Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
6. April 1997

Die Allwissenheit Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In den Wochen vor Ostern haben wir uns um die Erkenntnis der Eigenschaften Gottes bemüht. Wir hatten uns zunächst die Struktur des göttlichen Wesens vor Augen geführt und sodann den Inhalt dieses göttlichen Wesens zu erkennen versucht. Wir waren bei der Allwissenheit Gottes stehengeblieben. Gott ist allwissend.

Die Allwissenheit Gottes besagt ein Vierfaches. Einmal: Die Erkenntnis Gottes ist unendlich; nichts ist seiner Weisheit verschlossen. Sodann: Die Erkenntnis Gottes ist schlechthin aktuell; sie vollzieht sich in einem einzigen, einfachen Akt. Weiter: Die Erkenntnis Gottes ist subsistent, d.h. das Erkennen Gottes fällt mit seinem Wesen zusammen. In Gott gibt es keinen Unterschied zwischen Person und Natur, zwischen Erkennen und Wollen. Und schließlich das Vierte: Gottes Erkenntnis ist komprehensiv, d.h. Gott schöpft seine Erkenntniskraft vollständig aus. Der Gegenstand der göttlichen Erkenntnis, der primäre Gegenstand ist sein eigenes göttliches Wesen. Der sekundäre Gegenstand sind die außergöttlichen Dinge. Diesen gilt unsere heutige Überlegung. Gott erkennt das Außergöttliche, und zwar erkennt er erstens das Mögliche, zweitens das Wirkliche und drittens die bedingt zukünftigen freien Handlungen.

Gott erkennt erstens das Mögliche, also das, was niemals Wirklichkeit werden wird, was aber Wirklichkeit werden könnte. Die Erkenntnis des Möglichen ergibt sich aus der Tatsache, daß Gott die analoge Nachahmbarkeit seines Wesens in geschöpflicher Weise restlos durchschaut. Die innere, metaphysische Möglichkeit des Geschöpflichen beruht auf der unendlichen Nachahmbarkeit des göttlichen Wesens. Diese wird aber von Gott in einem einzigen, unteilbaren Akt umfaßt. Die äußere, physische Möglichkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß Gott auch seine Kraft durchschaut, mit der er etwas Mögliches verwirklichen könnte. Er besitzt nicht nur die Idee von möglichen Dingen, sondern er könnte auch die möglichen Dinge jederzeit verwirklichen mit seiner unendlichen Kraft. Die Heilige Schrift scheint Andeutungen für die Erkenntnis des Möglichen zu liefern, wenn der Heiland zum Beispiel auf die Frage seiner Jünger: Wie ist das möglich? sagt: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich!“

Gott erkennt zweitens das Wirkliche, alles Wirkliche, also das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige. Er erkennt die geheimsten Gedanken des Menschen. Ihm liegt das Herz des Menschen wie ein offenes Buch vor Augen. Diese Erkenntnis des Wirklichen wird von der Heiligen Schrift an vielen Stellen bezeugt, vor allem im Buch der Psalmen. Im 33. Psalm heißt es beispielsweise: „Vom Himmel schauet nieder der Herr, er sieht alle Menschenkinder. Vom Ort, da er thront, hält er Ausschau auf alle Bewohner der Erde, er, der allen ihr Herz gebildet, der acht hat auf all ihre Taten.“ Oder im Psalm 44: „Wenn wir unseres Gottes Namen vergäßen, unsere Hände erhöben zum fremden Gott, würde dies Gott etwa nicht erfahren, der des Herzens geheimste Gedanken ja kennt?“ Oder im 93. Psalm, wo es wiederum heißt: „Der das Ohr geschaffen hat, der sollte nicht hören? Der das Auge gebildet hat, der sollte nicht sehen, er, der die Menschen Erkenntnis lehrt? Der Herr kennt der Menschen Gedanken, sie sind nur ein Dunst.“ Ebenfalls wird diese Erkenntnis bezeugt im Buch der Sprüche. Da heißt es: „Der Abgrund der Totenwelt liegt vor dem Herrn offen, wieviel mehr des Menschen Herz!“ Um noch eine letzte Stelle, aus dem Buch Jesus Sirach, zu zitieren: „Das Tun aller Menschenkinder ist ihm bekannt, vor seinen Augen bleibt nichts verborgen. Von einer Ewigkeit bis zur anderen reicht sein Blick, und nichts ist ungewöhnlich für ihn.“

Die Erkenntnis des Vergangenen, des Gegenwärtigen und des Zukünftigen ist Gott gegeben. Da erhebt sich eine Frage: Wenn Gott das Zukünftige weiß, wenn er weiß, was in Zukunft eintreten wird, bleibt dann die menschliche Freiheit gewahrt? Wenn Gott alles schon vorausweiß und wenn sein Vorauswissen unfehlbar ist, kann dann der Mensch noch wirklich frei handeln? Die Antwort lautet: Gott sieht die zukünftigen Handlungen voraus; aber sie geschehen nicht deswegen, weil er sie voraussieht, sondern er begleitet sie nur mit seinem Erkennen. Wir können uns diese Wirklichkeit auf verschiedene Weise zu verdeutlichen versuchen. Wir schauen in die Ferne und sehen, wie dort ein Mensch sich umbringt. Der Selbstmörder bringt sich nicht deswegen um, weil wir ihn sehen, sondern wir sehen ihn, weil er sich umbringt. Gott sieht auch die Verdammnis eines Menschen voraus. Aber ein Mensch wird nicht deswegen verdammt, weil Gott es voraussieht, sondern weil er sich durch sein Tun und Unterlassen selbst die Hölle bereitet. Es ist hier ähnlich wie bei einem Arzt. Ein Arzt, der einen Todkranken vor sich hat, weiß, er wird in kurzer Zeit sterben. Aber der Kranke stirbt nicht, weil der Arzt es weiß, sondern der Arzt weiß es, weil er die Krankheit durchschaut.

Der selige Duns Scotus begegnete einmal einem Bauern, der furchtbar fluchte. Er sagte ihm, er solle sich doch nicht so leichtsinnig die Hölle bereiten durch sein Fluchen. Der Bauer gab zur Antwort: „Gott weiß alles voraus. Hat er beschlossen, mich zu verdammen, nützt mir alles nichts.“ Da gab ihm der selige Duns Scotus zur Antwort: „Wenn Gott alles vorausweiß, dann lassen Sie doch Ihren Acker unbebaut. Wenn er beschlossen hat, Ihnen auf dem Felde Früchte zu geben, dann bekommen Sie Früchte. Hat er aber beschlossen, Ihnen keine Früchte zu geben, dann nützt Ihnen alle Anstrengung nichts.“ Da gingen dem Bauern die Augen auf. Er erkannte, daß nicht Gott schuld ist am Erfolg oder Mißerfolg, am Gelingen oder Mißlingen eines Lebens, sondern daß der Mensch selbst dafür verantwortlich ist.

Eine besondere Schwierigkeit bietet dem Denken der dritte Gegenstand des göttlichen Erkennens, nämlich die bedingt zukünftigen freien Handlungen. Was sind das: bedingt zukünftige freie Handlungen? Das sind solche freie Handlungen, die niemals geschehen werden, die aber geschehen würden, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben wären. Wie kann Gott die bedingt zukünftigen freien Handlungen voraussehen? Nun, meine lieben Freunde, zunächst einmal ist diese Voraussicht notwendig für die göttliche Weltregierung. Wenn Gott diese Erkenntnis fehlte, dann wäre sein Erkennen begrenzt und endlich und seine Weltregierung unsicher und fehlbar. Er muß diese Erkenntnis haben. Wir haben die Möglichkeit, sie uns zu verdeutlichen. Der Römische Katechismus schreibt, daß Gott manchmal unsere Gebete nicht erhört, weil Erhören uns Schaden bringen würde. Also sieht Gott voraus, was geschehen würde, wenn er die Gebete erhören würde. Wir würden die Erhörung benutzen, um uns seelischen oder körperlichen Schaden zuzufügen. Das ist eine wichtige Stimme des Lehramtes. Aber es gibt auch einschlägige Texte der Heiligen Schrift. Einmal sagt Jesus: „Wehe dir, Chorazin, wehe dir, Bethsaida!“  Das sind kleine Ortschaften in Galiläa. „Wären in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen, die bei euch geschehen sind, sie hätten längst in Sack und Asche Buße getan.“ Also Jesus wußte voraus, was geschehen wäre, wenn die Wunder, die in Chorazin und Bethsaida sich ereignet haben, in den Lasterstädten Tyrus und Sidon geschehen wären.

Es ist auch einzusehen, daß diese Erkenntnis um unseretwillen Gott notwendig ist. Gott sieht voraus, daß jemandem der Reichtum Schaden zufügen würde. Er läßt ihn arm werden. Oder Gott sieht voraus, daß ein bequemes, sorgloses Leben jemandem zum Unheil würde. Er sorgt dafür, daß das Leben weder bequem noch sorglos ist, daß dem Betreffenden Feinde und Sorgen ohne Maß erwachsen. Der heilige Gregor von Nyssa hat einmal ein Buch geschrieben mit dem Titel: „De infantibus, qui praemature abripiuntur“ (Von den Kindern, die vor der Zeit abgerufen werden in die Ewigkeit), also von den Kindern, die als Kinder sterben. Da ist der Jammer groß unter den Menschen, und das ist verständlich. Ein Liebes zu verlieren, tut immer weh. Aber man muß sich auch da an die Voraussicht Gottes halten. Vielleicht, wenn dieses Kind länger gelebt hätte, vielleicht wäre es zu einem lasterhaften und zu einem verbrecherischen Menschen herangewachsen. Vielleicht war es seine Rettung, daß es so früh starb. Gott hat vorausgesehen, was geschehen würde, wenn dieses Kind ein höheres Alter erreicht hätte. Ich meine, auf diese Weise können wir die Notwendigkeit des göttlichen Vorauswissens der bedingt zukünftigen freien Handlungen recht gut verstehen.

Nur noch eine letzte Frage: Hat denn das Wissen Gottes, hat denn die umfassende Erkenntnis Gottes für uns eine religiöse, eine Heilsbedeutung? O ja, eine mehrfache. Wenn Gott seinen liebenden Blick auf uns richtet, dann sind wir geborgen und beheimatet. Die Natur ist kalt und gleichgültig, aber wir wissen, Gottes Liebesblick, der Blick des Schöpfers und des Erlösers und des Heiligers, ist auf uns gerichtet. Wir sind gewissermaßen beheimatet und geborgen im Liebesblick Gottes. Gott stiftet durch seinen Liebesblick eine übernatürliche Beziehung zu uns. Wen er ansieht in Liebe, der ist begnadet, wenn immer er sich diesem Blick öffnet. Sodann: Der Blick Gottes weckt in uns die tiefsten Möglichkeiten und treibt uns an, unsere Anlagen zu entfalten. Wir erleben es täglich, wie die Fußballspieler im großen Stadion sich angefeuert fühlen von den Zuschauern, vor allem von den heimatlichen. Sie suchen ihr Bestes zu geben, um für ihre Mannschaft den Sieg zu erringen. Ähnlich-unähnlich ist es mit uns, wenn wir an den Blick Gottes denken, der auf uns ruht. Wir werden uns anstrengen und bemühen, diesem erwartenden Blick Gottes Genüge zu leisten, unsere Kräfte anzuspannen, alle Trägheit und Lässigkeit zu überwinden und rastlos tätig zu sein für seine größere Ehre.

Der Blick Gottes auf uns kann uns auch zur Selbsterkenntnis führen. Wir wissen, daß Gott uns sieht, ja daß er uns durchschaut. Also sollen wir uns so sehen, wie er uns sieht, unsere verborgenen Beweggründe, unsere kaschierten Motive, unsere Sündhaftgkeit und unsere Schwäche. Der Blick Gottes gibt uns die Kraft, uns zu sehen, wie er uns sieht: unverschleiert und unverhüllt. Der auf uns ruhende Blick Gottes ist uns aber auch eine Kraft in der Versuchung und ein Trost, wenn wir unschuldig leiden. Wenn wir uns in der Versuchung erinnern: Gott sieht mich, dann kann das zum Antrieb werden, die Versuchung zu überwinden. Wir wollen doch den lieben Vater im Himmel nicht betrüben, nicht enttäuschen, nicht kränken. Wenn uns liebe Menschen umgeben, dann bemühen wir uns, ihnen Genüge zu tun, also sie nicht zu beleidigen, ihnen nicht wehzutun. Und so muß es erst recht sein, wenn wir an den Blick Gottes, der auf uns ruht, denken. Der Blick Gottes kann uns aber auch helfen, wenn wir unschuldig verfolgt werden. Job wurde von seinen drei Freunden verlästert und beschimpft. Er tröstete sich mit der Allwissenheit Gottes. Susanna, die keusche Frau in Babylonien, wurde verleumdet und zum Tode verurteilt als Unzüchtige. Aber sie richtete ihren Blick zu Gott, und das gab ihr die Kraft, dem scheinbar sicheren Tode entgegenzugehen. So können auch wir, wenn wir verleumdet, verlästert, verkannt werden, uns trösten: Gott sieht uns, er schaut in unser Herz, er kennt unsere Absichten und unsere Motive. In seinem Blicke können wir uns trösten lassen. „Gott wird deine Gerechtigkeit hervorbringen wie das Licht und dein Recht wie den Mittag.“

Amen.

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