Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
30. August 1998

Die Pflicht zur Gerechtigkeit gegen den Nächsten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Gott ist gerecht und liebt die Gerechtigkeit.“ So beten wir Priester immer im 10. Psalm. „Gott ist gerecht und liebt die Gerechtigkeit.“ Das ist ein geeigneter Anknüpfungspunkt für unsere Überlegungen über die Pflichten, die wir dem Nächsten schulden. Wir sprachen am vergangenen Sonntag von der Liebe, von der Liebe zum Nächsten. Wir wollen heute über die Gerechtigkeit sprechen, die wir dem Nächsten schuldig sind, und zwar wollen wir erstens das Wesen, zweitens die Arten, drittens die Eigenschaften und viertens die Gegensätze der Gerechtigkeit bedenken.

Das Wesen der Gerechtigkeit besteht darin, daß ein Mensch dauernd geneigt ist, das Recht des anderen zu achten oder einem jeden das Seine zu geben. Recht und Gerechtigkeit sind Korrelatbegriffe; die Gerechtigkeit richtet sich auf das Recht, und zwar auf das Recht des anderen. Wir sind schuldig, dem anderen sein Recht zu geben, sein Recht zu achten, sein Recht nicht zu schädigen. Es fragt sich, was man unter Recht versteht. Recht wird in einem dreifachen Sinne gebraucht, und alle drei Arten des Sinnes kommen hier in Frage. An erster Stelle bedeutet Recht das Rechtsgut, das Rechtsinteresse, also das, was einem anderen zu eigen gehört. Dann versteht man unter Recht auch die Rechtsvollmacht, also die sittliche Herrschaft über das, was einem zu eigen gehört. Und schließlich besagt Recht die Rechtsnorm, also die Gesamtheit der Regeln, die für das Zusammenleben der Menschen in der Gemeinschaft aufgestellt sind. Rechtsgut, Rechtsvollmacht und Rechtsnorm sind die Bezugspunkte der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist eine sittliche Tugend. Sie hat es mit innerer Gesinnung und mit äußeren Handlungen zu tun. Beides ist verlangt, wenn man gerecht sein will, nämlich daß man die Gesinnung der Gerechtigkeit besitzt und daß man die Taten der Gerechtigkeit setzt.

Es gibt drei Arten der Gerechtigkeit, nämlich die austauschende, die ausgleichende und die legale Gerechtigkeit. Die austauschende Gerechtigkeit hat es mit dem Nächsten unmittelbar zu tun. Sie betrachtet das Verhältnis zwischen Einzelmenschen. Dem Einzelnen muß der Einzelne gerecht gegenübertreten. Das ist ein weites Feld, meine lieben Freunde. Der Einzelne hat ein Recht beispielsweise auf den guten Namen. Er hat ein Recht auf Lebensmöglichkeiten. Er hat ein Recht auf gerechte Bezahlung. Er hat ein Recht, daß, wenn er eine Leistung vollbracht hat, ihm der gebührende Lohn entrichtet wird. Wer eine Sache kauft, muß den Kaufpreis entrichten. Das ist die sogenannte Tauschgerechtigkeit oder austauschende Gerechtigkeit, die es mit den einzelnen Rechtssubjekten zu tun hat und dafür sorgt, daß zwischen ihnen Rechtsgleichheit besteht.

Die austeilende Gerechtigkeit hat es mit dem Verhältnis der Gemeinschaft zu dem Einzelnen zu tun. Die Gemeinschaft besitzt ja auch Güter und Werte zu eigen, und die Vertreter der Gemeinschaft, also die Obrigkeit, müssen dafür sorgen, daß diese Güter und Werte den Einzelnen in einem rechten Maße zuteil werden. Nach Würdigkeit und nach Bedürftigkeit, auch nach der Leistung sind den Einzelnen Güter und Werte zuzuwenden. Das gilt aber natürlich auch für die Lasten; die Lasten müssen gleichmäßig verteilt sein. Es ist Sache der austeilenden Gerechtigkeit, daß beispielsweise Steuergerechtigkeit besteht. Und schließlich hat die austeilende Gerechtigkeit auch im Strafen das rechte Verhältnis zu beobachten. Es müssen Straftat und Strafe angemessen sein.

Die dritte Art der Gerechtigkeit ist die legale Gerechtigkeit. Sie besteht darin, daß wir die Pflichten, die wir gegen die Gemeinschaft haben, recht erfüllen.  Die Gemeinschaft kann von uns Leistungen und Abgaben fordern, und wir haben die Pflicht, sie zu leisten. Es muß Gehorsam gegen die Gesetze von uns geleistet werden; denn die Obrigkeit hat ein Recht, solches von uns zu verlangen. Über die legale Gerechtigkeit hat der heilige Paulus im Römerbrief beachtenswerte Worte gefunden. „Jedermann unterwerfe sich der obrigkeitlichen Gewalt, denn es gibt keine Gewalt,  außer von Gott. Wer also sich der Gewalt widersetzt, der widersetzt sich der Anordnung Gottes. Die Obrigkeiten sind nicht ein Schrecken für die gute Tat, sondern für die böse. Willst du aber, daß die Obrigkeit für dich nicht zum Schrecken sei, so tue das Gute, und du wirst Lob haben von ihr. Aus diesem Grunde entrichtet ihr auch Abgaben; denn Gottes Diener sind jene, die gerade diesem Amte obliegen. Gebet also jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, wem Steuer, Zoll, wem Zoll, Ehrfurcht, wem Ehrfurcht, Ehre, wem Ehre gebühret.“

Die Eigenschaften der Gerechtigkeit sind drei. An erster Stelle besteht eine strenge Pflicht, gerecht zu sein, eine strenge Pflicht, wie sie bei anderen Tugenden (etwa bei der Tapferkeit) in dieser Weise nicht ausgemacht werden kann. Denn die Gerechtigkeit hat es eben mit dem Recht zu tun, und auf das Recht hat der andere Anspruch. Deswegen besteht eine strenge Pflicht, ihm sein Recht zu geben, sein Recht nicht anzutasten. Eine zweite Eigenschaft ist die genaue Begrenzung der Pflicht. Die Pflicht reicht eben nur so weit, wie das Recht des anderen reicht. Sie ist bestimmt und begrenzt durch das Recht des anderen. Nur was der andere als Recht zu fordern hat, das ist uns als Pflicht auferlegt. Die dritte Eigenschaft ist die äußere Erzwingbarkeit. Natürlich kann man die innere Haltung, das Gerecht-sein-wollen nicht erzwingen. Aber die äußeren Handlungen, die gerecht sind, kann man erzwingen. Es gibt eine äußere Erzwingbarkeit des Rechtes. Die Staatsgewalt besitzt die Macht, das Gerechte notfalls unter Androhung von Strafen zu fordern. Auch die Kirche besitzt eine solche Gewalt. Sie kann fordern, daß die Rechtspflichten erfüllt werden, beispielsweise der Besuch des Sonntagsgottesdienstes; das ist eine Rechtspflicht, von der Kirche auferlegt als ein Rechtsgebot. Zwar hat die Kirche darauf keine Strafen gesetzt, aber es ist das eine Pflicht, die der Einzelne der Kirche und seinen Glaubensgenossen schuldet, nämlich den Sonntagsgottesdienst zu besuchen.

Die Gegensätze gegen die Gerechtigkeit sind mannigfaltig. Gegen die austauschende Gerechtigkeit kann man sich in vielfältiger Weise verfehlen. Gegen das Vermögen oder gegen die Gesundheit, gegen die Ehre oder gegen die Unversehrtheit des anderen kann man ungerecht handeln. Der Sozialwissenschaftler Adolf Damaschke berichtet einmal in seinem Buche „Aus meinem Leben“ von seinem Vater, der ein Schreinermeister war. Er bemerkt, daß er oft am Wochenende in Verlegenheit gekommen sei, wie er seinen Gesellen den Lohn zahlen sollte, weil die Personen, die Arbeiten bei ihm in Auftrag gegeben hatten, ihre Schuld nicht bezahlten, nicht rechtzeitig bezahlten, die Bezahlung aufschoben. Und er sagt: „Das ist eine himmelschreiende Sünde, wenn jemand dem, der Lohn verdient hat, diesen Lohn nicht rechtzeitig bezahlt.“

Die austauschende Gerechtigkeit hat auch viele andere Seiten, etwa, was uns allen besonders naheliegt, die Gerechtigkeit in der Beurteilung. Gewiß, es ist nicht immer leicht, ein gerechtes Urteil über andere zu fällen, aber man muß sich darum bemühen. Man bemüht sich darum, wenn man sich in den anderen hineinversetzt, wenn man seine Geschichte bedenkt, wenn man erforscht, woher er kommt, wie es ihm in seiner Jugend ergangen ist, wie er erzogen oder nicht erzogen worden ist. Dann kann man den anderen besser verstehen und ihn auch gerechter beurteilen. Gegen die gerechte Beurteilung verfehlen wir uns oft durch Ehrabschneidung, üble Nachrede oder gar Verleumdung. Das sind schlimme Verstöße gegen die Gerechtigkeit, die wir dem anderen schulden. Der französische Philosoph Jean Jaques Rousseau erzählt in seinen Lebenserinnerungen, wie er einmal in Turin im Hause einer Frau wohnte und dort eine schreckliche Tat begangen habe. Eines Tages entwendete er der Frau des Hauses einen wertvollen Gegenstand. Er schob die Schuld auf das Dienstmädchen. Das Dienstmädchen wurde mit Schimpf und Schande davongejagt, und er wurde als Täter nicht erkannt. „Vierzig Jahre“, schreibt Rousseau in seinen Erinnerungen, „vierzig Jahre ist es her, seitdem ich dieses Verbrechen begangen habe, aber es hat mir keine Ruhe gelassen, und ich muß es diesen meinen Bekenntnissen anvertrauen.“

Auch die austeilende Gerechtigkeit kann verletzt werden. Verwaltung und Gerichtsbarkeit müssen objektiv sein, müssen dem Einzelnen gerecht gegenübertreten. Sie dürfen das Recht nicht beugen, sie müssen die Menschen in verhältnismäßiger Gleichheit behandeln. Sie dürfen nicht ohne Grund dem einen mehr Lasten auflegen als dem anderen. Sie müssen die Lebensmittel unter die Menschen in gerechter Weise ausgeben. Sie müssen für das Gesundheitswesen sorgen, so daß ein jeder daran beteiligt werden kann. Es ist nicht gerecht, meine lieben Freunde, wenn der Staat Israel jedem Araber täglich 32 Liter Wasser zubilligt und jedem Juden 162 Liter. Das ist nicht gerecht, das ist ein Verstoß gegen die austeilende Gerechtigkeit.

Die austeilende Gerechtigkeit wird vor allem bemüht in der Gerichtsbarkeit. Der Richter darf sich nicht von Trends und von Presseveröffentlichungen lenken lassen. Er hat Gerechtigkeit walten zu lassen gleichsam mit verbundenen Augen. Deswegen wird oft im Buch der Heiligen Schrift verboten, daß die Richter Geschenke annehmen; denn Geschenke machen ihn geneigt, das Recht zu beugen. Als Thomas More Kanzler war, hatte er eines Tages einen Prozeß zu führen gegen einen Lord. Dieser Lord, dessen Verurteilung zu erwarten war, schickte ihm zwei silberne Krüge in durchsichtiger Absicht. Thomas More nahm die Krüge  dankend an, füllte sie mit Wein, schickte sie zurück und ließ dabei bemerken, er bedanke sich und freue sich, daß er dem Lord seine Achtung bezeugen könne, indem er ihm einen guten Wein schenke. Falls er ihm nicht zusage, könne er noch einen besseren bei späterer Gelegenheit zusenden.

Die austeilende Gerechtigkeit wird auch von Lehrern, Vorgesetzten, Behördenleitern verlangt. Es tut Kindern weniges so weh, wie wenn sie erleben, daß der Lehrer ungerecht ist, daß er die einen vorzieht und die anderen benachteiligt. Viele Kinder tragen Wunden ihr ganzes Leben davon, daß sie in dieser Weise schlecht behandelt worden sind. Ich persönlich, meine lieben Freunde, muß das Gegenteil bezeugen und mich schamvoll dazu bekennen, daß ich oft zu gut beurteilt worden bin. Auch das gibt es. Gegen die legale Gerechtigkeit verfehlt sich, wer den Gesetzen den Gehorsam verweigert, wer Steuern hinterzieht, wer Schwarzarbeit leistet und sich öffentlichen Aufgaben verweigert. Dazu gehört auch die Pflicht, das Vaterland, die Gemeinschaft, die Familie notfalls mit der Waffe zu verteidigen.

Die heilige Schrift mahnt alle drei Arten der Gerechtigkeit ein. An vielen Stellen des Alten und des Neuen Testamentes wird die Gerechtigkeit gefordert. „Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler“, sagt der Herr. „Ihr gebt den Zehnten von Pfefferminze, Dill und Kümmel. Was aber das Wichtigere ist vom Gesetz, die Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit und die Treue, die vernachlässigt ihr.“ Ein andermal spricht der Herr von einem gottlosen Richter. In einer Stadt lebte ein Richter, der Gott nicht fürchtete und auch keinen Menschen etwas fragte. Dieser gottlose Richter hat sich dann doch durch das Bitten einer Witwe dazu bewegen lassen, einmal ein gerechtes Urteil zu fällen. Im 1. Korintherbrief findet der Apostel Paulus besonders strenge Worte gegen die Ungerechtigkeit. „Es ist überhaupt schon ein Fehler an euch, daß ihr Streitigkeiten miteinander habt. Warum erleidet ihr nicht lieber Unrecht? Warum laßt ihr euch nicht lieber übervorteilen? Statt dessen verübt ihr selber Unrecht und übervorteilt andere, sogar Brüder. Wisset ihr nicht, daß Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden?“ Auch im 1. Thessalonicherbrief brandmarkt er noch einmal die Ungerechtigkeit: „Keiner soll sich Übergriffe erlauben oder seinen Bruder im Geschäfte übervorteilen! Der Herr ist ein Rächer von all diesem. Wir haben es euch ja schon früher gesagt und bezeugt: Gott hat uns ja nicht zu einem Sündenleben, sondern zur Heiligkeit berufen.“

Wir sollten aus diesem Sonntag, meine lieben Freunde, den Vorsatz mitnehmen, gerecht zu sein, gerecht gegenüber den Einzelnen, gerecht gegenüber der Gemeinschaft, gerecht gegenüber denen, die uns vielleicht anvertraut sind und über die wir in irgendeiner Weise Macht ausüben können. Gerechtigkeit ist das Bollwerk des Friedens in der Gemeinschaft. Justitia ist die wichtigste Tugend innerhalb einer Gemeinschaft. „Wolle nicht immer großmütig sein, gerecht aber sei immer!“ schrieb einmal Matthias Claudius an seinen Sohne Johannes. „Wolle nicht immer großmütig sein, gerecht aber sei immer!“

Amen.

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