Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
18. August 1991

Die intellektuelle und die moralische Größe Jesu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Selbstbewußtsein Jesu wird bestätigt durch seine Persönlichkeit. Die Person des Jesus von Nazareth ist ein menschlich glaubwürdiges Zeugnis für den Anspruch, den er für sich erhebt. Aber sie ist nicht nur menschlich ein Zeugnis, sie ist auch ein Zeugnis von oben. Sie ist ein gottgegebenes Kriterium, um zu erkennen: Dieser Mensch, Jesus von Nazareth, überschreitet das bloß Menschliche. Er läßt sich in die Grenzen des Menschlichen nicht einschließen. Die Grenzen des Menschlichen sind die Irrtumsfähigkeit, die Sündhaftigkeit, die Beschränktheit. Eben diese Grenzen gelten für ihn nicht. Er ist ein intellektuelles und ein moralisches Wunder.

Jesus ist ein intellektuelles Wunder, das bedeutet, er besitzt eine Weisheit, wie sie Menschenmaß übersteigt. Seine Lehre ist von einer Weite und einer Tiefe, wie Menschen sie nicht erfinden können. Er gibt Antwort auf die brennendsten Fragen des Menschen: Gott und die Welt, Diesseits und Jenseits, Einzelmensch und Gemeinschaft, Leib und Seele; alle Gegensätze sind aufgehoben, alle Werte kommen zu ihrem Recht. Seine Gottesvorstellung ist frei von jeder Einseitigkeit. Es gibt auch andere Gottesvorstellungen. Die Mohammedaner haben auch eine Gottesvorstellung, aber diese Gottesvorstellung ist einseitig. Wir lesen jetzt von Konflikten in Jugoslawien. Mostar ist eine Stadt in Bosnien, eine Stadt, in der Mohammedaner und Katholiken zusammenleben. Es unterhielten sich einmal dort ein Katholik und ein Mohammedaner über die katholische Eucharistielehre. Dagegen machte der Mohammedaner lebhafte Einwände. Da sagte ihm der Katholik: „Ihr Mohammedaner kennt nur Gottes Macht, nicht seine Liebe.“ Jawohl, das ist es. Das Gottesbild Jesu ist nicht einseitig, sondern ausgeglichen. In ihm hat die Majestät Gottes genauso Platz wie seine Menschenliebe, sein Erbarmen wie seine Herrlichkeit. Das Gottesbild Jesu strahlt auf den Menschen über, daß der Mensch seine Nichtigkeit erkennt und gleichzeitig den unsterblichen Wert seiner Seele.

In Jesus ist Religion und Sittlichkeit, Liebe und Gerechtigkeit, Gesinnung und Werk zu einer Einheit zusammengefügt. Das ganze Leben und die ganze Welt wird überstrahlt vom Lichte Gottes. Und doch behält alles seinen Wert, verliert nichts seine Würde und seine Bedeutung. Die Lehre Jesu ist nicht zeitlich, räumlich oder national beschränkt. Selbstverständlich hat Jesus als Mensch in einem bestimmten Milieu wirken müssen, das war das Milieu des Judentums in der Zeit, in der die Römer Judäa besetzt hielten. Er hat sich der aramäischen Sprache bedient, aber diese Sprache ist nur der Leib für das, was er zu sagen hat, ist nur die Form, in die er seine Gedanken gießt. Er lebte in einem bestimmten Volke, er hat sein Volk geliebt und gekannt und doch seine Engherzigkeit nicht geteilt. Seine Lehre überschreitet völkische Grenzen, übersteigt nationale Schranken. Er ist der Zeitgenosse aller Nationen, und er ist der Bürge für eine jede Schicht des Volkes. Menschen jeden Standes, jeder Bildung, jeden Alters sind fähig, seine Lehre zu begreifen. Sie ist auf keine Schicht und auf keine Gruppe zugeschnitten und erschöpft sich nicht in einer bestimmten Klasse.

Diese Lehre hat er von niemandem übernommen. Er ist nicht in die Schule gegangen zu den Rabbinern, wie Paulus. Er hat aber auch keine außerjüdischen Einflüsse aufgenommen. Es ist zwar immer wieder behauptet worden, daß er in Ägypten gewesen und dort gelehrt worden sei und daß er persische Einflüsse aufgenommen habe; das sind Phantasien, die jeden Beweises entbehren. Die Zeitgenossen Jesu haben sich gewundert: Wie versteht dieser die Schrift, da er sie doch nicht gelernt hat? So fragen die Massen, und voll Verwunderung sagen sie: Ja, ist das nicht der Sohn des Josef; das ist doch ein ganz armer Mann, ein Arbeiter. Woher hat er das alles? Seine Weisheit ist eingegossen, nicht angelernt. Diese Weisheit, die der Herr in sich trägt, versteht er in einer geschickten Weise zu vermitteln. Seine Rede ist anschaulich, die unscheinbarsten Begebenheiten des Lebens werden ihm zu Gleichnissen für Höheres. Denken wir an die wunderbaren Gleichnisse vom Sauerteig oder von der verlorenen Drachme oder von der selbstwachsenden Saat, vom Weinberg und von den Weinbergarbeitern. Da greift er Lebensvorgänge seiner Umgebung auf und sagt in ihnen die tiefsten Wahrheiten aus. Seine Pädagogik ist voll Anmut und voll Autorität. Diese beiden Züge haben die Zeitgenossen an seiner Lehre gerühmt, die Anmut, also die Schönheit und die Ausgeglichenheit seiner Lehre, und die Autorität. Er lehrte nicht wie die Schriftgelehrten, sondern wie einer, der Macht hat. Das ist das intellektuelle Wunder Jesu von Nazareth.

Ihm stellt sich an die Seite das moralische Wunder. Jesus war der Sündenlose. Er konnte die Frage stellen, die noch niemand zu stellen gewagt hat: „Wer von euch kann mich einer Sünde beschuldigen?“ Das wäre eine Anmaßung, das wäre Arroganz, wenn es nicht der Wahrheit entspräche. Nun haben die Zeitgenossen und die Nachfahren versucht, Jesus etwas anzuhängen. Das ist durch alle Jahrhunderte geschehen. Man hat ihn verdächtigt wegen seiner Sabbatverletzungen, aber er hat eben in der Vollmacht des Vaters die Gewalt, das Sabbatgesetz, das Sabbatgebot authentisch zu interpretieren, und er weist seine Kritiker mit Recht in die Schranken: „Wer von euch, dem am Sabbat ein Ochse oder ein Esel in die Grube fällt, zerrt ihn nicht augenblicklich wieder heraus?“ Er wartet doch damit nicht bis auf den nächsten Tag. Er zeigt also die Grenzen, die gerechtfertigten Grenzen des Sabbatgebotes.

Man hat ihn verdächtigt wegen seiner Ehelosigkeit, und es blieb sogenannten katholischen Theologen der Gegenwart vorbehalten, ihn mit Maria Magdalena ins Gerede zu bringen. An den Berichten der Evangelien prallen alle solche Verdächtigungen ab. Die hassenden Feinde haben nichts Ernsthaftes an ihm finden können. Sie haben ihn des Teufelspaktes verdächtigt, aber sie konnten ihren Verdacht nicht beweisen. „Durch Beelzebul, den obersten der Teufel, treibt er die Teufel aus.“ So suchen sie in ihrem verkehrten Sinn seine gottgegebene Gewalt über die Dämonen zu erklären. Aber diese Erklärung versagt, denn der Herr weist sie zurecht: „Wenn ich durch Beelzebul die Teufel austreibe, durch wen treiben sie dann eure Söhne aus?“ Sind das auch solche, die den Beelzebul hinter sich haben und von ihm die Gewalt entliehen haben? Seine Richter finden keine Schuld an ihm. Pilatus hat es mehrfach hervorgehoben: „Ich finde keine Schuld.“ Er hätte ja gerne eine gefunden, um ihn verurteilen zu können, aber er fand keine. Und auch der Verräter Judas mußte gestehen: „Ich habe unschuldiges Blut verraten.“ Nun verlieren manchmal große Menschen, wenn man sie aus der Nähe betrachtet, und die Jünger haben ja doch in vertrautem Umgang mit Jesus gelebt. Aber auch sie bezeugen mit dem ersten Petrusbrief: „Er war der Heilige und Gerechte, an dem sich keine Sünde fand.“

Er war der Sündlose, er war aber auch gleichzeitig der Tugendhafte. In Jesus sind die Tugenden vereint. Er ist nicht einer, der bestimmte Tugenden auf Kosten anderer kultiviert, wie es bei uns der Fall ist. Bei uns mag der eine oder der andere diese oder jene Tugend haben auf Kosten anderer Tugenden, die ihm fehlen. Jesus ist starkmütig, aber nicht hart, er ist liebevoll, aber nicht sentimental, er ist demütig und gleichzeitig von majestätischer Hoheit. Er hat Verständnis für alles, aber er verläßt nicht den heiligen Ernst. Seine Tugend ist ausgeglichen und ausgewogen. Sie ist auch nicht durch Krisen hindurchgegangen, sie ist ungezwungen. Es gibt keine Entwicklung in dieser Tugend, nicht irgendwelche aszetische Klimmzüge, sondern die Tugenden sind sein selbstverständlicher Besitz. Die Tugenden hat er in seinem Leben bewährt; andere Menschen müssen einen Irrtum bekennen. Jesus brauchte nichts zurückzunehmen. Er hat niemals gesagt – was ja einen Menschen nicht schändet –, er hat niemals gesagt: Ich habe mich getäuscht, oder ich habe mich geirrt. Er hat auch niemals gesagt: Das muß ich bereuen. Er hat die Menschen aufgefordert, ihre Sünden zu bekennen, aber er selbst ist reuelos in seinem Leben und in seinem Tod. Jesus war das Urbild und das Vorbild aller Tugenden. Er war wahrhaftig ein moralisches Wunder.

Beide Seiten der Persönlichkeit Jesu, seine intellektuelle Größe und seine sittliche Reinheit, zeigen, daß ihm zu glauben ist, wenn er den Anspruch erhebt, von Gott gekommen zu sein. Diese beiden Seiten seiner Persönlichkeit machen seinen Anspruch glaubwürdig und befestigen uns in der Überzeugung, daß wir es hier mit einem Menschen zu tun haben, in den Gottes Weisheit und in den Gottes Heiligkeit eingegangen sind. Er ist jener Mensch, von dem wir sagen können, wie der Hauptmann am Kreuze: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!“

Amen.

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