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Besitz.“ „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau.“ Der Heiland sagt: „Wer die Frau des anderen begehrt, der hat schon die Ehe gebrochen.“ Der hat sie schon gebrochen, obwohl er noch gar keine Handlung vollzogen hat. Die böse Begierde ist eben schon die Betätigung des Willens oder Einwilligung. Und was vom Willen herkommt, das ist Sünde.

Das vierte Stadium ist der Vorsatz. Die böse Begierde ist bloß der Wunsch oder das Verlangen nach dem sündhaften Gegenstand, der Vorsatz ist bereits der Beschluß, die Mittel anzuwenden, die zur Erreichung des Gegenstandes führen.

Bisher ist die Sünde immer noch eine innere. Ihre Vollendung findet sie im 5. Stadium, nämlich im Entschluß, jetzt und hier die Tat zu vollbringen. Das ist die psychologische Entwicklung der Sünde. Über fünf Stadien zieht sie sich hin, und allzu leicht unterliegen wir schon beim ersten Stadium. Wir vermeiden es, die böse Vorstellung abzuwehren. Wir finden uns zum Wohlgefallen bereit. Wir lassen den Wunsch in uns aufkommen, das Böse zu tun, ja wir fassen einen Vorsatz, es zu verwirklichen und es kommt, Gott sei es geklagt, zum Entschluß, das Böse zu tun.

Es ist entscheidend, den Anfängen der Sünde zu widerstehen. Es ist entscheidend, die Vorstellung zu vertreiben, das Wohlgefallen zu vermeiden. Denn wen die Lust empfangen hat, dann gebiert sie die Sünde, die Sünde aber, wenn sie vollbracht ist, gebiert den Tod. Wir, meine lieben Freunde, die wir den Heiland kennengelernt haben, wir wissen, uns kann keine Sünde glücklich machen. Es ist metaphysisch unmöglich, dass eine Sünde uns eine dauerhafte, eine wirkliche, eine echte, eine nicht zu bereuende Freude verschaffen kann. Sie gibt einen Rausch, das bezweifle ich nicht; sie gibt eine Lust, das ist unbestritten. Aber sie kann keine bleibende, keine mit Genugtuung erfüllende Freude bereiten. „Die Lust ist so kurz, die Pein ist so lang, so schnell der Zeiten Gang. Die Sünde, die dir Lust verspricht, ist süßes Gift. O trau ihr nicht!“

Amen.

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