Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
25. Februar 2007

Vom hohen Wert der Evangelischen Räte

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ So hat der Herr uns aufgefordert. Diese Aufforderung richtet sich an alle. Es gibt nur ein Vollkommenheitsideal, und zu dem sind alle Christen verpflichtet. Aber die Wege zur Vollkommenheit sind verschieden. Der eine Weg ist der Weg der Gebote. Jeder muss ihn gehen. Die Gebote sind eine Pflicht. Aber es gibt noch einen anderen Weg, das ist der Weg der Räte des Evangeliums – Weg der Räte des Evangeliums. Es gibt im Christentum nicht nur Gebotenes, es gibt auch bloß Geratenes. Das Gebotene ist allen zur Pflicht gemacht, das Geratene ist denen überlassen, die sich in hochherziger Weise dafür entschließen.

Nicht jeder kann jedes Wort des Evangeliums buchstäblich erfüllen, aber in der Kirche muss das ganze Evangelium restlos erfüllt werden. Es muss also Menschen geben, welche die Evangelischen Räte sich zu eigen machen und nach ihnen zu leben sich bemühen. Der Mensch steht in der Mitte zwischen den irdischen und den ewigen Gütern. Das erfahren Sie ja selber jeden Tag. Je mehr man sich den irdischen Gütern zuwendet, um so schwerer wird es, den ewigen gerecht zu werden. Wir müssen also einen Ausgleich versuchen, um die zeitlichen Güter so zu gebrauchen, dass wir die ewigen nicht verlieren. Wir können und dürfen die zeitlichen Güter gebrauchen; wir können sie auf dem Weg zur Höhe mit uns tragen. Aber sie können auch eine große Last werden. Wir spüren jeden Tag diese Last. Zum leichteren Vorankommen gibt das Evangelium die Räte.

Drei Güter sind es besonders, die den Menschen an die Erde fesseln, nämlich der Besitz von Eigentum, von Wohlstand und Reichtum, zweitens die sinnlichen Freuden, also die Freuden der Geschlechtlichkeit, und der irdische Stolz, das Bemühen, auf Erden anerkannt, gelobt und geschätzt zu werden. Diesen drei Anhänglichkeiten sind die Räte des Evangeliums entgegengesetzt, nämlich dem Streben nach Besitz die freiwillige Armut, dem Suchen nach sinnlichen Freuden die immerwährende Jungfräulichkeit und Keuschheit, und dem Streben nach Ehre und nach Anerkennung der Gehorsam unter einem geistlichen Oberen.

Zum Heiland kam einmal ein junger Mann und fragte ihn: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?“ Der Herr entgegnete ihm: „Du kennst die Gebote. Halte die Gebote. Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote!“ Da gab der junge Mann zur Antwort: „Das habe ich von Anfang an getan. Was fehlt mir noch?“ Darauf gibt ihm der Herr zur Antwort: „Willst du vollkommen sein, so verkaufe alles, was du besitzest, gib den Erlös den Armen und dann komm und folge mir nach!“ Das ist der Weg der freiwilligen Armut. Das ist der Weg des Rates des Evangeliums. Der Herr weiß um die Gefahren des Reichtums. Er hat einmal das schreckliche Wort gesprochen: „Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr“, also das größte Tier des Nahen Orients, „als ein Reicher ins Himmelreich.“ Er selber war arm. Er hatte nicht einmal etwas, wohin er sein Haupt legen konnte. „Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des Himmels haben Nester“, so sagte er, „aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ Seine Mutter war arm. Als sie ihn im Tempel darbringt, da spendet sie das Opfer der Armen.

Den Weg der Armut sind viele hochgemute Seelen gegangen. Ein geradezu klassisches Beispiel ist der heilige Franz von Assisi. Er stammte aus reichem Hause. Sein Vater war ein wohlhabender Tuchhändler, und er hätte das ganze Erbe antreten können. Aber nein, als er das Evangelium hörte von dem Versuch, Schätze zu sammeln auf Erden, die aber doch Rost und Motten verzehren, als er das Wort hörte, da hat er sich selbst entäußert, hat auf seinen ganzen Besitz, auf sein Erbe verzichtet, hat die arme Kleidung der Hirten von Umbrien angelegt und ist hinausgezogen, und bald haben sich ihm Freunde und Bekannte angeschlossen, eine endlose Schar. Das 13. Jahrhundert ist das große Jahrhundert der Bettelorden, die arm sein wollten und auf diese Weise die tiefe Kluft zwischen Armen und Reichen überbrücken wollten. Das haben sie erreicht. Durch ihr Beispiel haben die Reichen gelernt, ihren Reichtum recht einzuschätzen, und durch ihr Beispiel haben die Armen gelernt, mit ihrer Armut nicht unzufrieden zu sein. In den großen Pestzeiten der damaligen Zeit haben 124.000 Angehörige des Franziskanerordens ihr Leben geopfert. Es gab immer Christen, die in freiwilliger Armut sich von den Schätzen der Erde getrennt haben, um auf diese Weise Jesus nachzufolgen. „Nackt dem nackten Jesus folgen“, so steht es in der Nachfolge Christi. Und das ist eben so gemeint: entblößt von irdischen Werten, entblößt von irdischen Schätzen, entblößt von irdischen Reichtümern.

Der zweite evangelische Rat – der Rat des Evangeliums, sage ich lieber, um ein Missverständnis zu vermeiden – der zweite Rat des Evangeliums ist die beständige Jungfräulichkeit. Die Keuschheit ist für jeden Menschen Pflicht. Aber sie ist verschieden. Es gibt eine voreheliche Keuschheit, es gibt eine eheliche Keuschheit, es gibt auch eine nacheheliche Keuschheit; sie ist für jeden verschieden. Allen gemeinsam ist: Es muss die gottgewollte Ordnung im Bereich des Geschlechtlichen herrschen. Die unerlaubte Sinnenlust muss immer gemieden werden, vor der Ehe, in der Ehe und nach der Ehe. Aber es sind eben in der Ehe viele Freuden dieser Art erlaubt. Die Kirche denkt nicht daran, diese Freuden den Menschen madig zu machen. Aber sie binden natürlich den Menschen stark an die Erde. Mir sagte einmal ein Mann: „Wenn ich das nicht mehr habe, dann habe ich überhaupt nichts mehr auf Erden.“ So sehr hing er an diesen Dingen. „Wenn ich das nicht mehr habe, dann habe ich überhaupt nichts mehr auf Erden.“

Die ehelichen Freuden sind natürlich auch mit ehelichen Sorgen behaftet. Der Apostel Paulus hat es meisterlich ausgedrückt, wenn er sagt: „Der Ehelose ist besorgt, was des Herrn ist; er möchte dem Herrn gefallen. Der Verheiratete ist um das besorgt, was der Welt ist; er möchte seiner Frau gefallen. So ist sein Herz geteilt.“ Der Liebestrieb und damit auch der Lusttrieb ist eben stark am Menschen gebunden. Er soll uns gewiß über die Menschen und in den Menschen zu Gott führen, aber wer um Gottes willen die Ehelosigkeit wählt, um Gottes willen, dessen Liebe kann frei und direkt zu Gott emporsteigen. Nur von dieser ungeteilten Hingabe an Gott und seine Sache hat die Jungfräulichkeit ihren höheren Wert. Auch dafür, für diesen Rat, können wir ein Wort des Herrn anführen. Er spricht einmal davon, dass es Leute gibt, die vom Mutterschoß an zur Ehe unfähig sind. Dann gibt es Leute, die von Menschen zur Ehe unfähig gemacht wurden. Aber es gibt auch eine dritte Kategorie, nämlich solche, die sich der Ehe enthalten „um des Himmelreiches willen“. Das sind diejenigen, welche den Rat des Evangeliums, die immerwährende Jungfräulichkeit, ergreifen. Der Herr fügt hinzu: „Wer es fassen kann, der fasse es!“ Es ist also schwer, es zu begreifen, und diejenigen, die immer nur im Schlamm sich aufhalten, werden es niemals fassen. Der Herr stellt also ganz klar heraus: Es handelt sich um die immerwährende, frei gewählte Jungfräulichkeit um des Himmelreiches willen, also aus übernatürlichen Gründen.

Wer aus Bequemlichkeit, aus Trägheit, aus Entschlusslosigkeit, aus Feigheit die Ehe meidet, der ist nicht dem Rat des Evangeliums gefolgt. Solche gibt es auch. Es gibt Leute, die aus Trägheit und Eigennutz sich weigern, eine Ehe einzugehen. Es gibt aber auch zu allen Zeiten Menschen, die um hoher irdischer Güter willen auf eine Ehe verzichten, Künstler, Forscher, Feldherren, Staatsmänner, die, weil sie von ihrer Aufgabe so erfüllt sind und so ergriffen sind, sagen: Ich darf keine Ehe eingehen, sonst kann ich meiner Aufgabe, meiner Berufung nicht mehr nachkommen. Der große Ostasien-Reisende Wilhelm Filchner schreibt einmal in einem seiner Bücher – er hatte nämlich auf seinen Reisen sich jahrelang von seiner Frau trennen müssen, und die Frau war ihm davongelaufen –: „Es ist richtig, wenn man ein solches Unternehmen, wie ich es durchführe, angetreten hat, dass man auf die Ehe verzichtet.“ Und selbst erheblich kleinere Geister haben dasselbe gesagt. Ich habe einmal die Biographie der Sängerin Christa Ludwig gelesen – Christa Ludwig war eine große Sängerin. Wo sie auf die Lasten und Gefahren ihres Berufes zu sprechen kommt, da schreibt sie: „Es ist besser, wenn man als Sängerin nicht verheiratet ist.“ Also noch einmal: Wenn man sein Leben in den Dienst einer großen Sache stellen will, ist es zweifellos erlaubt, auf den Ehestand zu verzichten. In diesem Falle ist der Beruf hochrangiger als die Ehe.

Die Jungfräulichkeit um Gottes willen steht nach der Lehre der Kirche über der Ehe. Das Konzil von Trient hat es als Dogma formuliert: „Wenn jemand sagt, der Ehestand müsse dem Stand der Jungfrauschaft vorgezogen werden, und es sei nicht besser und gottseliger, in der gottgeweihten Jungfräulichkeit zu leben, als sich durch die Ehe zu verbinden, der sei ausgeschlossen.“ Die Kirche hat diese Lehre nicht verkündigt, weil sie die Ehe geringschätzt, sondern weil sie die Ehe hochschätzt; denn die Jungfräulichkeit dient der Ehe. Wenn die Menschen sehen, dass es andere gibt, die um Gottes und der Menschen willen auf die Ehe verzichten, dann werden sie auch eher geneigt sein, ihre Ehe nach Gottes Willen zu führen, auf voreheliche Erfüllungen zu verzichten und in allem der ehelichen oder auch der vorehelichen Keuschheit zu leben. Die Jungfräulichkeit dient der Ehe. Wegen der Jungfräulichkeit wird die Ehe höher geschätzt und höher gelebt. Die Ehe hat von der Jungfräulichkeit reichen Gewinn. Die vielen Priester, Ordensleute und Schwestern, die um Gottes willen auf die Ehe verzichten, dienen ja dem Volke, und es ist ein verräterisches Zeichen unserer Zeit, meine lieben Freunde, es ist ein verräterisches Zeichen unserer Zeit, dass die Priesterberufe und die Ordensberufe so erschreckend abgenommen haben, dass die Klöster sich leeren, dass die Orden aussterben, dass der Priestermangel allmählich zum Himmel schreit. Das ist ein furchtbares Zeichen unserer Zeit.

Manche machen den Einwand: Ja, aber Gott hat doch den Menschen befohlen: „Wachset und mehret euch!“ Heißt das nicht, dass man die Ehe eingehen muss? Dieser Befehl Gottes richtet sich an die ganze Menschheit, nicht an den Einzelnen. In der Menschheit muss es immer genügend Menschen geben, welche eine Ehe eingehen, um eben die Menschheit fortzupflanzen. Aber das Gebot „Wachset und mehret euch!“ ist, genauso wie das andere, dass der Mensch den Acker bebauen soll, an die Menschheit gerichtet. Es können nicht alle Ackerbauern sein. Es muss auch andere Berufe geben. Und so können auch nicht alle in die Ehe eintreten. Es muss auch Menschen geben, die um Gottes und der Menschen willen auf die Ehe verzichten.

Die Gefahr droht nicht von den wenigen, die um Gottes und der Menschen willen die Ehe hintansetzen. Die Gefahr droht von denen, die durch Zügellosigkeit und Unsittlichkeit ihre Geschlechtskraft missbrauchen. Opferscheu, Kinderscheu, das sind die Gefahren, die wir heute und die wir schon immer gesehen haben. Die Menschen, die selber im Schlamme stecken, fassen es nicht, wie andere Menschen ihr Leben auf höhere Ziele ausrichten können.

Der dritte Rat des Evangeliums ist der Gehorsam. Hier löst sich der Mensch vom eigenen Willen. Hier geht er den Weg der Demut und des vollkommenen Gehorsams unter einem geistlichen Oberen. Gehorsam gegen Gott müssen wir alle sein. Die Gebote sind uns gegeben, damit wir ihnen gehorchen. Wir müssen auch den Menschen gehorchen, die um Gottes willen uns Befehle geben dürfen. Aber über diese Gehorsamspflicht hinaus geht der Rat des freiwilligen und vollkommenen Gehorsams. Hier unterstellt sich der Mensch einem Oberen, um durch ihn sich an den Willen Gottes zu binden. Wir haben auch hier wieder das Beispiel des Heilandes. „Christus hat sich erniedrigt und ist gehorsam geworden bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze.“ Es war seine Speise, den Willen des Vaters zu tun; und ihm wollen diejenigen nachfolgen, die sich einem Oberen zum Gehorsam unterwerfen. Vergessen Sie nicht, meine lieben Freunde, das Opfer des Willens ist das schwerste Opfer. Manchmal ist die Rede von Kadavergehorsam, also von einem blinden, unerleuchteten Gehorsam. Einen solchen Gehorsam will Gott nicht. Der Gehorsam muss immer ein erleuchteter, ein erfüllter Gehorsam sein. Der Gehorsam findet immer seine Grenzen an der Vernunft und am Gebote Gottes. Niemals kann ein geistlicher Oberer etwas befehlen, was gegen die Vernunft und den Willen Gottes ist. Der Gehorsam, der im Kloster geleistet wird, achtet die Menschenwürde. Solcher Gehorsam ist eben zutiefst Demut, Dienemut. Man will dienen durch seinen Gehorsam. „Obgleich dem Herrn die Gottesgestalt zu eigen war, entäußerte er sich selbst, nahm Knechtsgestalt an, ward im Äußeren erfunden wie ein Mensch und erniedrigte sich selbst.“ Das ist das Beispiel unseres Heilandes, das im vollkommenen Gehorsam nachgeahmt wird. „Nur der Stolz hindert uns daran, Heilige zu werden“, sagte einmal der heilige Pfarrer von Ars. Tatsächlich, wer in vollkommener Keuschheit lebt, opfert viel. Wer in Armut lebt, opfert ebenfalls viel. Aber wer den Willen opfert, der opfert sich selbst, der opfert am meisten. Und so gibt es eben Männer und Frauen, die sich zum Stand der Räte des Evangeliums entschlossen haben, die sich durch Gelübde oder durch andere Formen der Versprechen an die Räte des Evangeliums binden. Ein Gelübde ist mehr als ein Vorsatz. Ein Gelübde ist eine Übergabe an Gott unter bindender Verpflichtung. Wer sich mit einem Gelübde verpflichtet, der verpflichtet sich unter Sünde.

Die Gemeinschaft ist im Ordensleben überaus wichtig. Es gibt keine Gemeinschaft, die nicht zusammengehalten würde durch den Gehorsam. Freilich ist die Seele der Gemeinschaft die Liebe. Wo die Liebe fehlt, da ist ein harmonisches Zusammenleben nicht möglich, auch nicht im Kloster. Es ist richtig: Nicht alle, die sich zu diesem Stand entschlossen haben, stehen immer und allezeit auf der Höhe ihrer Berufung. Es gibt wie überall Eifrige und weniger Eifrige, es gibt auch Unberufene, die ihrem Stande zur Schande werden. „Ich habe“, sagt einmal der heilige Augustinus, „nicht leicht bessere Menschen getroffen als jene, die sich im Kloster vervollkommnet haben. Aber ich habe auch nicht leicht schlechtere Menschen getroffen als jene, die in Klöstern gefallen sind.“

Der Ordensstand hat für die Kirche eine unaufgebbare Bedeutung. Er lässt sich aus der Kirche nicht wegdenken. Hier sind die großen Missionare entstanden, die großen religiösen Erneuerer, die opferstarken und Gott zugewandten Menschen, die andere wieder emporreissen. Ich habe Ihnen schon einmal erzählt, meine lieben Freunde, dass ich einen Schulfreund habe, der jetzt mit 81 Jahren immer noch eine Pfarrei von 20.000 Seelen in Ecuador in Südamerika leitet, mein lieber Freund Longinus Schmitt. Das ist ein Ordensmann nach dem Willen und nach dem Herzen Gottes. Aus der Welt lässt sich kein Kloster machen, aber in Welt müssen Warnungsrufe stehen, müssen Klöster stehen, hochleuchtende Verkehrstürme, die den Weg weisen.

Amen.

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