Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
17. Februar 2002

Das Geheimnis der Bosheit in der menschlichen Existenz

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

An den vergangenen Sonntagen haben wir ein monumentales Bild vor uns erstehen lassen: Gott schafft Geschöpfe, und einem jeden Geschöpf vertraut er etwas von seiner Herrlichkeit an. Jedes Geschöpf trägt einen Strahl des göttlichen Lichtes in sich. Jedem Geschöpf ist ein Körnchen Schönheit Gottes zu eigen. Aber den vernünftigen Geschöpfen ist es aufgegeben, das Lied, das Gott in sie gelegt hat, selbst zu formulieren. Sie haben Verantwortung, daß sie das Lied Gottes harmonisch singen und nicht disharmonisch. Darin liegt begründet, daß die Weltsicht, die wir an den vergangenen Sonntagen vor uns entworfen haben, noch einer Ergänzung bedarf: Es gibt in dieser Welt auch das Böse; es gibt auch die Sünde. Die Erfahrung sagt es uns, und die Offenbarung lehrt es uns: Es gibt das Geheimnis der Bosheit.

Damit wir, wenn wir von der Sünde sprechen, uns nicht in Phantasien verlieren, wollen wir eine Sünde, eine historische Sünde betrachten, eine Sünde, die tatsächlich geschehen ist, die Sünde eines Menschen, der sehr hochgestellt war, sehr begabt, mit glänzendem Verstand, mit starkem Willen, etwas Glühendes in ihm, freilich auch etwas Dämonisches, die Sünde eines Menschen, zu dem Jesus sagte: „Freund“, den er ausgewählt hatte, den er in seine Apostelschar aufgenommen hatte, die Sünde des Judas Iskariot. Wir wollen den Weg dieses Mannes betrachten, seinen Fall und seinen Untergang.

Als Jesus die Apostel berief, war unter ihnen auch der Judas Iskariot. Nun kann man fragen: Warum hat Jesus ihn denn berufen? Er hat doch gewußt, was das für einer ist und was aus ihm werden wird. Die Antwort lautet: Er hat ihn berufen, weil ihn der Vater ihm gegeben hat. Er nimmt jeden, den der Vater ihm gibt, und Judas ist ja nicht der einzige gewesen; er hat viele Nachfolger gefunden. Jesus nimmt sie alle an, weil und wenn der Vater sie ihm gibt. Judas wird sich am Anfang von den anderen Aposteln kaum unterschieden haben. Er war nicht schlechter, er war auch nicht besser als sie. Vielleicht war er sogar besonders begabt, und wir werden gleich sehen, daß Jesus und die Apostel ihn ausgezeichnet haben. Er wird wie die übrigen Apostel eine weltliche Auffassung vom Reiche Gottes gehabt haben, und er wird sich das ungefähr so vorgestellt haben: Eines Tages wird Jesus den Aufstand ausrufen, dann wird die Burg Antonia gestürmt, dann wird der Feind, das „Schwein“, nämlich die Römer, aus dem Lande gejagt, dann herrscht Israel vom Zweistromland bis Gibraltar, und die Könige kommen und lecken den Staub von den Füßen des Messias. Und sie, die Apostel, sitzen auf zwölf Thronen neben dem Herrn. So ungefähr wird er sich das vorgestellt haben. Aber da war noch etwas in seiner Seele, das sich schlimm auswachsen konnte, nämlich ein Mangel an Liebesfähigkeit. Er konnte nicht eigentlich lieben, er konnte sich nicht ausgeben, er konnte sich nicht verschwenden, und das gehört ja zur Liebe. Und so nahm er Anstoß daran, wenn andere es taten. Als die Frau Jesus mit kostbarer Salbe überschüttete, da hat er sich geärgert: „Das hätte man den Armen geben können.“ Es ist ja nicht seine Salbe, es ist ja nicht sein Geld, aber er gehört zu den Menschen, die andere nicht gewähren lassen können, die anderen nicht die Freiheit lassen können.

Er selbst würde so etwas nie tun, denn er ist berechnend. Er versteht etwas von Buchführung. Deswegen wird ihm auch die Kasse anvertraut. Es wird nicht sehr viel in dieser Kasse gewesen sein, die Jesus und seine Jünger geführt haben, aber Judas als verständiger Buchhalter bekommt die Kasse übertragen, und er wartet auf das Kommen des Reiches Gottes. Es verzögert sich, da wird er unruhig. Er hat daheim einen Kramladen, und der geht schlechter, wenn er nicht zu Hause ist. Da sucht er sich schadlos zu halten, und so nimmt er aus der Kasse, was andere für den Herrn und die Jünger eingelegt haben. Das Schlimme ist, daß er das alles vor sich zu rechtfertigen weiß. Er ist ein Mensch, der niemals an sich zweifelt, der niemals an sich irre wird, der immer der Gerechte, der Korrekte ist. Er weiß alles zu rechtfertigen. Was er der Frau mit dem Alabastergefäß vorwirft, das ist soziale Fürsorge, das ist gesunder Menschenverstand, das ist Sorge für die Armen. Und was er an sich nimmt, das ist gerechter Ausgleich für das, was er an Schaden erleidet.

Nun hat der Herr sich bemüht, seine Jünger zu erziehen. Er wollte ihnen an erster Stelle eine großzügige Haltung gegenüber dem irdischen Hab und Gut angewöhnen. Als er sie ausschickte zur Mission, da sagte er, sie sollen nichts mitnehmen, keinen Mantel und keinen zweiten Rock und keiner Schuhe. Sie sollen sich darauf verlassen, daß die Menschen, denen sie die Frohbotschaft künden, sie ernähren, sie aufnehmen und sie beherbergen. Das erschien dem Judas ziemlich verstiegen und riskant. Ihm hat noch niemals jemand etwas geschenkt, aber er hat auch noch niemandem etwas gegeben. Und so hat er sich eingedeckt, als die Apostel auszogen. Er sagte: Ich will mal sehen, ob mir die Menschen tatsächlich etwas geben.

Dann suchte der Herr die Apostel zu erziehen, daß sie für andere da sein sollten. Er hat einen neuen Beruf geschaffen, nämlich den Beruf, für andere da zu sein. Einen solchen Beruf braucht das Reich Gottes. Sie sollten also hingehen, die Menschen aufsuchen und trösten, die Kranken heilen, sich ihrer annehmen, die Kinder segnen. Daran hatte Judas wenig Geschmack. Was man heute brauchte, das waren nach seiner Meinung Männer, Soldaten, Kämpfer für die kommende Revolution, nicht da sich mit Kindern und Frauen abgeben, die sollen zu Hause bleiben.

Dann suchte der Herr die Jünger zur Demut zu erziehen. Er sah, wie sie sich stritten um die ersten Plätze: Wer wird der Ministerpräsident, und wer wird Außenminister? Da stellte er ein Kind in ihre Mitte. So arglos, so harmlos, so wenig berechnend muß man sein wie so ein Kind, wenn man in das Reich Gottes eingehen will. Die Jünger haben sich nun der Lehre Jesu angepaßt, einer aber nicht. Judas hat die Belehrungen abgewiesen. So entstand ein Spalt, eine Kluft, eine Entfremdung zwischen Judas und den Jüngern – und allmählich eine Abneigung. Nun hätte er ja gehen können. Er hätte sagen können: Meister, ich sehe, wir verstehen uns nicht mehr. Gehe du deine Wege, ich gehe meine, leb wohl! Aber das hat er nicht getan. Er blieb bei Jesus, denn er sagte: Man kann nie wissen, vielleicht kommt das Reich Gottes doch noch durch Jesus von Nazareth, und dann bin ich der Gelackmeierte, wenn ich nicht dabei bin. Besser zwei Eisen im Feuer haben als gar keines oder nur eines. Und so ist er geblieben. Er mußte aber, um zu bleiben, heucheln; er mußte sich verstellen. Er mußte so tun, als ob er noch dazugehörte, obwohl er sich innerlich weit entfernt hatte. Und Heuchelei tut weh, Heuchelei erzeugt Wut gegen die anderen, und die Wut führt zum Haß. Und so ist im Herzen des Judas Iskariot der Haß gegen Jesus und seine Jünger aufgestiegen. Er ging zu der anderen Partei und fand, das sind gar keine üblen Leute. Ich verstehe nicht, wie Jesus sich so mit ihnen anlegen kann; die sind gar nicht übel. Und er erinnerte sich an seine staatsbürgerlichen Pflichten. Eigentlich – eigentlich müßte ich ihn anzeigen. Was Jesus vorhat, das ist Hochverrat. Und so reift in ihm der Entschluß, Jesus auszuliefern. So kommt es zu seinem Fall.

Beim Letzten Abendmahl hat Jesus noch einmal versucht, ihn zurückzuholen. Er wußte, was in Judas vorging, aber er hat ihn nicht aufgegeben. Bei der Fußwaschung hat auch Judas vom Herrn die Füße gewaschen bekommen, und vielleicht hat ihm der Herr da einen Blick geschenkt wie später dem Petrus, einen Blick der Liebe und der Güte und des Wohlwollens. Aber der berührt Judas nicht. Er ist schon zu weit weg. Er läßt sich nicht mehr zurückholen.  Dann hat der Herr ihm noch eine Auszeichnung erwiesen. Es war eine besondere Geste, wenn der Gastgeber einen Bissen in die Schüssel tunkte und einem bevorzugten Gast überreichte. Und eben das tut Jesus mit Judas. Judas spürt: Er will mich gewinnen, er will mich zurückholen. Aber er will nicht. Er will nicht. Er stürzt hinaus. „Es war aber Nacht.“ Es war Nacht, nicht nur weil die Sonne untergegangen war, es war Nacht, weil in der Seele des Judas alle Lichter erloschen waren. Nichts Gütiges, nichts Herzliches, nichts Freundliches war mehr in seiner Seele, nur noch Abneigung, Trennung und Haß. Und nicht einmal den Verrat kann er umsonst begehen. Er hat immer gerechnet, und so rechnet er auch jetzt. Und so geben sie ihm 30 Silberlinge. Er nimmt sie, ist böse; er schimpft, und sie schauen ihm verächtlich nach: So ein Lump! Dann geht er in den Garten, von dem er weiß, daß der Herr sich dort befindet. Da vollendet sich seine Heuchelei. Er hätte ja sagen können: Er sieht so und so aus. Er hätte ihn beschreiben können. Er hätte auch auf ihn zeigen können: Das ist er. Nein, mit dem Zeichen der Liebe, mit einem Kuß verrät er den Menschensohn. Das ist die Psychologie der Heuchelei, daß sie ganz unnütz heuchelt. Und das ist sein Fall.

Im 111. Psalm heißt es: „Der Sünder wird schon sehen. Dann wird er mit den Zähnen knirschen und vor Grimm vergehen.“ Wahrhaftig, jetzt erfüllt sich dieser Psalm an Judas. Er wird schon sehen! Auf einmal fällt es wie ein Blitz in seine Seele, was er getan, was er angerichtet hat seinem Meister, seinem Heiland, seinem Herrn. Und wenn ein stolzer Mensch sich blamiert sieht, da wird er wütend, wütend gegen sich und wütend gegen die anderen, und da packt ihn die Scham, die Betretenheit: So einer bin ich, und ich wollte doch einer der Ersten sein, ich wollte doch hervorgehoben sein. Ich war doch immer stolz auf mich selbst. Aber jetzt packt ihn die Scham. Und dann ergreift ihn die Verlassenheit. Die Jünger hat er verlassen, die Priester wollen nichts von ihm hören. „Sieh du zu!“ sagen sie zu ihm. Sie lehnen es ab, mit ihm weiter zu verhandeln. Man liebt den Verrat, aber man verachtet den Verräter. Und in seinem Zorn und in seiner Wut wirft er die Silberlinge in den Tempel. Er kann es nicht mehr sehen, das Geld, das geliebte Geld; er wirft es in den Tempel: „Ich habe unschuldig Blut verraten!“ Und dann kommt der letzte Akt der Tragödie, dann packt ihn die Verzweiflung. Dann gibt er alles auf für immer und gibt es zu früh auf. Er, der alles festhalten wollte bis zum letzten Augenblick, er gibt es zu früh auf. Der Blitz ist in ihn gefahren, vielleicht als Jesus durch die Straßen von Jerusalem wankte, vielleicht als er am Kreuze hing. Judas hätte nur hinaufzulaufen brauchen auf den Kalvarienberg, er hätte nur das Kreuz zu umfassen brauchen, er hätte nur am Kreuze niederzufallen brauchen neben Maria Magdalena, neben der Mutter des Herrn, und zu sagen brauchen: „Heiland, Jesus, erbarme dich meiner!“ Er wäre angenommen worden, er wäre wieder aufgenommen worden, er wäre ein Apostel geblieben, er wäre noch ein Heiliger geworden. Aber er gibt alles auf und hat es zu früh aufgegeben. Und wenn er, was zu fürchten ist, bei dieser Haltung verschieden ist, als er sich erhängte, dann flieht er eine ganze Ewigkeit von Gott weg, dann ist in ihm ein Gotteshaß, ein Menschenhaß und ein Selbsthaß. Und es war doch auch in ihm einmal ein Kind, ein liebenswürdiges Kind voll Vertrauen und voll Zuversicht. Auch er hatte doch einmal in seiner Jugend einen Idealismus gehabt. Er war doch einmal berufen worden, und der Heiland hatte zu ihm gesagt: „Freund“. Und jetzt? Jetzt ist es so geworden. Jetzt muß er sich sagen: So einer bin ich, so einer!

Amen.

 

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