Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Advent
30. November 2003

Zeit, vom Schlafe aufzustehen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wenn man durch das Portal der Abteikirche Maria Laach schreitet, dann fällt der Blick sofort auf ein riesiges Wandbild, das sich vom Altar bis ins Gewölbe erstreckt, ein Bild unseres Herrn Jesus Christus. Groß und ernst blicken seine Augen, unentrinnbar und alles erfassend. Wir haben den Eindruck, das ist nicht mehr der milde Heiland, der den Sündern nachging, das ist der Herr, das ist der König, das ist der Gesetzgeber des Neuen Bundes, das ist der Weltenrichter. Die Kirche hat das alte Kirchenjahr abgeschlossen mit einem Gemälde des Gerichtes, und sie eröffnet das neue Kirchenjahr ebenfalls wieder mit einem Gemälde des Gerichtes. Wir haben eben im Evangelium vernommen, wie der Herr sich selber sieht: als den Menschensohn, der kommt auf den Wolken des Himmels, zu richten Lebende und Tote.

Das Weltgericht steht noch aus. Es ist die letzte, die endgültige, die unwiderrufliche Auseinandersetzung Gottes mit der Menschheit. Dann werden vor ihm erscheinen in seligem Lichte die Martyrer, die Bekenner und die Jungfrauen. Dann werden vor ihn hintreten die Päpste, die Bischöfe und die Priester, und ich weiß nicht, ob dort ebensolche Lobestiraden erklingen werden, wie wir sie jetzt bei allen Begrüßungen, Empfängen und Abschieden erleben. Beim Weltgericht werden die Großen dieser Erde, die Staatsmänner oder die sich für Staatsmänner halten, die Politiker, die Parlamentarier gerichtet werden, die Heerführer und die Bandenführer, die später zu Marschällen avanciert sind. Dieses Weltgericht wird auch uns umfassen, dich und mich und uns alle. Nichts wird verborgen bleiben, was hier auf Erden verdeckt war. Alles wird offenbar werden, auch was hier verborgen wurde. Ein Buch wird aufgeschlagen, und dort ist eingetragen alles, was in den Erdentagen geschehen oder unterlassen wurde.

An alten Kirchen findet sich manchmal über dem Eingangsportal ein Tympanon, in dem das Weltgericht abgebildet ist. Da sieht man den Richter auf dem Throne sitzen, und auf der rechten Seite die Geretteten, auf der linken Seite die Verlorenen. Dieses Bild soll die Besucher der Kirche erinnern, wohin sie sich begeben. Sie begeben sich zu dem, der ihr Richter sein wird. Und es soll die Besucher der Kirche mahnen, dessen eingedenk zu sein, wie man sich im Hause Gottes, an der Stätte, wo Gott wahrhaft zugegen ist, betragen soll. „Exsultantes cum tremore“, so sagt der Psalmist – wir sollen jauchzen, aber mit Zittern. Genau das ist die Haltung, die dem Christen geziemt: Gott loben, aber mit Zittern und mit heiliger Furcht.

Der Gedanke an das Weltgericht soll uns nicht nur ins Gotteshaus begleiten, er soll uns durch das ganze kommende Kirchenjahr führen; er soll uns diese Adventszeit richtig begehen lassen, denn wenn wir den Weltenrichter in rechter Weise fürchten, dann können wir uns auch freudig auf die Ankunft des Welterlösers vorbereiten. Eines ist so leicht und so schwer wie das andere, den Weltenrichter fürchten und den Welterlöser ersehnen. „Zu dir erhebe ich meine Seele“, so fleht die Kirche im Eingangslied der heutigen heiligen Messe. Erheben heißt sich aufrichten. Wir sind nämlich niedergebeugt, niedergebeugt von der Last unserer Schuld, unserer Sünden, unseres Versagens, unseres Versäumens, niedergebeugt ob all der Schwächen und Leidenschaften, die wir in unserem Körper und in unserem Geiste spüren. Und da ruft uns die Kirche auf: „Zu dir erhebe ich meine Seele.“ Damit ist das Wesen des Gebetes angegeben, denn beten heißt seine Seele in Anbetung, Dank und Flehen zu Gott erheben. „Zu dir erhebe ich meine Seele.“ Was soll der Mensch sonst tun, wenn er vor Gott steht, als in Demut und in heiliger Furcht seine Seele zu ihm zu erheben? Und das Graduale fährt dann fort, worauf diese Erhebung der Seele zielt: „Lehre mich deine Wege und zeige mir deine Pfade!“ Das ist es,  meine lieben Freunde, was wir zuerst und zuoberst und immer wieder erbeten sollen: „Lehre mich deine Wege und zeige mir deine Pfade!“ Wir haben keine andere Aufgabe, als Gottes Willen zu erkennen und ihm zu folgen, und darum muß der Ruf an Gott ergehen: „Lehre mich deine Wege, zeige mir deine Pfade!“ Die Erkenntnis des Willens Gottes und das Tun des Willens Gottes, das ist die einzige Aufgabe, die wir bei all den vielen Tätigkeiten unseres Lebens haben: „Zeige mir deine Wege und lehre mich deine Pfade!“ Nachforschen, was Gott von uns will; überlegen, was Gott in dieser Lage von mir will. Den Willen Gottes zu erkennen, ist gar nicht schwer. Wir brauchen nur in uns selbst und um uns zu schauen, und dann wissen wir sofort, was Gott von uns will. Er will meistens das, was uns am wenigsten liegt. Er will häufig das, was uns zu schwer dünkt. Er will das, was nach seiner göttlichen Weisheit für uns und für unsere Umgebung am dienlichsten ist. „Zeige mir deine Pfade und lehre mich deine Wege!“

Gleichzeitig liegt darin auch das Gebet um die Kraft, diesen Wegen, die Gott uns zeigt, zu folgen. Die Wege erkennen ist schwer, aber den Wegen Gottes folgen ist noch schwerer, und dazu braucht es Kraft. Deswegen muß der Ruf mit besonderer Dringlichkeit ergehen: „Zeige mir deine Wege und lehre mich deine Pfade!“

Gebet ist wichtigste Vorbereitung auf die Ankunft des Herrn, ob es die Ankunft zum Gericht ist oder die Ankunft als Erlöser. Aber das Beten allein genügt nicht. Ich habe es Ihnen schon mehrmals gesagt, und ich wehre mich immer wieder dagegen, wenn jemand mir sagt: „Da hilft nur beten.“ Man kann auch anderes tun als beten. Man muß auch anderes tun als beten. Man kann sich nicht Nischen suchen, in denen man sich versteckt vor dem rauhen Wind, der draußen tobt. Nein, wir müssen hinein in den Kampf und müssen uns wehren und müssen auftreten und müssen ringen und müssen unsere Kräfte aufbieten. Das sagt uns der Apostel heute: „Brüder, es ist Zeit, vom Schlafe aufzustehen.“ Schlaf kann im wörtlichen Sinne und im übertragenen Sinne verstanden werden. Wir brauchen den Schlaf, um zu regenerieren, und so viel Schlaf ist notwendig, wie es zur Erhaltung der Gesundheit und der Arbeitskraft braucht, aber nicht mehr. Keine Schläfrigkeit, kein wohliges Verweilen im Bett, sondern soviel Ruhe, wie es zur Erhaltung der Gesundheit und der Arbeitskraft braucht. Ich werde nie vergessen, wie der Leiter des Priesterseminars in München im Jahre 1948 uns einen Vortrag hielt, was er von uns erwartet. Er sagte: „Ich kontrolliere Sie nicht, ich kontrolliere auch nicht Ihr Aufstehen. Aber wenn ich jemanden entdecken würde, der nach dem pflichtmäßigen Aufstehen noch im Bett ist, dann würde ich ausspucken und mich auf dem Absatz herumdrehen.“ So hat uns dieser Leiter des Priesterseminars die Pflicht, vom Schlafe aufzustehen, nahegebracht.

Schlaf kann auch in einem übertragenen Sinne verstanden werden, nämlich als Schlaf der Sünde. Wer sich in den Sünden suhlt, der ist auch ein Schläfer. Wer aus den Sünden nicht herausstrebt, der ist ein Schläfer. Wer mit seinen Leidenschaften nicht ringt, der ist ein Schläfer. Wer sich um seinen Nächsten nicht kümmert, der ist ein Schläfer. Aus der Gleichgültigkeit aufstehen, das heißt auch vom Schlafe aufstehen. Das ist die Mahnung des Apostels, daß wir diese Adventszeit ringen, um bessere Menschen zu werden, um mit unseren Tugenden, nicht mit unseren Schwächen, die Kirche zu schmücken, daß wir die Menschen in unserer Umgebung sehen und nicht sagen: Hauptsache, mir geht's gut. Was sonst geschieht ist mir egal. Davon müssen wir aufstehen, von dieser Gleichgültigkeit, denn die Stunde ist da, die Stunde der Gnade, die Stunde der Bewährung, die Stunde des Aufstehens. Das ist eine Gnadenstunde, und die Gnadenstunden gehen vorüber, und wer die Gnadenstunde verpaßt, der wird die Stunde des Richters erleben.

Darum,  meine lieben Freunde, wollen wir in diese Adventszeit hineingehen als wache Menschen, als solche, die vom Himmel alles das erwarten, was uns auf Erden entgeht, weil wir Wachende sind und weil wir vom Schlafe aufstehen. Derjenige kann den Weltenrichter getrost erwarten, der in heiliger Furcht den Advent seines Lebens geführt hat.

Amen.

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