Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
30. Juli 2000

Die Wesensart der aktuellen Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Von Gott loslösen kann sich der Mensch, aber das zerrissene Band mit Gott wieder knüpfen, das vermag er nicht. Gott muß kommen und ihn heimholen. Das ist die Wahrheit, daß die Rechtfertigung, also die Gerechtmachung des Menschen vor Gott, nur von Gott ausgehen und von Gott durchgeführt werden kann. Gott schafft im Menschen die Aufrichtung des Reiches Gottes. Aber freilich, der Mensch muß zustimmen. Gott hat dem Menschen die Freiheit gegeben, und er nimmt sie ihm in alle Ewigkeit nicht mehr. Darum muß der Mensch auch, wenn Gott ihn rechtfertigt, einwilligen. Es ist also gewissermaßen eine Partnerschaft zwischen Gott und Mensch, wenn die Rechtfertigung geschieht, aber freilich eine Partnerschaft von ungleichen Partnern, denn Gott handelt als Gott, das heißt als Schöpfer, und der Mensch handelt als Mensch, das heißt als Geschöpf. Gott ruft, und der Mensch antwortet, aber die Antwort, die der Mensch gibt, ist von Gott gewirkt, freilich so, daß die Freiheit des Menschen dabei immer gewahrt bleibt.

Die Rechtfertigung ist das Werk Gottes. Wenn der Mensch in den Willen Gottes, ihn zu rechtfertigen, einstimmt, bedarf er dazu des göttlichen Impulses. Um die heiligmachende Gnade zu gewinnen – anders ausgedrückt –, braucht er die helfende Gnade. Er muß ausgerüstet werden, die Rechtfertigung aus der Hand Gottes zu empfangen, und diese Ausrüstung nennen wir die Wirkgnade, die Tatgnade, die aktuelle Gnade oder die helfende Gnade. Ohne helfende Gnade kann der Mensch nicht in den Gnadenstand, in den Christenstand eingeführt werden. Gott rüstet ihn aus, indem er ihn in einer übernatürlichen Weise anrührt. Und so ist er dann fähig, dem Wollen Gottes beizustimmen und den Rechtfertigungszustand entgegenzunehmen. Die helfende Gnade oder die aktuelle Gnade ist eine von Gott aus freier Liebe gewährte, vorübergehende übernatürliche Einwirkung und Ausrüstung zu heilshaftem Handeln. Ich wiederhole noch einmal diesen wichtigen Satz: Die helfende oder aktuelle Gnade ist eine von Gott aus freier Liebe gewährte, vorübergehende übernatürliche Ausrüstung oder Hilfe zu heilshaftem. d. h. übernatürlichem Handeln.

Die Theologie hat sich bemüht, die aktuelle oder helfende Gnade in verschiedene Arten einzuteilen. Das ist notwendig, um die Fülle dessen, was sie beinhaltet, in den Griff zu bekommen. So unterscheidet man erstens zwischen einer tätigen und einer mittätigen Gnade. Die helfende Gnade ist eine tätige, insofern die Initiative von Gott ausgeht ohne uns. Gott wirkt in der tätigen Gnade in uns, aber ohne uns. Die mittätige Gnade ist dagegen jene, wo der Mensch in der Kraft der Gnade Gottes mitwirkt. Die zweite Unterscheidung ist die zwischen anregender und beistehender Gnade. Die anregende Gnade sorgt dafür, daß der Mensch aufgeweckt wird, um am heilshaften Handeln, das Gott ihm ansinnt, teilzunehmen. Die beistehende Gnade ist jene, in der der Mensch dann heilshaft handelt. Viele von Ihnen kennen das schöne Gebet: „O Gott, komm meinem Handeln mit deiner Eingebung zuvor und begleite es mit deiner Hilfe, damit all mein Beten und Handeln von dir seinen Anfang nehme und durch dich seine Vollendung finde.“ Ein wunderschönes Gebet, das wir oft beten sollten, um unser Inneres für die Gnade zu bereiten. „O Gott, komm meinem Handeln mit deiner Eingebung zuvor und begleite es mit deiner Hilfe, damit all mein Beten und Handeln stets von dir seinen Ausgang nehme und durch dich seine Vollendung finde.“ Die dritte Unterscheidung ist die zwischen zuvorkommender, begleitender und nachfolgender Gnade. Die zuvorkommende Gnade ist jene, die der menschlichen Willenszustimmung vorangeht und auf sie hinzielt. Die begleitende Gnade, nun, das haben wir schon angedeutet, ist dann vorhanden, wenn der Mensch den göttlichen Anregungen zustimmt und in ihnen tätig wird. Die nachfolgende Gnade besteht darin, daß der Mensch im Guten verharrt, daß er bleibend in der Gnade handeln will. Eine vierte und letzte Unterscheidung ist die zwischen hinreichender und wirksamer Gnade. Die hinreichende Gnade gibt dem Menschen die Möglichkeit zu handeln, aber ohne daß er handelt; die hinreichende Gnade bleibt also unwirksam. Die wirksame Gnade ist jene, die dem Menschen nicht nur die Möglichkeit, die Kraft zum Handeln gibt, sondern auch das Handeln selbst hervorbringt.

Diese Unterscheidungen sind notwendig, um in das Wesen der aktuellen Gnade einzudringen, um ihre verschiedenen Funktionen im Menschen klarzumachen. Die Gnade freilich bleibt immer dieselbe, weil ja Gott einfach ist. Aber der Mensch ist nicht immer derselbe. Je nach seiner Verfaßtheit müssen wir diese verschiedenen Arten der Gnade unterscheiden.

Es erhebt sich die Frage, was die helfende Gnade von der allgemeinen göttlichen Mitwirkung unterscheidet. Wir wissen ja: Gott ist der Schöpfer, und die Schöpfung kann nur im Dasein verharren, wenn Gott sie nicht mehr losläßt. Das heißt, Gott muß nicht nur Schöpfer, er muß auch Erhalter sein, und die Erhaltung ist eben eine fortgesetzte Schöpfung. Diese ständige Mitwirkung mit allem, was geschieht und was der Mensch tut, nennen wir die allgemeine göttliche Mitwirkung. Ich kann nicht den Arm heben, ohne daß Gott seine Kraft dazu gibt. Ich kann kein Wort aussprechen, ohne daß Gott als der Erstbeteiligte diese Handlung wirkt. Aber das ist eben Ausfluß der Natur. Das heißt: Die allgemeine göttliche Mitwirkung setzt nur das in Bewegung, was der Schöpfer dem Menschen bei der Erschaffung gegeben hat. Im Unterschied dazu besitzt die helfende Gnade eine andere Qualität. Sie fließt nicht aus der Natur, sie setzt nicht die Natur in Bewegung, sondern sie ist übernatürlich, sie fügt etwas zu der Natur hinzu. Mit der ungeschaffenen und der geschaffenen helfenden Gnade wird die Natur erhoben; sie wird erhoben in eine andere Sphäre, in eine andere Existenzweise, eben in die übernatürliche Existenzweise, d. h. in die Weise der Existenz, die dem dreipersönlichen göttlichen Leben zu eigen ist.

Die helfende Gnade ist auch immer nur vorübergehend. Während die heiligmachende Gnade dauernd ist, solange wir sie nicht verlieren, ist die helfende Gnade vorübergehend; sie ist ein vorübergehender Impuls, ein Bewegungsantrieb, um eben heilshaft zu handeln. Das unterscheidet sie nicht nur von der allgemeinen göttlichen Mitwirkung, die ja immer andauert, sondern auch von der heiligmachenden Gnade. Die helfende Gnade geht nun auf alle Seelenvermögen des Menschen; sie betrifft den Verstand, den Willen und das Gemüt. Die Theologie spricht deswegen von Verstandesgnaden, von Willensgnaden und von Gemütsgnaden. Dabei müssen wir uns freilich klarmachen, daß im Menschen die drei Vermögen immer beisammen sind. Verstand, Wille und Gemüt lassen sich nicht trennen. Sie sind zu unterscheiden, und sie müssen unterschieden werden, aber sie sind beim Menschen immer beisammen, wobei jeweils die Betonung auf dem einen oder auf dem anderen Vermögen liegen wird. Deswegen ergreifen die aktuellen Gnaden auch alle drei Vermögen, aber freilich wiederum in besonderer Betonung einmal den Verstand, das andere mal den Willen und ein drittes mal das Gemüt. Und so sprechen wir davon, daß die aktuelle Gnade den Verstand erleuchtet, den Willen kräftigt und das Gemüt erwärmt. Erleuchtung des Verstandes, Kräftigung des Willens, Erwärmung des Gemütes, das sind die Wirkungen der aktuellen Gnade.

Diese Einteilung, welche die Theologen vornehmen, ist nicht von ihnen erfunden, sondern sie ist in der Heiligen Schrift begründet.

Erstens: Die Verstandesgnade. „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt.“ Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet – Verstandesgnade! – kam in die Welt. Das ist hier von Johannes ausgesagt. Die Willensgnade wenige Zeilen später: „Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, ihnen, die an seinen Namen glauben.“ Hier ist der Wille angesprochen. Er gab ihnen Macht, Kinder Gottes zu werden. Die Gemütsgnaden sind im Brief des Apostels Paulus an die Epheser bezeugt, wenn er schreibt: „Ich bete, daß der Gott unseres Herrn Jesus Christus euch den Geist der Weisheit und Offenbarung gebe, ihn recht zu erkennen. Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr einsehet, zu was für einer Hoffnung ihr berufen seid und wie reich sein herrliches Erbe unter den Heiligen ist.“

Von diesen Gnaden, von diesen verschiedenen Arten der Gnade ist auch in der Liturgie immer wieder die Rede, etwa am Mittwoch nach dem 1. Fastensonntag: „Wir bitten dich, Herr, erhelle unseren Geist mit dem Lichte deiner Klarheit, damit wir sehen können, was zu tun ist, und auszuführen vermögen, was recht ist.“ Hier wird um die Erleuchtung gebetet, vor allem um die Verstandesgnade. Auch daß die Gnade zuvorkommt und uns begleitet, wird in den Orationen der heiligen Messe oft ausgesprochen, etwa am 16. Sonntag nach Pfingsten: „Wir bitten dich, o Herr, deine Gnade möge uns allezeit vorangehen und nachfolgen und uns unablässig zu guten Werken aneifern.“ Hier sind eigentlich alle drei Arten der helfenden Gnade ausgesprochen. Die Gnade möge uns vorangehen, sie möge uns nachfolgen und sie möge uns unablässig begleiten und zu guten Werken aneifern.

Die helfende Gnade ist immer zugleich heilend und erhebend. Sie ist heilend, d. h. sie sucht die Kraft der Konkupiszenz zu brechen; sie sucht die schlechten Neigungen in uns zu dämpfen. Die Heilung kann aber nicht geschehen, wenn nicht gleichzeitig die Erhebung folgt. Denn warum sind wir denn geistlich krank? Ja, weil wir aus dem Leben Gottes herausgefallen sind. Die Unordnung entsteht deswegen, weil sich der Mensch von Gott abwendet, und deswegen kann auch die Heilung nicht erfolgen, wenn er sich ihm nicht zuwendet, wenn er nicht in das innergöttliche Leben wieder hineingenommen wird. Deswegen ist jede heilende Gnade auch gleichzeitig eine erhebende, in das übernatürliche Leben einführende Gnade. Der Mensch wird nicht geheilt, wenn er nicht geheiligt wird.

Nun erhebt sich freilich dieselbe Frage wie bei der heiligmachenden Gnade, nämlich: Kann man denn die helfende Gnade feststellen? Gibt es Zeichen der helfenden Gnade? Eine untrügliche Gewißheit, die so unerschütterlich ist wie die Glaubenswahrheiten, gibt es nicht. Aber es gibt eine moralische Gewißheit, d. h. man kann mit einer ziemlichen Wahrscheinlichkeit sagen: Das ist Antrieb der Gnade und nicht durch Autosuggestion oder Suggestion zu erklären. Wenn eine Bekehrung plötzlich erfolgt, wenn sie in die Tiefe geht, wenn sie dauerhaft ist, wenn sie Kraft gibt, die Gesinnung wirklich bleibend zu ändern, dann ist mit höchster Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß diese Wirkungen der helfenden Gnade zu verdanken sind. Wir haben Beispiele für solche plötzliche Umwandlung, die aber dauerhaft geblieben ist. Denken Sie an den Apostel Paulus, der vor Damaskus eine Lichterscheinung hatte, die ihn vom wütenden Verfolger Christi zum glühenden Apostel des Herrn machte. Oder denken Sie an die Apostel, die furchtsam waren, sich verkrochen im Abendmahlssaal zu Jerusalem. Aber als dann der Pfingstgeist mit feurigen Zungen auf sie gekommen war, da waren sie mutig und traten vor die Menge und vor den Hohen Rat und bezeugten: „Wir können nicht schweigen von dem, was wir gesehen und gehört haben.“ Auch im Leben mancher Heiliger kommen solche Bekehrungen, die der helfenden Gnade zu verdanken sind, vor. Augustinus schreibt in seinen Bekenntnissen über die Stunde seiner Bekehrung: „Siehe, da höre ich eine Stimme vom Nachbarhaus herüber, singenden Tones, die Stimme wie von einem Knaben oder Mädchen, die immer wieder rief: Nimm und lies! So ging ich schnell zum Platz zurück, wo noch Alypius saß. Dort hatte ich einen Band ,Die Briefe der Apostel‘ liegen gelassen. Ich griff danach. Ich öffnete, und schweigend las ich die Stelle, auf die zuerst mein Auge fiel: ,Nicht im Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Zank und Streit, sondern zieht den Herrn Jesus Christus an und pflegt das Fleisch nicht zur Erregung eurer Lüste!‘ Ich wollte nicht weiterlesen und brauchte auch nicht weiterzulesen, denn kaum, da ich den Satz zu Ende gelesen, kam in mein Herz ein Licht der Zuversicht und der Gewißheit, und alle Macht des Zweifels war zerstoben.“

Selig, wer auf diese Weise von der aktuellen Gnade ergriffen wird und ihr einstimmt. Für gewöhnlich ist das Wirken der aktuellen Gnade bescheidener. Die Freude am Guten, das ist ein Wellenschlag der aktuellen Gnade; die Reue über die Sünden, das ist ebenfalls eine Auswirkung der helfenden Gnade; der Wille anderen zu helfen, das ist eine Wirkung der Tat- oder Wirkgnade. Hinreichende Gnade wird jedem gewährt; ob sie wirksam ist, das hängt vom Menschen ab, dem die Gnade gegeben wird. Der Heiland hat das in einem wenig bekannten Gleichnis im Matthäusevangelium deutlich gemacht: „Zwei werden an einer Mühle mahlen, der eine wird aufgenommen, der andere wird verworfen.“

Amen.

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