Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
3. September 2006

Von der Pflicht zur Wahrhaftigkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Gott hat uns ein kostbares Geschenk gemacht, nämlich er hat uns die Sprache gegeben. Dank der Sprache sind wir fähig, das, was wir empfinden, anderen mitzuteilen, und entgegenzunehmen, was andere uns vermitteln wollen. Gott will, dass wir diese Gabe recht gebrauchen und sie nicht missbrauchen. Die Sprache ist gegeben zum Offenbaren, nicht zum Täuschen. Deswegen hat er ein eigenes Gebot erlassen: „Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten!“ Damit ist die Pflicht der Wahrheit von Gott statuiert. Der Zweck der Sprache, die Notwendigkeiten der Gesellschaft und das Gebot Gottes kommen zusammen, um uns zur Wahrhaftigkeit zu verpflichten. Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind uns von Gott auferlegt. Was ist Wahrheit? Die Wahrheit besteht darin, dass wir die Wirklichkeit recht erkennen und wiedergeben. Übereinstimmung von Urteil und Wirklichkeit, das ist Wahrheit. Wahrhaftigkeit besteht darin, dass wir die Dinge so schildern, wie wir sie wirklich sehen und uns nicht dabei verstellen; wenn wir das tun, dann sind wir wahrhaftig.

Der Mensch hat von Gott eine Anlage zur Wahrheit bekommen, die Wahrheitsliebe. In jedem Menschen ist eine solche Anlage, ein Wiegengeschenk des wahrhaftigen Gottes. „Gott ist Licht, und keine Finsternis ist in ihm“, sagt der Apostel Johannes. Und das Erste Vatikanische Konzil erklärt das: Er kann nicht lügen und nicht täuschen. Als Ebenbilder Gottes sind wir deswegen zur Wahrheit und zur Wahrhaftigkeit verpflichtet. Wir sollen der Wahrheit die Ehre geben und die Lüge ablegen. „Legt ab alle Lüge“, schreibt der Apostel Paulus im Brief an die Epheser. „Ein jeder rede mit seinem Nächsten die Wahrheit, so wie es untereinander Gliedern ziemt.“ Die Wahrheit muss geäußert werden im Reden und im Handeln. Zunächst einmal im Reden.

Im Jahre 1810 stand vor dem französischen Kriegsgericht in Tirol ein Tiroler namens Peter Mayer. Er hatte den Freiheitskampf der Tiroler gegen die französische Besatzung angeführt, und er hatte weitergekämpft, als der Friede zwischen den Mächten schon geschlossen war. Und das war seine Verfehlung, war sein Vergehen. Aber der französische Kommandant wollte ihn retten. Er legte ihm ein Schriftstück vor, in dem er unterschreiben sollte, er habe nicht gewusst, dass schon Frieden geschlossen ist. Peter Mayer las das Schriftstück, und dann tobte in ihm ein innerer Kampf. Wenn er es unterschriebe, dann könnte er zurückgehen zu seiner Familie, auf seinen Hof, zu seiner Gastwirtschaft. Wenn er nicht unterschriebe, drohte ihm der Tod. Peter Mayer hat nicht unterschrieben. Nein, ein Tiroler lügt nicht. Und er ist vor die Gewehre des französischen Hinrichtungskommandos getreten und hat sich erschießen lassen. Er ist ein Held der Wahrhaftigkeit geworden.

Im Reden sollen wir wahrhaftig sein. Man muss nicht alles sagen, was man weiß, aber was man sagt, das soll wahr sein. Wir sollen offen sein und mit Freimut reden, und die Offenheit ist eine wahre Tugend. Aber noch einmal: Aufrichtigkeit muss mit Liebe und Rücksicht auf andere gepaart sein. Wir kennen ja das Drohwort: „Dem muss man mal die Wahrheit sagen.“ Das ist eine Weise, offen zu sein, der die Liebe fehlt. Nein, die Aufrichtigkeit und die Offenheit muss mit der Liebe und mit der Rücksicht gepaart sein. Man kann den Menschen die Wahrheit sagen, aber man muss sie ihnen so sagen, dass man sie nicht verletzt, wie ein Verbündeter, wie einer, dem es weh tut, dass er dem anderen das sagen muss. Dann, glaube ich, werden die allermeisten Menschen auch die Wahrheit entgegennehmen. Es gibt gewisse Grundsätze für die Offenheit: Nicht tadeln, nichts besser wissen, nicht klagen, wo nichts zu ändern ist, nicht streiten, wo nicht zu überzeugen ist. Wenn man sich an diese Grundsätze hält, kommt man im allgemeinen mit den Menschen aus.

Aber die Kehrseite der Offenheit ist die Verschwiegenheit. Die Verschwiegenheit ist erlaubt und manchmal sogar pflichtmäßig. Es gibt Geheimnisse, die man nicht weitertragen darf: das Amtsgeheimnis, das Dienstgeheimnis, das Beichtgeheimnis. Das sind Geheimnisse, die so anvertraut sind, dass sie nicht preisgegeben werden dürfen. Hier besteht eine Schweigepflicht. Ein Dichter des 19. Jahrhunderts, Matthias Claudius, hat einmal seinem Sohn einen schönen Brief geschrieben, und in diesem Briefe heißt es: „Sage nicht immer, was du weißt, aber wisse immer, was du sagst!“ Wie schön. Sage nicht immer, was du weißt, aber wisse immer, was du sagst! Der Volksmund hat schöne Sprichwörter erfunden, die uns helfen können, die Mitte zwischen Offenheit und Verschwiegenheit zu finden: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Man hat sich eher verredet als verschwiegen. „Schweigen und Denken kann niemanden kränken.“ „Wer viel schwätzt, weiß wenig; wer viel weiß, dessen Zunge ist stumm“, so sagt ein schönes chinesisches Sprichwort.

Also im Reden sollen wir wahrhaftig sein, aber auch im Benehmen. Man soll sich als der geben, der man wirklich ist. Der Herr hat die Pharisäer deswegen so scharf angegriffen, weil sie Heuchler waren. „Ihr seid übertünchte Gräber“, das heißt Menschen, die innerlich faul sind und morsch, die sich aber nach außen als fromm und lauter hinstellen; erbärmliche Gestalten! Die Wahrhaftigkeit muss also auch im Benehmen sich zeigen, und wir dürfen uns nicht als andere geben, als die wir sind. Diese Wahrhaftigkeit kann man auch als Treue bezeichnen. Treue im Beruf, Treue im Dienst, eheliche Treue, Treue zu Gott und dem Taufversprechen, das wir einmal abgegeben haben. Es soll das Wort gelten: „Ein Mann – ein Wort!“ Oder wie der Herr sagt: „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein sei ein Nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen.“

Wir kennen aber auch die Gegensätze zur Wahrhaftigkeit. Wir wissen, dass es Lügen gibt. Dante hat in seiner „Divina Comedia“ das Schicksal der Lügner beschrieben. Sie wandern in der Hölle von einem Höllental zum anderen, mit verhülltem Angesicht und mit dem Blick gesenkt. Das sind die Lügner und Heuchler. Weil sie auf Erden sich anders dargestellt haben, als sie waren, müssen sie in der Ewigkeit von Höllental zu Höllental wandern. Die Lüge stammt vom Teufel, denn der Teufel ist der Vater der Lüge. Wir wissen ja, dass er die ersten Menschen mit einer Lüge verführt hat: „Keineswegs werdet ihr sterben. Es werden euch die Augen aufgehen. Ihr werdet sein wie Gott.“ Der Teufel lügt immer, und er stiftet die Menschen, die sich in seine Fänge begeben, zur Lüge an. Die Lüge kommt vom Bösen, aus den tiefen Schichten und Schluchten des bösen Herzens. Es lügt der Faule, um seine Faulheit zu verbergen. Es lügt der Neidische, um andere herabzusetzen. Es lügt der Stolze, um sich groß zu machen. Es lügt der Habsüchtige, um an Geld zu kommen. Es lügt der Dieb, um andere zu verdächtigen. Es lügt der Unkeusche, um Seelen zu verderben. Das sind die dumpfen Schluchten, aus denen die Lüge kommt. Und eine Lüge bleibt gewöhnlich nicht allein. Die Lüge hat die Neigung, immer neue Lügen hervorzubringen. Man sagt: Ich muss mich herauslügen. Das sind die so genannten Notlügen. Kann sein, dass man dann der Strafe entgeht, aber man lügt sich in das Böse hinein, und das Böse wächst. Der Lügner, meine lieben Freunde, muss ein gutes Gedächtnis haben, denn wenn er es nicht hat, dann verfängt er sich in seinem Lügengewebe. Lügen und Lawinen wachsen immer mehr an. Eine Lüge schleppt zehn andere nach sich.

Wir alle kennen aus eigener Erfahrung die Versuchung zur Notlüge. Es gibt ja tatsächlich Situationen, wo man, vermeintlich um eines anderen, höheren Wertes willen, zur Lüge greifen möchte. Verständlich, begreiflich, und ich fürchte, wenn man in unser Herz schauen würde, dann würde man erkennen, dass wir dieser Notlüge mehr als einmal verfallen sind. Man spricht von Scherzlügen, wenn man lügt, um einen Scherz zu machen. Man spricht auch von Schadenslügen. Die Schadenslügen bestehen darin, dass man mit der Lüge einem anderen Schaden zufügt. Das sind die schlimmsten Lügen. Wahrhaftigkeit ist dagegen die erste Eigenschaft eines Führers. Die Lüge kann nur Verführer ausbilden. Am 28. April 1941 empfing der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler den deutschen Botschafter in Moskau, Graf Schulenburg. Der Botschafter suchte ihn zu überzeugen, dass Russland keine Angriffsabsichten auf Deutschland habe, dass es friedlich gesinnt sei. Hitler hörte sich das alles an, und beim Herausgehen sagte er: „Also noch eines Graf Schulenburg: An einen Angriff auf die Sowjetunion denke ich nicht.“ In Wirklichkeit war der deutsche Aufmarsch gegen die Sowjetunion beendet, und wenige Wochen später brach der Ansturm los. Hitler hatte seinen Botschafter unmittelbar und direkt belogen.

Außer den Lügen des Wortes gibt es auch Lügen der Tat. Dazu ist an erster Stelle die Heuchelei zu erwähnen. Der Heuchler gibt sich als ein anderer, als der er in Wirklichkeit ist. Im Jahre 1942, meine lieben Freunde, kamen in Stettin im katholischen Pfarrhaus drei Priester und eine Reihe von Laien zusammen, um sich gegenseitig im Glauben zu stärken und zu ermutigen. Natürlich sprach man auch über die politische Lage, auch über das verbrecherische System. Unter den Laien, die da zusammenkamen, befand sich ein österreichischer Ingenieur. Er stimmte lebhaft ein in die Anklagen gegen das nationalsozialistische System. Eines Tages wurden alle Beteiligten abgeführt, drei Priester hingerichtet, denn dieser österreichische Ingenieur war ein Spitzel, ein Spion, ein Heuchler. Er hatte sie alle ans Messer geliefert.

Eine andere Weise, wie man durch das Benehmen anderen Schaden zufügen kann und der Wahrhaftigkeit zu nahe tritt, ist die Schmeichelei. Der Schmeichler sagt dem anderen nur das Angenehme und lobt sogar das Böse. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Wer mich auf meine Fehler aufmerksam macht, ist mein Freund. Wer meine Tugenden hervorhebt, ist mein Feind.“ Schmeichelei ist eine ekelhafte Verfehlung gegen die Wahrheit, und wir sollten sie um jeden Preis meiden. Ich sagte schon: Man kann den Menschen die Wahrheit sagen; es kommt darauf an, wie man sie ihnen sagt. Eine andere Verfehlung ist die Untreue. Wer sein Wort nicht hält, wer die Treue bricht, seine Verpflichtungen nicht erfüllt, wer seine Versprechen nicht einlöst, ein Mensch, auf dessen Wort man nicht bauen kann, das ist ein Untreuer. Die Lüge ist in jeder Form eine schlimme Sache. Sie ist schlecht und durchaus schlecht. Ich gebe zu, die meisten Lügen sind keine schwere Sünde. Denn es handelt sich meistens nicht um eine wichtige Sache. Aber auch die lässliche Sünde ist ein fauler Fleck. Der Königsberger Philosoph Kant hat einmal das schöne Wort geprägt: „Die Lüge ist der eigentlich faule Fleck im Menschen.“

Wir sind Kinder Gottes. Wir haben in der Taufe dem Teufel und seinen Werken widersagt und damit auch der Lüge den Abschied gegeben. Unser Vorbild ist Christus, von dem es im ersten Petrusbrief heißt: „In seinem Munde ward keine Lüge erfunden.“ Im Johannesevangelium steht das schöne Wort des Herrn: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Frei nämlich von der Sklaverei der Verstellung, der Lüge, der Heuchelei. Im Zuchthaus hat einmal ein Sträfling seinen Lebensgang, der mit einer Lüge begann, niedergeschrieben, und er hat diesen Lebensgang in Verse gefasst, und diese Verse möchte ich Ihnen vorlesen. Sie lauten:

„O hätt’ ich nie belogen der Mutter treues Herz.

Ich habe sie betrogen, dann bin ich fortgezogen.

Zum Glücke? Nein, zum Schmerz.

Könnt ich die Lüge streichen aus meines Lebens Buch

und dir die Hände reichen, o Mütterlein, zum Zeichen,

dass ich erlöst vom Fluch.

Doch ruhst du längst im Grabe, starbst einsam und allein.

Hätt’ ich dich nicht belogen und deine Lieb’ betrogen,

so könnt’ es anders sein.“

Amen.

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