Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. Mai 1999

Das Wesen des Fegfeuers

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Wesen des Fegfeuers ist uns weithin unzugänglich. Was wir aus der Offenbarung wissen, läßt sich eigentlich in den zwei Sätzen zusammenfassen:

1. Das Fegfeuer ist ein Zustand großer Pein,

2. Die Pein besteht wesentlich in dem selbstverschuldeten Verlust der Anschauung Gottes.

Freilich kann man durch Analogie, also durch Heranziehung anderer Wahrheiten des christlichen Glaubens zu weiteren Aussagen über den Zustand der Reinigung, den Zustand der Läuterung gelangen. Wenn man das Wesen Gottes und des Menschen, den Ernst der göttlichen Heiligkeit und die Verantwortung des Menschen bedenkt, wenn man sich besinnt auf das Wesen der Gottesschau und auf die Veranlagung des Menschen zu dieser Gottesschau, dann kann man die eine oder andere höchstwahrscheinliche Folgerung aus diesen Prämissen ziehen.

Zunächst einmal ist klar, daß die Abgeschiedenen irgendwo sein müssen: sie haben sich nicht aufgelöst. Die Verstorbenen sind des Leibes entledigt, aber der Geist lebt. Nun ist der Geist freilich ohne Ausdehnung, deswegen braucht er keinen Raum, wie ein Körper einen Raum braucht. Aber unabhängig davon muß es eine Stelle geben, an der sich die abgeschiedenen Seelen befinden. Sie ist uns nicht bekannt. Wir können im Weltall keinen Ort angeben, den wir mit dem Fegefeuer identifizieren können.

Der Vorgang der Läuterung vollzieht sich in folgender Weise. Die Abgeschiedenen durchschauen sich in einer tiefen und bis dahin nicht möglichen Weise. Sie erkennen den Abstand, in dem sie von Gott sind. Sie erblicken ihre Unfertigkeit, weil ihnen eben noch Reste der Sünde anhaften. Sie spüren, daß ein Widerspruch zwischen ihnen und Gott besteht, weswegen sie ja der Anschauung Gottes entbehren müssen. Dieses Sich-Durchschauen hat zur Folge, daß die Armen Seelen sich selbst verurteilen. Sie wissen: Der Zustand, in dem sie sich befinden, ist von ihnen selbst verschuldet. Sie haben Reue und Scham, weil sie daran schuld sind, daß sie noch nicht zur Anschauung Gottes gelangt sind. Diese Selbstverurteilung ergreift den Menschen um so mehr, je näher er Gott kommt, weil er sich im Lichte Gottes immer besser erkennt und immer stärker durchschaut. Diese Erkenntnis und diese Verurteilung bedingen den Schmerz, in dem die abgeschiedenen, im Fegfeuer befindlichen Seelen sich verzehren. Sie haben einen unsagbaren Schmerz wegen ihrer Unfertigkeit und Zerrissenheit. Ihre Sehnsucht nach Gott ist groß, aber sie bleibt vorläufig ungestillt; das bedingt den Schmerz. Die Theologen unterscheiden zwei Arten des Schmerzes, nämlich den Schmerz des Verlustes und den Schmerz der Empfindung oder auch die Strafe des Verlustes und die Strafe der Empfindung. Die Strafe des Verlustes besteht darin, daß die abgeschiedenen, im Fegfeuer befindlichen Seelen Gottes noch entbehren müssen. Sie verlangen mit jeder Faser ihres Wesens nach ihm, aber noch ist ihr Wesen nicht ausgereift, um in die Herrlichkeit Gottes eingehen zu können. Das ist für sie ein unsagbarer Schmerz. Dazu kommen wahrscheinlich noch andere Hemmungen, die sich aus der Geschöpflichkeit des Menschen ergeben. Es gibt wahrscheinlich auch noch eine Strafe der Empfindung. Beide Strafen zusammen machen den Schmerz und die Qual des Fegfeuers aus.

Über das Ausmaß dieser Strafen ist uns nichts geoffenbart, aber heilige Seelen und große Theologen machen Andeutungen über das Ausmaß der Qual. Die heilige Katharina von Genua etwa sagt, daß der Schmerz des Fegfeuers größer ist als jeder irdische Schmerz. Ähnlich Theresa von Spanien, die der Meinung ist, daß die Fegfeuerstrafen weit, weit alle irdischen Peinen übertreffen. Diese beiden mystisch veranlagten Frauen werden bestätigt durch das Urteil des größten Theologen der katholischen Kirche, nämlich durch Thomas von Aquin. Auch er ist der Meinung, daß die Fegfeuerstrafen größer sind als irdische Peinen, ja, daß die geringste Fegfeuerstrafe mehr schmerzt als die größten Peinen auf Erden. Ähnlich spricht sich der heilige Bonaventura aus. Diese Strafen freilich dauern nur so lange an, bis der Mensch geläutert ist. Die Nachlassung von der Sünde, die Befreiung von der ungeordneten Begierlichkeit und die Abbüßung von Sündenstrafen fallen zusammen. Das heißt: Die Sündenstrafen hören auf, wenn der Mensch ganz geläutert ist. Sobald alle läßlichen Sünden nachgelassen sind und sobald die ungeordnete Begierlichkeit im Menschen verschwunden ist, hören die Fegfeuerstrafen auf. Es sind also drei Dinge, von denen man im Fegfeuer befreit wird: von läßlichen Sünden, von ungeordneter Begierlichkeit und von Sündenstrafen.

Die Dauer, welche diese Läuterungsleiden haben, ist uns unbekannt. Es ist ein Geheimnis Gottes, wie lange die Fegfeuerstrafen, wie lange die Sühnestrafen, wie lange die Reinigung und Läuterung im Fegfeuer anhält. Große Theologen, wie der heilige Thomas von Aquin, treffen eine Unterscheidung. Thomas von Aquin ist der Meinung, daß die läßlichen Sünden im Fegfeuer „alsbald“ nachgelassen werden, daß aber die Umschaffung der ungeordneten Begierlichkeit einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt. Je tiefer also läßliche Sünden in der ungeordneten Begierlichkeit verwurzelt sind, um so länger werden nach Meinung des heiligen Thomas die Fegfeuerstrafen anhalten. Das kirchliche Lehramt hat sich einmal mit der Dauer der Fegfeuerstrafen befaßt, nämlich Papst Alexander VII. Er hat den Satz verworfen, daß keine Fegfeuerstrafe über 20 irdische Jahre hinaus andauere. Damit ist nichts gesagt über die wirkliche Dauer, sondern es ist nur jede zeithafte Bestimmung der Fegfeuerstrafen abgewiesen. Wir wissen nicht, wie lange Fegfeuerstrafen dauern können und dauern müssen.

Die im Fegfeuer befindlichen abgeschiedenen Seelen können nicht mehr genugtun für das, was sie in ihrem Leben versäumt haben; sie können nur noch genugleiden. Es gibt keine Verdienstmöglichkeit im Fegfeuer. Das läßt sich leicht einsehen. Verdienste kann der Mensch nur sammeln, wenn er vor die Entscheidung zwischen Gut und Böse gestellt ist. Diese Entscheidung ist für die im Fegfeuer Befindlichen entfallen. Sie können nicht mehr sündigen; sie stehen auf der Seite der Geretteten. Deswegen ist es ihnen unmöglich, Verdienste, also Handlungen zu setzen, denen Lohn verheißen ist, zu sammeln. Sie bejahen freilich in vorbehaltloser Weise ihre Leiden, denn sie wissen, daß dieser Umschmelzungsprozeß unerläßlich ist, und deswegen kann man sagen, daß dieArmen Seelen nicht ohne Freude sind. Ja, man kann sogar die Behauptung aufstellen: Wenn die Qualen der Armen Seelen größer sind als alle Qualen auf Erden, dann sind auch die Freuden größer als alle Freuden auf Erden. In einer eigenartigen Weise vermischen sich Qual und Freude.

Welches ist der Grund für die Freude der Armen Seelen? Der Grund ist ein dreifacher. Einmal, weil sie sicher in der Liebe Gottes ruhen. Sie lieben Gott mit aller Inbrunst und mit aller Sehnsucht. Es ist in ihnen kein Schatten mehr der Autonomie, der Selbstherrlichkeit. Sie haben sich ganz der Oberherrschaft Gottes übergeben und umfangen ihn mit brennender Liebe. Diese Liebe ist ein unaussprechlicher Trost für sie. Der zweite Grund liegt darin, daß ihr Schicksal entschieden ist, und zwar im positiven Sinne entschieden ist. Sie sind gerettet. Die Spannung, die vor dem Gericht besteht, hat sich gelöst. Die Angst, verloren zu gehen, ist ihnen genommen. Die Armen Seelen triumphieren, weil sie das Ziel ihres Lebens vor Augen haben. Sie gehören zu den endgültig Erlösten. Der dritte Grund ihrer Freude ist die Bejahung des Umschaffungsprozesses, in dem sie sich befinden. Sie wollen ihre Leiden, sie bejahen ihre Leiden, weil ihnen klar ist, daß nur durch diese Leiden die Anschauung Gottes gewonnen werden kann. Es wäre eine viel größere Qual für sie, wenn sie keine Leiden erdulden müßten. Gerade ihre Leiden werden so zur Quelle der Freude, weil sie wissen: Durch diese Leiden gelangen sie zur Anschauung Gottes. So können wir sagen, die Armen Seelen sind in gewisser Hinsicht sogar die reichen Seelen. In einem Meer von Bitterkeit leben sie im Frieden. Das Fegfeuer ist keine zeitlich begrenzte Hölle, das Fegfeuer ist ein Vor-Himmel.

Amen.

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