Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
22. Juni 2003

Die Kindheit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

 In jedem Leben gibt es Abenteuer zu bestehen. Ich meine jetzt nicht die Abenteuer, welche die Menschen aufsuchen, wenn sie hohe Berge besteigen oder die Eiswüste der Antarktis durchqueren. Nein, ich meine jene Abenteuer, die über jeden Menschen kommen, die jeder bestehen muß, wenn sein Leben gelingen soll. Das Wesentliche an einem Abenteuer ist darin gelegen, daß es erstens etwas Gefährliches an sich hat und zweitens etwas Unberechenbares. Gefahr und Unberechenbarkeit machen das Abenteuer aus. Solche Abenteuer kommen über jeden Menschen, grundsätzlich und unvermeidlich.

Das erste Abenteuer, das der Mensch bestehen muß, ist die Kindheit. Das Gefährliche an diesem Abenteuer besteht darin, daß in den ersten fünf bis sechs Jahren der Charakter des Kindes festgelegt wird. Was der Mensch einmal im Leben werden wird, das ist in den ersten fünf bis sechs Jahren entschieden. Das ist eine ganz entscheidende Periode des menschlichen Lebens. Was nachher kommt, das läßt sich nur mit verzweifelter Schwierigkeit ändern oder abstellen. Das Unberechenbare dieser Periode besteht darin, daß ein Kind ein Geheimnis ist, daß es undurchsichtig ist, daß es unerforschlich ist. Das Kind ist ja von großer Naivität. Alles wirkt auf es ein, alles bringt die junge Seele in Bewegung. Kinder nehmen alles ernst; es gibt nichts Ernsthafteres als Kinder. Andererseits sind Kinder auch wieder Hysteriker und Komödianten, weil sie mit überschwenglicher Erregbarkait ausgestattet sind, weil sie zu Übertreibungen neigen, weil sie Possen spielen, weil sie ein bewußtes oder halbbewußtes Kokettieren haben.

Man muß auch die Kinder beobachten, wenn sie sich etwas erzählen, mit welchen Ausdrücken, mit welchen Gestikulationen das vor sich geht. Diese Eigenschaften des Hysterischen und Komödiantischen bringen die Kinder leicht in eine schiefe Lage. Sie verwickeln sich in ihrem Lebensgefühl. Es kommt zu Verwicklungen und zu Komplexen. Komplexe sind Verwicklungen des menschlichen Lebens, und die Psychologen und die Psychiater sagen uns, daß sie schon im Kindesalter ausgebildet werden. Mit solchen Komplexen beladen geht das Kind in das Leben und durch das Leben.

Die Gefahr des kindlichen Lebens liegt in seiner hochgradigen Erregbarkeit und den Gestaltungen, die diese Erregbarkeit im Kinde hervorrufen. Das ist das Erschreckende: Jede Erregung des Kindes, wie Zorn oder Zärtlichkeit, Angst oder Zutrauen, Stolz oder Scham, Bitterkeit oder Dankbarkeit formt die kindliche Seele, bildet in der Seele Züge aus, die das ganze Leben hindurch andauern. Da stimmt es, daß wir die Wirkungen der auf das Kind sich beziehenden Vorgänge nicht oder nur schwer berechnen und voraussehen können. Wie ein bestimmter Eindruck auf ein Kind wirkt, ein Erlebnis, ein Schrecken, ein Schmerz, eine Angst, ein Lobeswort, ein Schimpfwort, ein Versprechen, eine Abweisung, was das Kind daraus macht, das können wir meistens nicht berechnen. Bei älteren Menschen ist es einfacher. Wenn man sie abweist, dann werden sie erbittert sein oder sie werden erzürnt sein, aber nach einiger Zeit wird sich das legen und sie werden darüber hinwegkommen oder sich selbst zu helfen wissen. Was aber ein Kind aus einer Abweisung, aus einem Unrecht macht, das ist ungewiß.  Ob seine Hilflosigkeit nicht schließlich dazu führt, daß dieses Erlebnis zur Verzweiflung führt, zu einer Verbitterung oder zu einem unheilbaren Minderwertigkeitsgefühl, das wissen wir nicht, aber damit geht das Kind durch das Leben. An einem solchen Erlebnis krankt es ein ganzes Leben lang. Darum müssen wir besorgt sein, wie wir auf Kinder einwirken. Wir müssen uns vorher Rechenschaft geben, wie eine Belobigung, wie ein Tadel, wie eine Zurechtweisung auf ein Kind wirkt, welchen Schaden wir da anrichten können.

Nun ist ja freilich eine Vorsorge getroffen, daß die Kinder diesen Zeitraum einigermaßen bestehen und überwinden können. Die Natur selbst, oder besser der Schöpfer der Natur hat dafür Vorsorge getroffen, daß das junge Menschenkind nicht blindlings in ein Meer geworfen wird, in dem es ertrinken könnte, sondern daß es auf einen gangbaren Weg gebracht wird, der zielsicher ist, der es nicht zerschellen läßt. Das Kind ist ja nicht ein einsames Atom, das Kind ist ein Glied in einer langen Kette, es trägt in sich die Erbmasse von zahllosen Vorfahren, und die meisten dieser Vorfahren haben das Leben irgendwie bewältigt, haben sich als lebenstüchtig erwiesen. Sie sind im Lebenskampf nicht erlegen, und so sind in den Keimanlagen des Kindes gesunde und lebensfähige niedergelegt.  So hat das Kind eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß es den Lebenskampf bestehen kann, weil seine Vorfahren diesen Kampf siegreich bestanden haben.

Es ist so, als ob eine Bahn vorbereitet wird, als ob ein Gleis gelegt wird, als ob ein Weg entstanden ist, den das Kind gehen kann und daß es auf Einflüsse der Umwelt und der Außenwelt reagieren kann, in einer Weise, die ihm Sicherheit gibt. Diese innere Form ist dem Leben und den Lebensäußerungen und Lebensforderungen angepaßt. Hieraus ergibt sich die Gewißheit, daß auch unsere Erziehungsmaßnahmen auf eine Empfänglichkeit stoßen, daß unsere Erziehungseinflüsse im Kind nichts zerstören werden, sondern daß es auf eine vernünftige Weise reagieren wird, daß die Reaktion auf unsere Erziehungseinflüsse im Kind schon festgelegt oder jedenfalls bereitgelegt sind. Wir können mit Sicherheit annehmen, daß unsere vernünftigen und gerechten Erziehungsmaßnahmen im Kinde auf den rechten Fleck zielen und daß das Kind darauf die rechte Antwort finden wird. Das wird sich im allgemeinen nicht schädlich auswirken, sondern das wird eine günstige Reaktion finden.

Doch sind auch lebensfeindliche Anlagen und Kräfte im Kinde. Durch die Ursünde sind gewisse übernatürliche Sicherungen des menschlichen Lebens weggebrochen, und auch die naturhafte Anlage ist geschädigt. Darum bedarf es, im Zustand der Gefallenheit, natürlicher und übernatürlicher Hilfen, göttlichen und menschlichen Beistandes. Durch die übernatürliche Erhebung wird dem Kind ein neues Ziel gesetzt, werden ihm neue Aufgaben gestellt, aber auch neue Kräfte zuteil. Aus dem ersten Abenteuer des Lebens werden weitere Abenteuer entstehen, auf das erste Abenteuer werden weitere Abenteuer folgen. Jeder Schritt bedeutet ein neues Wagnis, schafft neue Sicherungen, und jede neue Sicherung bedeutet eine neue Verwicklung, bedeutet ein neues Abenteuer. Aber diese anderen Abenteuer wollen wir an den kommenden Sonntagen uns vor Augen führen.

Amen.

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