Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
7. April 2002

Die Bedeutung Christi für die menschliche Existenz

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Wesen des Christentums ist nichts anderes als Jesus Christus. Wer sich also das Christentum aneignen will, muß zu Jesus Christus kommen. Er muß ein persönliches, inniges Verhältnis zu Jesus Christus aufbauen; alles andere steht am Rande, ist, relativ gesehen, unerheblich gegenüber dieser fundamentalen Beziehung: Jesus Christus und meine Seele.

Daß es sich tatsächlich so verhält, können wir in der österlichen Zeit an einer Jüngerin und einem Jünger Jesu erkennen. Die Jüngerin ist Maria Magdalena, der Jünger ist Thomas. Maria Magdalena sprach zu dem auferstandenen Herrn: „Rabbuni – mein Meister.“ Thomas redete den erschienenen Herrn an: „Mein Herr und mein Gott.“ Das sind die beiden Pole, um die heute unsere Überlegungen kreisen: „Rabbuni – mein Meister“ und „Mein Herr und mein Gott“. Wenn Maria Magdalena zum Herrn sagt: „Mein Meister“, dann ist das ein Wort der Gemeinschaft. Du und ich, wir gehören zusammen. Ohne Gemeinschaft erstarrt alles Leben. Wir wissen, daß wir Menschen auf Gemeinschaft angewiesen sind. Aber die menschlichen Gemeinschaften sind brüchig. Wenn sich Menschen nahekommen, dann kann es in Bälde geschehen, daß sie sich wieder entfernen. Menschliche Gemeinschaften können zerbrechen, können aufhören, können in Haß und Ferne umschlagen. Die Gemeinschaft mit Jesus ist gegen solche Gefahren gefeit. Mein Heiland, mein Jesus! Was bedeutet es, wenn Maria Magdalena sagt: „Rabbuni – mein Meister“? Es besagt einmal, daß Jesus unser Herr und Heiland und Erlöser ist. Er führt uns heraus aus dem Irrtum, dem Zweifel, und er führt uns heraus aus der Schuld und der Sünde. Das ist sein Weg, das ist sein Beruf, das ist seine Pflicht, das ist sein Auftrag, die Menschen herauszuführen aus Zweifel, Irrtum und Schuld. Das ist das Größte, was er den Menschen tun konnte. Alle anderen Wohltaten verblassen gegenüber dieser einen großen, nämlich die Menschen aus Schuld und Irrtum herauszuführen. Das ist unser Glück als katholische Christen, daß wir die Möglichkeit haben, von Schuld befreit zu werden und aus dem Irrtum uns zu entfernen durch Jesus Christus. Das gibt es in keiner anderen Religion, denn nur eine Religion hat einen geliefert, zu dem wir sagen können: „Mein Meister“, „Rabbuni – mein Meister“.

Jesus ist unser Herr und Erlöser, und das ist sein Lebensberuf. Er schafft, er sorgt, wie kein anderer schaffen und sorgen kann, um diesem Beruf nachzukommen, um ihn zu erfüllen. Und er tut das zweitens mit einem warmen Herzen, nicht nur aus Pflicht, nicht nur aus einem kategorischen Imperativ. Nein, er tut es aus Neigung, er glüht für uns; er ist unser Vertrauter und Freund. Ja, das ist unser Herr, und auch das liegt in dem Worte Magdalenens ausgedrückt: „Mein Meister“. Er ist unser Vertrauter und Freund, der uns mit einem warmen, pochenden Herzen liebt, wie kein Mensch einen anderen lieben kann. Auch unter den Menschen gibt es Liebe, aber diese Liebe kommt immer an eine Grenze, die sie nicht überschreiten kann. Die Liebe des Herrn ist unendlich, weil sie die Liebe eines Gottes ist. Weil er uns versteht, deswegen kann er unser Leben auch begleiten. Er kennt unseren Charakter, unser Wesen, er kennt unsere Wege, unsere Irrwege; er kennt unsere Sehnsucht und unser Leid; er kennt unsere Schuld und unsere Sünde. Er versteht uns bis in die Wurzeln unseres Herzens hinein. Auch unter den Menschen gibt es ein gewisses Verstehen, aber das kommt immer an eine Grenze, wo man sagt: Das kann ich nicht verstehen, wie du so sein kannst; ich begreife nicht, daß du das nicht ändern kannst; es ist mir unerfindlich, daß du diese Schwäche nicht ablegen kannst. So sagt man unter Menschen. Jesus sagt nicht so zu uns. Er versteht uns bis ins Innerste unseres Herzens. Er kennt uns, denn er hat uns beim Namen genannt, und wen Gott beim Namen nennt, der ist in seinem Herzen eingeschrieben.

Weil er uns kennt, weil er uns versteht, kann er uns auch erwählen. „Ich habe euch erwählt, daß ihr hingeht und Frucht bringt.“ Das ist es also: Er läßt uns teilnehmen an seinem Werk. Wir dürfen an seinem Erlöserwirken, an seinem Heilandswirken teilhaben. Jesus kommt nur so weit, meine lieben Freunde, wie Menschen ihn tragen. Er ist auf Menschen angewiesen. Das Wort seiner Lehre muß durch Menschenmund verkündet werden. Die Sakramente seiner Gnade müssen durch Menschenhand gespendet werden. Seine Kirche wird von Menschen gebildet, geführt und geleitet, und seine Herrlichkeit kommt nur so weit, wie Menschen sie offenbaren. Da sieht man, was uns anvertraut ist von unserem Meister. Er hat gleichsam sein irdisches Schicksal in unsere Hände gelegt. Da sieht man auch, welche furchtbare Verirrung es ist, wenn dieser Auftrag in den Schmutz fällt.

Er kann uns auch erfreuen, denn er erfüllt die Vorbedingung, die vorhanden sein muß, wenn ein Mensch einen anderen erfreuen will. Ein Mensch kann einem anderen nur so viel Freude schenken, wie er selbst an Leid getrunken hat. Er hat den Kelch der Bitterkeit getrunken und ihn dadurch in einen Kelch der Süßigkeit verwandelt. Deswegen kann er uns erfreuen, weil er den bitteren Kelch bis zur Neige geleert hat.

„Rabbuni – mein Meister.“ Eine Gemeinschaft ist ein gegenseitiges Schenken und Empfangen; und so müssen auch wir ihm etwas schenken. Was schenken wir unserem Herrn und Meister? Wir schenken ihm unser Leben. Wir weihen unser Leben dem König. Unser Leben gehört ihm; in seine Hände übergeben wir uns. Wir vertrauen uns ihm an. „Ich bin dein, bin für dich auf dieser Welt. Wie verfügst du über mich?“ So hat die große heilige Theresia gedichtet und gelebt. „Ich bin dein, bin für dich in dieser Welt. Wie verfügst du über mich?“ Wir weihen ihm unser Leben; wir weihen ihm auch unsere Tätigkeit, unser Wirken. Wir können ihm ja helfen. Wir können ihm helfen, daß sein Werk zu den Menschen kommt. Wir nehmen teil an seiner Erlöseraufgabe gegenüber unseren Angehörigen, unseren Nachbarn, unseren Bekannten, ja auch fernen Menschen durch unser Gebet, das wir ihnen schenken. Wir nehmen teil an der Erlöseraufgabe Jesu. Und das ist ein wirkliches Geschenk, das wir ihm machen, daß wir uns bereit erklären, an diesem Werk mitzuarbeiten. „Ich weih‘ mein Werk dem König.“ Das soll unser Grundsatz sein: „Ich will dir folgen, wohin immer du gehst“, wie der Mann im Evangelium gesagt hat. „Rabbuni – mein Meister.“ Das ist das Wort, das Maria Magdalena zu Herrn gesprochen hat.

Thomas spricht ein anderes Wort: „Mein Herr und mein Gott.“ Darin liegt die Anerkenntnis, daß Jesus nicht nur der Nazarener ist, sondern daß er der auf Erden erschienene Gottessohn ist. Davon spricht das ganze Evangelium. Im Evangelium gibt es zwei Reihen von Aussagen. In der einen Reihe wird Jesus als Mensch geschildert, der hungert, der dürstet, der müde wird, der auf dem Schifflein einschläft, der sagt: „Ich bin euer Bruder, ich bin wie einer unter euch“, der sich entäußert hat und „im Äußeren erfunden ward wie ein Mensch“. Da ist aber auch eine andere Reihe von Aussagen, wo es heißt: „Ich und der Vater sind eins.“ „Ehe Abraham ward, bin ich.“ „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Diese beiden Reihen von Aussagen deuten auf einen doppelten Seinsbestand in Jesus hin. Er ist ganzer und voller Mensch, er ist aber auch wahrhaft und wirklich Gott. Die Theologie und die großen Konzilien haben diese Wahrheit in das Dogma gefaßt von der einen Hypostase und zwei Naturen. Eine Person, ein Ich, ein einziges Ich, aber ein Ich, das sich zweier Naturen gleichsam bedient, das in zwei Naturen lebt und west, in einer göttlichen und einer menschlichen Natur. Eine Hypostase – eine Person – und zwei Naturen. Der das sagt, ist kein Verrückter, es ist ein gesunder Mensch, dem alles Abwegige, alles Psychopathische fern ist. Was er sagt, ist die reine Wahrheit, und er hat es bestätigen und bezeugen lassen durch den Vater im Himmel. Seine Wunder und seine Auferstehung bekräftigen seinen Anspruch, der wahrhafte Sohn Gottes zu sein. Das ist einmal und nur einmal geschehen, daß Gott Mensch geworden ist, daß der Grund aus dem Grund gleichsam aufgestiegen ist und sichtbar geworden ist. Da gilt das Wort des heiligen Thomas von Aquin: „Welches Volk hat Götter, die ihm so nahe kommen wie unser Gott?“ Die Antwort lautet: Keines. Kein Volk hat Götter, die ihm so nahe kommen wie unser Gott. Wenn wir ihn sehen, dann sehen wir den Gottmenschen. Wenn wir ihn hören, dann hören wir den Gottmenschen. Wenn wir ihm die Hand geben, dann geben wir Gott die Hand.

Diesen Jesus müssen wir in unserem Glauben und in unserer Liebe umfassen. Das sind die beiden Antworten, die in diesem Ausspruch des Thomas liegen: Mein Herr und mein Gott, ich glaube an dich, und ich liebe dich. An ihn glauben, das heißt sich ihm ausliefern, sich ihm übergeben, ihm trauen, ihm zutrauen, auf sein Wort setzen. Das heißt an ihn glauben. Wir können ihm glauben, weil er der wahrhaftige Gott ist. Wir dürfen ihm glauben, weil keine Täuschung zu befürchten ist. Es ist der Gott, der nicht getäuscht werden kann und der nicht täuschen kann. Wir können ihm alles abnehmen, was er sagt. Wenn er sagt: „Das ist mein Leib, das ist mein Blut“, dann dürfen wir darauf bauen. Wir können an ihn glauben, wenn wir ihn auch in der Schwachheit eines Kindes sehen, wenn wir ihn blutüberströmt am Kreuze erblicken, dann können wir an ihn glauben. Und wenn noch so oft gesagt wird: Diesen Anblick kann man nicht ertragen, da muß man sein Auge abwenden: Wir wollen unser Auge nicht von ihm abwenden. Wir wollen auf ihn schauen, denn es ist unser Bild, unser Gnadenbild, unser Heiligkeitsbild, auf das wir blicken. Wir wollen ihm glauben, auch wenn er am Kreuze hängt und wenn er mit einem Mantel der Einsamkeit umgeben ist. Wir wollen ihm glauben, auch wenn seine Kirche in Erschütterungen und in Mißständen dahinwankt. Wir wollen ihm glauben, denn er hat  gesagt: „Ich bin bei euch bis ans Ende der Welt.“ Er ist auch in dieser Kirche, auch in dieser Zeit gegenwärtig. Wir wollen ihm das abnehmen und nicht daran rütteln.

Wir wollen ihn auch lieben. Es ist ja nicht schwer, ihn zu lieben. Wenn man sagt: Man soll Gott lieben, ist das von einer gewissen Schwierigkeit, denn Gott ist eben der Unsichtbare, der Überwältigende, der Ungreifbare, der Unaussprechbare. Aber hier haben wir einen Menschen vor uns, der Gott ist. Und so können wir ihn lieben, wie man einen Menschen liebt. Und wir wissen: Wenn wir diesen Menschen lieben, lieben wir Gott.

Wir können ihn lieben, wenn wir ihn sprechen hören. „Nie hat ein Mensch so geredet wie dieser“, so heißt es an einer Stelle im Evangelium, so frei, so kühn, so überlegen, so fühlend, so ergreifend. Wir können ihn lieben, wenn er schweigt. Sein Schweigen ist vielleicht noch ergreifender als sein Reden, sein Schweigen vor Pilatus, vor Kaiphas, vor Herodes. Kein kleinliches Reden, kein Abwälzenwollen, kein Sich-Entschuldigen, sondern hoheitsvolles Schweigen. Und erst der Inhalt seiner Worte! Nie hat ein Mensch so geredet wie er. „Er redet nicht wie unsere Schriftgelehrten“, haben die Menschen gesagt. „Er redet wie einer, der Vollmacht hat.“ Seine Worte sind voll Hoheit und zugleich voll Schlichtheit. Sie sind für jeden begreiflich und bergen doch eine unermeßliche Tiefe in sich. Denken wir nur an das eine Wort: „Alles, was ihr wollt, daß die Menschen euch tun, das sollt ihr ihnen tun.“ In diesen Worten ist eine ganze Moraltheologie, ist ja eine ganze Handlungsanweisung verborgen. „Alles, was ihr wollt, daß die Menschen euch tun, das sollt ihr ihnen tun.“ Ja, wenn wir das nur täten! Vielleicht ist die Welt deswegen so unleidlich geworden, weil die Menschen nicht das den anderen tun, was sie sich selbst getan wissen wollen.

Und dann sein Charakter, sein hoheitsvolles Wesen. In ihm ist eine ungeheure Spannung, die kein Mensch aushalten kann, die einen Menschen zerreißen würde, nämlich einerseits ein unglaublicher Wille, eines starke Willenstätigkeit, und gleichzeitig eine Zartheit des Empfindens. In ihm ist eine Sicherheit, eine Geradlinigkeit, und gleichzeitig ein umfassendes Wissen. Für uns Menschen ist das ja immer nicht leicht zu vereinbaren. Wenn einer stark vom Willen geprägt ist, dann ist er gewöhnlich nicht sehr zartfühlend, und wenn ein Mensch geradlinig vorangeht, dann besteht immer die Gefahr, daß er Scheuklappen hat, daß er nicht sieht, was rechts und links ist, und wie ein Seiltänzer ist, der eben auf seinem Seil geht, aber nicht nach rechts und nach links schaut.

In ihm ist Klugheit und Wahrhaftigkeit. Beim Menschen führt die Klugheit oft zur Unwahrhaftigkeit, und wer wahrhaftig ist, der ist häufig unklug. Bei Jesus ist beides vereint. Er weiß die Fallstricke seiner Gegner zu zerbrechen. In ihm ist Hoheit und Schlichtheit. Die Jünger spürten, daß er weit, weit über alles Menschenmaß hinausragt. Und doch war er wie einer von ihnen, der mit ihnen zu Tische saß, der ihnen die Füße wusch, der am Achterdeck des Schiffleins vor Müdigkeit einschlief. In ihm ist Härte und Milde vereint. Beim Menschen ist es nicht leicht anzutreffen, daß ein harter Mensch auch milde sein kann. Jesus war manchmal schroff, wenn es sein mußte. „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.“ Und als ein Mann sagte: „Ich will dir folgen, aber laß mich zuerst meinen Vater begraben“, da entgegnete er: „Laß die Toten ihre Toten begraben! Du aber komm und folge mir nach!“ Und doch ist er von einer Milde wie eine zartfühlende Mutter, daß die Kinder zu ihm kommen. Daß die Kinder gerne bei ihm weilen, das ist ein gutes Zeichen. Ein Mensch, den die Kinder nicht lieben, kann kein guter Mensch sein. Und umgekehrt: Ein Mensch, zu dem die Kinder eilen, muß ein guter, muß ein liebender Mensch sein.

So ist Jesus eine Persönlichkeit, die wir wahrhaftig über alles achten, ehren und lieben können. Er ist gehaßt worden wie kein Mensch, aber die ihn hassen, das sind die Pharisäer, die Unlauteren, das ist Herodes, der Lüstling, das ist Pilatus, der Feigling. Jesus ist aber auch geliebt worden wie kein Mensch, und die ihn lieben, das sind die Martyrer, die Bekenner, die Jungfrauen, die Helden, die Heiligen. Das sind die, die ihn lieben. Und ihnen, meine lieben Freunde, wollen wir uns anschließen! Wir wollen zu ihm sagen: „Rabbuni – mein Meister“, und wir wollen zugleich bekennen: „Mein Herr und mein Gott!“ Wenn wir ihn lieben, können wir nicht enttäuscht werden. Nichts kann uns trennen von der Liebe Christi, und wir wollen deswegen mit neuer Inbrunst und mit neuer Sehnsucht das ergreifende Kirchenlied singen und beten:

„Ich will dich lieben, meine Stärke,

ich will dich lieben, meine Zier.

Ich will dich lieben mit dem Werke

und immerwährender Begier.

Ich will dich lieben, schönstes Licht,

bis mir das Herz im Tode bricht.“

Amen.

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