Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Januar 2005

Die Zukunft – näher zu Gott

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir wünschen uns am Neujahrestage ein glückseliges neues Jahr, denn wir sind an einem neuen Tor angekommen, nein, wir haben es schon durchschritten in dieser Nacht, das Tor zu einem neuen Jahr und zu einem neuen Abschnitt unseres Lebens. Wir beglückwünschen uns. Warum eigentlich? Weil wir uns freuen, dass wir wieder ein Jahr angefangen haben? Oder weil wir traurig sind, dass schon wieder ein Jahr zu Ende gegangen ist? Wir alle spüren es, vor allem wir Älteren, wie die Zeit rennt. Wie kostbar ist jede Stunde! Wenn man es einmal richtig bedenkt, dann muss man zu der Erkenntnis kommen, dass wir mit jeder Stunde – von der Geburt an – dem Tode näher kommen. Jede Stunde bringt uns dem Tode näher. Und das ist ein Anlaß, uns zu bedenken und gefasst zu machen. Unaufhaltsam strömen die Jahre dahin; immer nur eine kleine Weile, und dann sind sie vergangen. Ein neues Jahr kommt und geht, und einmal kommt das letzte Jahr. Für manche von uns wird dieses Jahr das letzte sein.

Die rollende Zeit. meine lieben Freunde, ist ein Geheimnis, ein Geheimnis schon für die Philosophie, die darüber nachsinnt, was die Zeit eigentlich ist. Aber auch ein Geheimnis in praktischer Hinsicht, denn die Zeit zerfällt in die Vergangenheit und in die Zukunft, in die Zukunft, die wir noch nicht voraussehen können, und in die Vergangenheit, die wir nicht mehr besitzen.

Wir wollen heute über die Zukunft und morgen über die Vergangenheit nachsinnen. Die Zukunft hat zwei Eigenschaften: sie ist unerforschlich und sie ist schicksalhaft. Sie kommt über uns, ob wir es wollen oder nicht. Die vielen Tausende, die Erholung gesucht haben an den Stränden in Südostasien, meinten sich selbst etwas Gutes zu tun, und dann kam die Flutwelle und riß sie in den Tod. Die Zukunft ist unerforschlich und schicksalhaft. Sie liegt wie ein dunkler Gang vor uns. Vielleicht können wir die ersten Schritte noch sehen oder jedenfalls erahnen, aber dahinter wird es ganz finster. Erwartungsvoll und zuweilen angstvoll bohren sich unsere Blicke in das Dunkel und möchten es durchdringen. Welche Rätsel, welche Schicksale, aber auch welche Wunder mögen da auf uns warten? Vor allem am Anfang des neuen Jahres bewegt uns die freudige oder hoffende Erwartung: Jetzt, in diesem Jahre muss es geschehen, das Wunder, muss die Wende kommen, das Große, das wir erhoffen. Wie oft, meine lieben Freunde, haben mir gute Menschen gesagt: „Ja, in diesem Jahre kommt es. In diesem Jahre greift Gott ein. In diesem Jahre führt er die Wende in Kirche und Welt herbei.“ Und das Jahr ist vorbeigegangen, und die Wende wurde nicht herbeigeführt, und es ist nicht gekommen, wie man uns gesagt hat. Zugleich aber zittern wird ob dessen, was in der Zukunft kommen kann. Wir zittern in Bangigkeit, denn wir fürchten, dass wieder neues Leid über uns kommen könnte, eine neue große Heimsuchung, und dass es schon auf uns lauert, das Furchtbare, und dass wir nicht daran vorbeikommen können, dass wir es nicht sehen, vielleicht nicht einmal ahnen können. Jedes Menschenherz hat so eine Ahnung, eine bange Ahnung, hat ein Zittern, hat ein Vorgefühl von Leid und Abschied und Trennung, von Bitterkeit und Untergang. In diesen frohen und bangen Erwartungen liegt aber auch der Reiz der Zukunft. Einerseits drückt uns die Furcht nieder, das Schicksal, der Schauer des Schicksals möge uns wieder erfassen, andererseits wieder erhebt uns auch die Hoffnung und die Erwartung, dass uns etwas an Glück beschieden sein könnte.

Läßt sich das Dunkel nicht erhellen? Sind wir nicht in der Lage, in das Dunkel hineinzuschauen, die Zukunft aufzuhellen? Meine lieben Freunde, wäre es gut, wenn wir das könnten? Würde es uns Nutzen bringen? Ist es nicht so viel besser, wenn das Zukünftige uns verborgen ist? Würde nicht die Angst uns lähmen und uns verbrennen? Würden nicht viele Lebensantriebe verloren gehen, wenn wir wüssten, was uns bestimmt ist? Wenn der starke Reiz aufhörte, der aus dem Dunkel auf uns zugeht? Ich meine, es ist ein Meisterstück Gottes, dass er uns die Zukunft verborgen hat. Er hat uns über die Zukunft nur soviel mitgeteilt, wie wir wissen müssen, so dass wir mit ganzer Seele darauf warten können und hoffen würfen, dass wir wissen: Es gibt eine Vollendung, und unser Ziel liegt im Kommenden. Wir sind vorwärts gerichtet auf die aufgehende Sonne. Gerade soviel ist uns geoffenbart, dass unser Herz uns nicht verzehren muss in abergläubischer Furcht, dass wir nicht beben vor Schrecken und Angst vor einem augenlosen und grausamen Schicksal. Wir wissen, es gibt ein sehendes Auge, ein Vaterauge, das über uns wacht. Wir wissen, es gibt eine Hand, eine Vaterhand, die uns auch im kommenden Jahre führen wird. Diese Hand hat alle Wege in die Zukunft gebahnt und ist uns zu führen bereit.

Andererseits hat die Offenbarung uns alles verborgen, was wir nicht wissen müssen, was zu wissen uns nicht frommt. Sie hat uns alles verborgen, was unsere Hoffnung untergraben könnte, was unsere Tatkraft lähmen könnte, was unsere Lebensfreude zerstören könnte, was nur unsere Neugierde reizen würde. Das letzte und endgültige Ziel ist uns gezeigt, aber was dazwischen liegt, das brauchen wir in den Einzelheiten nicht zu wissen, das würde uns nur verwirren und entmutigen. Der Heiland hat gesagt: „Jedem Tag genügt seine Plage.“ Ich habe immer die Menschen tief bedauert, die infolge einer unglücklichen Anlage oder Einstellung die Plage der Gegenwart mit der Angst vor der Zukunft verbinden und so niemals Ruhe finden und immer von Angst gepeinigt und gepeitscht sind. Nein, jeder Tag hat seine Plage, und die reicht, die genügt. Wir brauchen sie nicht zu häufen und zusammenzufassen mit der Plage, die morgen über uns kommen kann. Wir sollen nicht niedergedrückt werden durch die Voraussicht auf die kommenden Dinge.

Freilich, es gibt auch ein gewisses natürliches Mittel, um ein wenig von der Zukunft zu erkennen. Wir brauchen nur die Charaktere der Menschen anzuschauen, dann wissen wir ungefähr, wie sie sich in der Zukunft verhalten werden, obwohl es auch da Überraschungen gibt, leidvolle und freudige. Wir brauchen nur unser Berufsleben anzusehen, und dann wissen wir in etwa, wie die Zukunft aussehen wird. Wir wissen, was wir in Zukunft zu arbeiten, zu tun, zu leisten haben. Der Beruf weist uns den Weg. Wir kennen auch unsere Gesundheit und wissen, wie sie sich entwickeln wird, ahnen wenigstens, wie sie sich entwickeln wird. Wir wissen, wie eine Krankheit fortschreitet, und so können wir auch hier einen Blick in die Zukunft tun. Freilich ist das, was wir auf diese natürliche Weise von der Zukunft erkennen können, dürftig, vieldeutig und unsicher. Ein direktes Schauen in die Zukunft ist uns nicht möglich.

Nun gibt es Menschen, die sich einen Blick in die Zukunft ertrotzen, erobern, erzwingen oder erschleichen wollen. Immer wieder heißt es: Da ist einer, der kennt sich aus, da sind weissagende Stimmen, da sind weissagende Bücher, da sind weissagende Sterne, da sind weissagende Tische, da sind weissagende Frauen. O, meine Freunde, gehen wir nicht hinaus! Es sind alles falsche Propheten! Nur Gott und von Gott erleuchtete Menschen können uns die Zukunft enthüllen, und die sind selten. Sie tun es nur, wo es zu unserem Heile und zu unserer wirklichen Lebensförderung nötig ist. Alles andere sind Schleichwege, Irrwege und Umwege, die die Menschen nur in Enttäuschung oder Verzweiflung führen.

Welches ist der Grund, dass wir die Zukunft nicht erkennen können? Warum ist uns der Blick nicht vergönnt? Weil er ontologisch unmöglich ist, denn die Zukunft existiert ja noch gar nicht. Es ist nicht so, dass die Zukunft irgendwo bereitliegt, um dann auf uns herabzufallen. Nein, die Tatsache ist, dass es noch gar keine wirkliche Zukunft gibt, die Zukunft ist noch nicht wirklich geworden. Unser Blick kann nur so weit reichen, wie sie Gegenwart reicht, die kommende Zeit ist leer, ist noch keine wirkliche Zeit. Es gibt also kein Geschöpfliches, das über den gegenwärtigen Augenblick hinausreicht, das schon in der nächsten Stunde lebt, das heute schon den morgigen Tag lebt. Aber ein Wesen gibt es, das über den gegenwärtigen Augenblick hinausreicht, ein Wesen, dem schon der heutige Abends gegenwärtig ist, ein Wesen, dem der morgige Tag, ja das ganze heute begonnene Jahr und alle kommenden Jahre ebenso gegenwärtig sind wie die vergangenen Zeiten, nämlich Gott. Er ist außerhalb der Zeit, er ist über der Zeit. Er wird nicht erst, wie wir, sondern er ist. Er ist das „Nunc stans“, wie die Theologen des Mittelalters sagen, das „stehende Jetzt“. Ihm ist alles gegenwärtig, was war, was ist und was sein wird.

Aber Gott gibt uns keinen Teil an diesem Wissen. Für uns ist es ein ständiges Hineinwachsen in die Zukunft, die Gegenwart, die sich immer verlängert, bis zu unserem letzten Tage. Wir kennen nur die einzige Wirklichkeit, und das ist die Gegenwart, durch die wir hindurchschreiten in die Zukunft. Gott allein trägt alles Kommende; er ist die Brücke, über die wir schreiten, er ist das Himmelszelt, in das wir hineinwachsen, er ist das Strombett, in das wir uns ergießen. Unsere kommenden Jahre und Jahrtausende haben wir nur in ihm, und wir können sie nur in ihn hineinlegen. Und deswegen müssen wir ihm vertrauen. Er ist das einzige Wesen, das unsere Zukunft kennt und trägt, das einzige Wesen, das jetzt unsere kommenden Weg nicht nur sieht, sondern auch auf ihnen schon geht, das jetzt schon unter dem Himmel all unserer kommenden Jahre wohnt.

Meine lieben Freunde, am 14./15. April 1912 ging vor Neufundland in Kanada der große Luxusdampfer Titanic zugrunde. Er war mit einem Eisberg zusammengestoßen, und der Eisberg hatte ihn, den angeblich unsinkbaren Dampfer, aufgerissen. Das Wasser strömte hinein, und die große Masse der Passagiere und der Besatzung ging elendig zugrunde. Auf dem sinken den Schiff aber spielte die Bordkapelle das Lied: „Nearer, my God, to Thee, nearer to Thee.“ Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir. Denn ein Verlangen ist erwacht in mir, zu schauen dein Angesicht in ungetrübtem Licht, wie es dein Wort verspricht. Näher zu dir, zu deinem Lichte hin, steht nun mein Sinn, und jeder Schritt zu dir ist mir Gewinn. Ich suche allein nur dich und folge willentlich der Hand, mit der du mich führest zu dir. Mir ist zwar unbekannt mein Lebenspfad, doch weiß ich, deine Hand die Leitung hat. Ob mich die Nacht bedeckt, ob mich der Satan schreckt, mich deine Rechte deckt, bin ich bei dir: Nearer, my God, to Thee, nearer to Thee.

Amen.

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